Wie lernt man Vokabeln am besten? Untersuchungen zum mentalen Lexikon bieten nützliche Hinweise!
Wer mit dem Lateinstudium Pauken und Vokabellernen in Verbindung bringt, liegt gar nicht so falsch, denn die absolut sichere Beherrschung des Grundwortschatzes und eine möglichst große Erweiterung darüber hinaus sind zwar in allen sprachlichen Fächern wichtig, in einem Fach, in dem sich alles um das Lesen von Texten dreht, aber absolut unabdingbar. In all den vier humanistischen Studiengängen, die ich abgeschlossen habe, ging es naturgemäß viel um Lexik, aber in keinem war das Lernen aus Vokabellisten so ausgeprägt und verbreitet wie im Lateinstudium. Alphabetische Glossare ohne Kontext auswendig zu lernen – wie Vischer oder Meißner –, schien dazu zu gehören. Doch gibt es, wie wir aus der psycholinguistischen und fachdidaktischen Forschung wissen, valide Alternativen.
Cum in omni disciplina infirma est artis praeceptio sine simma adsiduitate exercitationis, tum vero in nemonicis minimum valet doctrina, nisi industria, studio, labore, diligentia comprobatur.
Rhetorica ad Herennium 3,40
Memorieren ist hartes Brot. Bereits der unbekannte Verfasser der ältesten erhaltenen Prosaschrift zur Rhetorik (vgl. von Albrecht 2012: 495) gibt in der Auseinandersetzung mit dem officium oratoris der memoria an, dass zwar jegliches Lernen eines sehr hohen Maßes an beständigem Üben bedürfe, das Memorieren jedoch gar nichts nütze ohne Fleiß, Eifer, Anstrengung und Sorgfalt. Davon kann der eine oder die andere Lateinstudierende nach der Auseinandersetzung mit Grund- und Aufbauwortschatzlisten, Thesauri Latini, Phraseologien und sonst etwas ein Lied singen.
Trotz aller Anstrengung, die man bei den eigenen Unternehmen feststellt, kann man bei manchen gelehrten Menschen, die sich unwahrscheinlich viel Wissen aneignen konnten, wiederum nur staunen, wozu das menschliche Hirn in der Lage ist, wenn man mit den richtigen Instrumenten und der richtigen Motivation an das Lernen geht. In diesem Beitrag werde ich darauf eingehen, welche Herangehensweisen das Memorieren von lateinischen Vokabeln vereinfachen können.
Das mentale Lexikon
Gesunde Menschen sind lebenslang in der Lage, eine inkommensurable Menge an Informationen – also auch an Wörtern – zu speichern unter der Voraussetzung, dass sich diese in strukturierter Form präsentieren:
Psychologists have shown that human memory is both flexible and extendable, provided that the information is structured. Random facts and figures are extremely difficult to remember, but enormous quantities of data can be remembered and utilized, as long as they are well organized.
Aitchison 2012: 5.
Was den Wortschatz angeht, gilt es, die Erkenntnisse der Forschungen um das mentale Lexikon zu berücksichtigen. Vom mentalen Lexikon spricht man in Bezug auf den „mental organisierten und repräsentierten Wortschatz“ (Bußmann 2008: s. v. mentales Lexikon), bei dessen Untersuchung es insbesondere darum geht, die verschiedenen Organisationsstrukturen oder Module zu erkennen, denen gemäß das Vokabular in unterschiedliche Netzwerke gruppiert wird. Beispiele für solche Netzwerke sind Wortfamilien, Sachfelder und semantische Relationen wie Synonymie oder Antonymie.
Das zieht Folgendes mit sich: Je mehr die zu erlernenden Vokabeln auf eine Art und Weise gruppiert sind, die den nachgewiesenen Organisationsstrukturen des mentalen Lexikons entsprechen, desto effizienter kann ihre Speicherung erfolgen. Wir können unsere Gedächtnisleistung also erheblich verbessern, wenn wir metakognitive Strategien anwenden, durch die Wissenselemente vernetzt werden. Das lässt sich unter anderem mit der Cognitive Load Theory erklären, der zufolge die Anwendung von Schemata sowohl die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses als auch die Nachhaltigkeit des Memorierens erhöht (vgl. Sweller/Ayres/Kalyuga 2011).
Semantische Ebene
Die wohl wirksamste Gedächtnisstrategie ist das kategoriale Organisieren, eine Gruppierung also nach semantischen Kriterien. Was die semantischen Netzwerke angeht, sind auf zwei Ebenen synaptische Module festzustellen: einerseits auf der Ebene semantischer Relationen, andererseits auf der Ebene der Sachfelder. Darüber hinaus spielen auch all die Assoziationen eine Rolle, die man unter dem Begriff der Konnotation befasst (siehe unten).
