In einem früheren Beitrag zum Wortakzent bei Verbalformen habe ich schon mal erwähnt, dass der Wortakzent ein ziemlich heimtückischer Bereich der lateinischen Sprache ist. Heute schauen wir uns deklinierbare Wortarten an.

Was Aussprache angeht, haben es Lateinlerner eigentlich leicht: Ob pronuntiatus restitutus, sogenannte Schulaussprache, italienisch-ekklesiastische Aussprache oder eine wilde Mischung, jede Aussprachetradition hat irgendwo ihre Rechtfertigung.

Das Einzige, was man sich nicht aussuchen darf und bei allen gleich ist, ist der Wortakzent!


Die Pänultimaregel

Wiederholen wir die wichtigste (und fast einzige) Regel, die man sich im Umgang mit dem Wortakzent merken muss:

Ist die vorletzte Silbe eines mehrsilbigen Wortes lang, wird diese akzentuiert; ist die vorletzte Silbe kurz, fällt der Akzent auf die vorvorletzte.

Die Pänultimaregel

Wann ist eine Silbe lang? Eine Silbe zählt als lang, wenn:

  1. sie einen langen Vokal enthält, sprich einen gedehnten Vokal oder einen Diphthong, und/oder
  2. auf den vokalischen Kern noch zwei oder mehr Konsonanten folgen. Geschlossene Silben, also Silben, die einen Konsonanten nach dem Vokal enthalten, gelten als lang.
  • -ce-re: kurzer Vokal in offener Silbe ➝ kurze Silbe
  • -ci: langer Vokal in offener Silbe ➝ lange Silbe
  • făc-tos: kurzer Vokal in geschlossener Silbe ➝ lange Silbe
  • fac-tōs: langer Vokal in geschlossener Silbe ➝ lange Silbe

Anders herum formuliert wird es also einfacher: Eine Silbe ist kurz, wenn sie offen und mit kurzem Vokal ist, ansonsten ist sie lang.
(Vgl. Traina 1982: 57.)

Die Konsonantengruppe einer Muta cum liquida wird nicht in zwei Silben getrennt, sondern bildet zusammen das Onset der Silbe. Aus diesem Grund trennen wir tenebrae ‚Finsternis‘ tĕ-nĕ-brae, nicht tĕ-nĕb-rae. Das bringt die Betonung ténebrae (statt tenébrae) mit sich. Bekannterweise wird diese Konsonantengruppe in der Dichtung gelegentlich auf zwei Silben verteilt, wenn aufgrund der Metrik eine lange Silbe notwendig ist. (Vgl. Traina 1982: 61.)


Häufige Fehler bei deklinierbaren Wörtern

Wortakzent bei Substantiven und Adjektiven

Wie immer gilt auch bei den deklinierbaren Wortarten, dass man erkennen muss, ob die vorletzte Silbe lang oder kurz ist, um die Wortform richtig betonen zu können. Entsprechend der Pänultimaregel sind

  • ingenium und humilis auf der drittletzten betont (vorletzter Vokal kurz und in offener Silbe);
  • monīle und prōcērus auf der vorletzten betont (vorletzter Vokal lang und in offener Silbe);
  • ampulla und externus (vorletzter Vokal kurz, aber in geschlossener Silbe)
  • dēflūxus und īnfōrmis (vorletzter Vokal lang und in geschlossener Silbe)

Paradigmen

Die a-, o-, u- und e-Deklination stellen uns keine weiteren Fallen, denn die Endungen verursachen kein oder nur wenig Durcheinander bei den Silbenlängen. Der Wortakzent bleibt daher bei fast allen Wortformen des Paradigmas an der gleichen Silbe wie beim Grundwort: domina, dominae, dominae usw. (aber domirum).

(Ich muss das loswerden: Wenn Schüler die Formen auswendiglernen und verständlicherweise das betonen, was die meiste kognitive Kraft braucht, nämlich die Endungen, tut mir das einfach nur weh in den Ohren: domiNAAA, domiNEEE, domiNEEEE, domiNAM… AAAAHHH! 🙉 Bitte gewöhnen Sie das Ihren Schülern schnell ab!)

In vielen Fällen sind wir also schon auf der sicheren Seite, wenn wir die Lautgestalt vom Nominativ Singular gelernt haben. Die meisten Fehler, wenn es um den Wortakzent von Substantiven und Adjektiven geht, betreffen die konsonantische, die gemischte und die i-Deklination, bei denen der Stamm ja erst ab dem Genitiv in seiner Gänze zu hören ist. Gerade dadurch, dass der Nominativ Singular (Vok. und Akk. n. natürlich auch) oft eine Silbe weniger als die restlichen Formen hat, muss man auch wissen, ob die vorletzte Silbe im Genitiv lang oder kurz ist, um das Paradigma richtig akzentuieren zu können.

Wie immer gilt: Ist die vorletzte Silbe lang, wird sie betont; ist sie dagegen kurz, wird die drittletzte betont:

  • līx, fēcis, aber magnanimis, magnanimis;
  • aetās, aetis, aber carmen, carminis.

In den meisten Fällen führt wahrscheinlich kein Weg daran vorbei, dass man den Genitiv mit lernen muss, um das Paradigma von diesen Wörtern zu bilden und die Wortformen richtig zu betonen. Ein paar Regelmäßigkeiten lassen sich allerdings schon beobachten, die das Lernen vereinfachen.

Auslautendes o ist immer lang. Wenn es im Paradigma ist, bleibt es auch lang: ser, sernis; ti, tinis usw. (Die einzige Ausnahme, die mir bekannt ist, ist modo, das aus metrischen Gründen oft als zwei Kürzen aufgefasst wird.)