Semantische Relationen
Wie der Terminus Relation bereits vermuten lässt, sind Wörter, bei denen eine semantische Beziehung festzustellen ist, synaptisch vernetzt. Beispiele für semantische Relationen sind Bedeutungsgleichheit (Synonymie), Inkompatibilität (Antonymie und Gegensatz), Überbegriff und Unterbegriff (Hyperonymie und Hyponymie), aber auch Bezeichungen für das Ganze und seine Teile (Holonymie und Meronymie) sowie Bezeichnungen für die verschiedenen Art und Weisen, wie man etwas tut (Troponymie). (Vgl. dazu etwa Pittner 2013: 110ff., Aitchison 2012: 102, D’Achille 2003: 53f., Nation 2013: 80f.)
Lesen Sie auch Synonyme, Antonyme & Co. für Definitionen und Beispiele der verschiedenen semantischen Relationen.
Wie in allen Sprachen lässt sich dieses Netzwerk auch beim Erlernen von lateinischem Vokabular auf jedweder Stufe anwenden. Nehmen wir als Beispiel die Antoynmie, kann man bereits im Anfängerunterricht Wörter wie magnus ↔︎ parvus, bonus ↔︎ malus paarweise lernen.
Im fortgeschritteneren Stadium kann man diese Relation für feinere Unterschiede verwenden. So können etwa die Bedeutungsebenen des Adjektivs agrestis durch die jeweiligen Antonyme leichter erfasst werden:
- agrestis ‚ländlich‘ (< ager) ↔︎ urbanus (< urbs) ’städtisch‘; Bsp.: mus agrestis ↔︎ mus urbanus
- von Tieren: agrestis ‚wild‘, ‚auf dem Feld lebend‘ ↔︎ domesticus (< domus) ‚Haustier‘; Bsp.: columba agrestis ‚Feldtaube‘ ↔︎ columba domestica ‚Haustaube‘
- von Menschen: agrestis ‚bäurisch‘, ‚ungebildet‘ ↔︎ doctus ‚gebildet‘
Synonyme und Teilsynonyme für einen Begriff zu finden, ist ein sehr effektiver Weg, den eigenen Wortschatz zu erweitern.
Sachfelder
Dass die Vernetzung von Wörtern nach Feldern, die textunabhängig mit einem Thema zu tun haben, eine erfolgreiche Strategie ist, zeigt sich aus der lateinischen Fachdidaktik, in der die Analyse der Sachfelder bzw. Isotopien als transphrastische Methode der Texterschließung und -analyse mittlerweile fest verankert ist. Auch beim Vokabellernen kann eine Auseinandersetzung mit Sachfeldern nützlich sein, denn die psycholinguistische Forschung zeigt, dass Wörter aus demselben semantischen Feld auch vernetzt gespeichert werden. Unter anderem deswegen sind Bildwörterbücher äußerst nützliche Nachschlagwerke. Für das Lateinische empfehlenswert ist eine Lektüre von Comenius‘ Orbis sensualium pictus.
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Eine erfolgreiche Strategie zum Vokabellernen ist entsprechend die Vorbereitung von themenbezogenen Glossaren. So könnte man zum Beispiel eine Liste von Getreidesorten mit ihren lateinischen Entsprechungen aufschreiben, dann überlegen, welche Verben zum Sachfeld gehören (säen, ernten, mähen), weiter, ob bestimmte Adjektive oder Adverbien mit dem erarbeiteten Wortschatz oft auftreten. Das ist übrigens auch die Art und Weise, wie sich Dolmetscher auf ihre Aufträge vorbereiten. Sobald sie einen neuen Auftrag erhalten, fängt die lexikalische Vorarbeit an, die aus einer Brainstormingsphase – „Was kann alles vorkommen, wenn man von xyz in der gegebenen Situation spricht?“ –, einer Recherchephase – „Wie sagt man das in der Ausgangs-/Zielsprache?“ – sowie schließlich einer Memorierungsphase besteht.
Wenn Sie mehr zu Übersetzen, Dolmetschen & Co. wissen wollen, lesen Sie diesen Artikel: Unterschiede zwischen Dolmetschen, Übersetzung und Mediation.
Zu Studienzeiten war mein WG-Zimmer stets regelrecht tapeziert von sachfeldspezifischen Glossaren: Am Schreibtisch, an der Tür, im Inneren vom Kleiderschrank, überall hingen sie zwecks der Wiederholung und Mahnung zu Selbiger.
Ein weiteres Beispiel für ein auf einem Sachfeld basierendes Glossar finden Sie hier: Das Sachfeld ‚Lebewesen‘ auf Latein.
Denotation vs. Konnotation
Außerdem ist zu erwähnen, dass die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens nicht bloß seine Denotation, wie sie etwa im Wörterbuch festgehalten wird, umfasst, sondern auch die sogenannte Konnotation, d. h. individuenabhängige oder kulturell bedingte Assoziationen. Gerade Letztere sollten bei interkulturellen Unterschieden berücksichtigt werden. Auch wegen solcher Konnotationen ist es besonders schwierig, die Bedeutung von (kulturell gesehen) Schlüsselwörtern zu erfassen und sie zu übersetzen. Man denke an fides, ratio, religio, res publica, familia und viele andere mehr.
Mit diesem Thema verwandt ist außerdem die Tatsache, dass es im Lateinischen viele sog. voces mediae gibt, also Wörter, die sowohl eine positive als auch eine negative Denotation haben, die sich erst kontextuell festlegen lässt.
Beispiele:
speciosus (1) positiv: ’schön‘, ‚herrlich‘ und (2) negativ: ‚blendend‘, ‚täuschend‘
fortuna (1) positiv: ‚Glück‘, (2) neutrum ‚Umstände‘, ‚Lage‘ und (3) negativ ‚Unglück‘
Deswegen sagt man in utraque fortuna für ‚im Glück und im Unglück‘. Und wenn wir schon bei Kollokationen sind: ‚im positiven und im negativen Sinn verstehen‘ heißt auf Latein in utramque partem accipere.
Phologisch-prosodische Ebene
Beim Vokabellernen geht es zunächst um das Memorieren von Wörtern, die Saussure zufolge als sprachliche Zeichen die mentale Verbindung zwischen einer Lautgestalt (signifiant) und einer Bedeutungsvorstellung (signifié) darstellen (vgl. Saussure 1915/1969: 99). Wie wir aus unserer Lernerfahrung wissen und psycholinguistische Versprecheranalysen bestätigen (vgl. Aitchison 2012: 22), gibt es eine enge Vernetzung von Wörtern mit ähnlichem signifiant, von Wörtern also, die ähnlich klingen. Das betrifft sowohl segmentale als auch suprasegmentale Elemente (etwa den Wortakzent) und macht es notwendig, beim Lernen ähnlich lautende Wörter gezielt auseinander zu halten.
Die Klassiker cedere, cadere, caedere können etwa leicht durcheinandergebracht werden, aber auch bei Wortformen, die sich durch Vokallänge der Paenultima und daher auch durch den Wortakzent unterscheiden, wie íncĭdit und incī́dit, muss man besonders aufpassen.
Lesen Sie auch diese Artikel zum Wortakzent:
Aufgepasst! Lateinischer Wortakzent #1
Aufgepasst! Lateinischer Wortakzent #2
Wortbildungsmorphologische Ebene
Wortfamilien: ein Stamm, viele Möglichkeiten
In der Auseinandersetzung mit dem mentalen Lexikon zeigt sich auch die menschliche Grundfähigkeit, bedeutungstragende Wortbestandteile zu zergliedern und neu zusammenzusetzen. Dabei sind wortbildungsmorphologische Netzwerke zu berücksichtigen, und zwar einerseits aus Wörtern mit demselben Stamm, also Wortfamilien wie: avis, aviarium, augur, aucupari, auspex.
Lesen Sie zum Beispiel Fabula, fari, fatum … – eine gesprächige Wortfamilie.
Derivation: ein Affix, viele Möglichkeiten
Andererseits kann man auf Wortbildungsebene schauen, mit welchen Stämmen sich ein Affix verbinden lässt. In diesem Zusammenhang ist im Lateinunterricht vor allem der Umgang mit Präfixen (insbesondere bei Verben, etwa incurro, excurro, percurro, accurro) verbreitet, der auch im schulischen Unterricht seinen festen Platz gefunden hat. Gerade für fortgeschrittene Lateinlerner ist eine Auseinandersetzung mit Suffixen und Infixen aber auch durchaus lohnenswert, um den eigenen Wortschatz zu erweitern.