Die Neutra auf -us der dritten Deklination haben eine kurze Pänultima: tempus, temporis; genus, generis, facinus, facinoris usw.

Die Substantive auf -ĕn haben -inis im Genitiv. Bei den meisten handelt es sich um Suffigierungen mit -men (alle n.!): amen, aminis; cermen, cermins usw. Bei den anderen Wörtern auf -ĕn gilt die Regel aber auch: z. B. pecten, pectinis m., fidicen, fidicinis m. (Es gibt auch ein paar wenige Wörter griechischen Ursprungs auf -ēn, -ēnis, wie attagēn ‚Haselhuhn‘.)

Suffixe

Sind Wörter suffigiert, bleiben die Akzentverhältnisse in den verschiedenen Wortbildungen gleich. Schauen wir uns ein paar Beispiele an.

Alle Substantive auf -(i)tās sind im Nominativ alle auf der drittletzten Silbe betont, weil das i in diesem Suffix kurz und in offener Silbe ist, im Genitiv auf der vorletzten -itis: etwa licitās, gravitās, levitās, bonitās. (Liebe Spanischlerner, bonitas gibt es woanders!) Genau so: aetās, aetis; aestās, aestis.

Feminina auf -(t)iō behalten das lange ō im Genitiv, das entsprechend betont wird: tiō, nātiōnis; regiō, regiōnis; oniō, opīniōnis etc.

Nomina agentis auf -or haben -ōris mit langem ō im Genitiv: ōtor, ōrāris; praeceptor, praecepris; sculptor, sculpris.

Deminutiva auf -ul-, -ol-, -cul- werden auf der drittletzten Silbe betont: liolus, vulcula.

Das Adjektivsuffix -ōsus hat ein langes ō: vitiōsus, ansus, dosus.

Adjektive, die auf -icus enden, haben in aller Regel ein kurzes i und sind daher auf der drittletzten Silbe betont: bellicus, būcolicus, famēlicus usw. ABER: amīcus, inimīcus, aprīcus, pudīcus!

Die Suffixe -ilis und -bilis (‚qui … potest‘, oft passiv) sind alle auf der Antepänultima betont: facilis, agilis, crēdibilis.

Stoffadjektive auf -eus sind auf der drittletzten betont: aureus, ligneus, argenteus. Es gibt zwar auch Adjektive auf -ēus, diese sind jedoch durch die Bank weg griechischen Ursprungs: Achillēus, borēus.

Apropos Stoffadjektive: Es gibt ein paar wenige griechischen Ursprungs, die mit dem Suffix -inus mit kurzem i gebildet und daher auf der drittletzten Silbe betont sind, wie etwa: coccinus, adamantinus, elephantinus.

Präfixe

Auch mit Wortbildungspräfixen können aus einem gegebenen Stamm neue Wörter gebildet werden. In solchen Fällen muss man bei der Akzentuierung besonders gut aufpassen. War ein deklinierbares Wort ursprünglich zweisilbig, musste man sich ja nicht um die Länge der Pänultima scheren, um es zu akzentuieren, denn da hatte man unabhängig von der Länge der vorletzten Silbe schließlich nur eine Option:

  • num
  • memor

Steht jedoch vor der Pänultima durch ein Präfix eine neue Silbe, wird es leider notwenig, sich ihre Länge zu merken. In unserem Beispiel darf man die Länge von und me nicht mehr ignorieren:

  • prōnus
  • immemor (!)

Verben habe ich in diesem anderen Beitrag behandelt. Da gilt die Regel genau so: z. B. circum, aber circumdedī!

Schauen wir uns als Beispiel noch ein paar Adjektive mit Negationspräfix an. Auf der vorletzten Silbe betont werden:

  • īnlīx, īnfōrmis, īnmis, īndus, īnfaustus.

Auf der drittletzten Silbe betont sind dagegen:

  • improbus, immemor, irritus, indecēns, incapāx.

Bei dieser zweiteren Gruppe kann der Akzent in den verschiedenen Wortformen wandern je nach Silbenanzahl: immemor, immemoris, immemorī usw.

Häufige Fehler bei Pronomina

Pronomina stellen in der Regel kein großes Problem dar, was den Wortakzent angeht, weil sie gerne ein- oder zweisilbig sind. Dennoch können auch Pronomina aus verschiedenen Wortbildungselementen zusammengesetzt werden. Wie immer gilt bei diesen ebenfalls die Pänultimaregel, z. B.:

  • quīlibet, cuiuslibet usw.
  • cuiusquam
  • quōrumvīs
  • quārundam

Vorsicht scheint mir außerdem bei folgenden Wortformen geboten.

Bei diesen homographen Wortformen von idem muss man aufpassen: eadem ist Nom. Sg. f. und Nom./Akk. Sg. n., während Abl. Sg. f. ein langes ā hat und entsprechend auf der Pänultima betont ist, also eādem.

Außerdem haben einige Pronomina, darunter ūnus, īus im Genitiv, also mit langem, betontem ī:

  • ūnus/a/um, ūus
  • nūllus/a/um, nūlus
  • ūllus/a/um, ūlus
  • uter/utra/utrum, utus
  • neuter/neutra/neutrum, neutus
  • alter/altera/alterum, alteus
  • lus/a/um, sōus
  • tus/a/um, tōus
  • ille/illa/illud, ilus
  • ipse/ipsa/ipsum, ipus

Nur in der Dichtung zählt das ī als Kürze, weil es ein Vokal vor Vokal ist:

  • Endekasyllabus: omnes unius aestimemus assis (Cat.)
  • Hexameter: unius ob noxam et furias Aiacis Oilei (Verg.)

Jeden Sonntag veröffentliche ich einen neuen Artikel auf meiner Webseite. Bis der nächste herauskommt, könnten Sie auch diese interessieren:




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Bibliographie


Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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