Zum Beispiel bildet das Wortbildungssuffix -ax Adjektive aus Verbalstämmen und verleiht ihnen die Bedeutung ‚qui … solet‘: rapax ‚qui rapere solet‘ (‚Raub-‚, ‚raubgierig‘), loquax ‚qui loqui solet‘, ‚qui nimius loquitur‘ (‚gesprächig‘, ‚geschwätzig‘), audax ‚qui audere solet‘ (‚kühn‘, ‚mutig‘) usw. (Ich arbeite übringens schon seit laaanger Zeit an einem Artikel, in dem ich die Derivata auf -ax zeige, und hoffe, er wird irgendwann fertig…)
Sprachwissenschaftliche Kenntnisse können uns also in unserem Bemühen, den lateinischen Wortschatz zu erweitern, durchaus behilflich sein, weil sie uns erlauben, nicht nur einzelne Wörter mit ihrer deutschen Entsprechung auswendig zu lernen, sondern das Sprachsystem als solches zu durchschauen und eben mit System an das Lernen dranzugehen.
Flexionsmorphologische Ebene
Außerdem sind flexionsmorphologisch gruppierte Module zu berücksichtigen. Demnach empfiehlt es sich etwa, Wörter, die zu einer Flexionsklasse gehören oder andere ähnliche flexionsmorphologische Eigenschaften aufweisen, zusammen zu lernen. Das kann eine besonders erfolgreiche Strategie sein, wenn die Wörter ähnliche Unregelmäßigkeiten aufweisen oder wenn zusätzlich zur morphosyntaktischen Eigenschaft ein weiteres gemeinsames Merkmal hinzukommt. Zum ersten Fall gehören etwa die Substantive, die Pluralia tantum sind: Es kann nützlich sein, die Substantive, die nur im Plural vorkommen, als Gruppe zu lernen. Als Beispiel für den zweiten Fall möchte ich Bäume erwähnen, denn für die gesamte semantische Kategorie der Baumbezeichnungen gilt, dass sie unabhängig von der Flexionsklasse Feminina sind: olea, ae f. (‚Olivenbaum‘), platanus, i f. (‚Platane‘), quercus, us f. (‚Eiche‘) und auch arbor, is f. (‚Baum‘).
Zum Abschluss
Wenn man sich vor Augen führt, was man alles machen kann, um Vokabeln umzuwälzen, scheint es mir fast lächerlich, sich nur auf eine, und zudem auf eine bewiesenermaßen nicht besonders gute Strategie einzuschränken. Lerner und insbesondere Lateinstudierende wissen, dass das Auswendiglernen aus kontextlosen, alphabetisch geordneten Listen anstrengend und ineffektiv ist; on the bright side: Man weiß auch, dass wir mit anderen Herangehensweisen auch und sogar besser lernen können.
Um das Umwälzen und „Pauken“ herum kommt niemand: Zum Memorieren einer neuen Vokabel sind nämlich durchschnittlich 16 Begegnungen (auch durch aktive Anwendung) in einem Abstand von maximal 1-1,5 Monaten nötig. (Vgl. Kötter 2013: 16ff., Nation 2013: 108f. und Schmitt 2000: 137.) Wenn man jedoch schon industria, studium, labor und diligentia mitbringt, dann doch bitte mit Methoden, die Früchte tragen! Ich hoffe, dass Ihnen dazu der eine oder andere meiner Artikel nützlich sein wird.
Schließlich ein Disclaimer:
In diesem Artikel geht es zwar primär um das Erlernen von Einzelwörtern, aber vernachlässigen Sie beim Lateinlernen nie die syntagmatische Ebene der Kollokationen. Schauen Sie dazu etwa dieses bei der Lektüre der Tusculanae disputationes entstandenes Glossar: Tusc. 1 – De iuncturis discendis.
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Literatur
- Aitchison, Jean (20124): Words in the Mind. An Introduction to the Mental Lexicon. Hoboken: Wiley-Blackwell.
- von Albrecht, Michael (20123): Geschichte der römischen Literatur. Bd. 1: Von Andronicus bis Boethius und ihr Fortwirken. Berlin/Boston: Walter de Gruyter.
- Bußmann, Lexikon der Sprachwissenschaft
- Comenius
- D’Achille, Paolo (2003): L’italiano contemporaneo. Bologna: il Mulino.
- Kötter
- Nation, I.S.P. (20132): Learning Vocabulary in Another Language. Cambridge: Cambridge University Press.
- Pittner, Karin (2013): Einführung in die germanistische Linguistik. Darmstadt: WBG.
- Rhetorica ad Herennium, abrufbar unter www.hs-augsburg.de/~harsch/Chronologia/Lsante01/AdHerennium/rhe_h000.html (Stand: 20.08.2021).
- de Saussure, Ferdinand (1915/1969): Cours de linguistique générale. Paris: Payot.
- Schmitt
- Sweller, John / Ayres, Paul / Kalyuga, Slava (2011): Cognitive Load Theory. New York/Dordrecht/Heidelberg/London: Springer.
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