In einem früheren Beitrag habe ich die Charakterdarstellung bei Cicero und bei Tacitus kurz verglichen und erläutert, inwiefern mir Letzterer viel moderner erscheint: Tacitus verzichtet nämlich auf flache Darstellungen seiner Charaktere, indem er teilweise stark psychologisierend uns Persönlichkeiten präsentiert, die weder nur gut oder nur schlecht sind. Das wirkt auf mich realistischer und einfacher nachzuvollziehen als die Charakterdarstellungen von Cicero, die eher zur Schwarz-Weiß-Malerei tendieren.

Liest man die Reden gegen Verres, kann man nur stauen und erschrecken vor einem Mann, der unter absolut jeglichem denkbaren Gesichtspunkt verwerflich ist: Habgier und Korruption, Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit, Unberechenbarkeit und Ruchlosigkeit, das Ganze serviert mit einer großzügigen Portion Gaunerei und Frevel. Ein Träumchen!

Cicero ist sich übrigens dessen bewusst, dass er es in seinen Reden gerne dick aufträgt, und zwar nicht nur mit Argumenten, sondern auch mit stilistischen und rhetorischen Mitteln. In einem Brief an Atticus vergleicht er nämlich den Stil einer Rede von Crassus, der etwa auch im De oratore den orator perfectus vertritt, mit dem eigenen… mit üblicher ciceronianischer Bescheidenheit also. 😜 Dabei spricht er von λήκυθοι.

totum hunc locum, quem ego varie meis orationibus, quarum tu Aristarchus1 es, soleo pingere, de flamma, de ferro (nosti illas ληκύθους) valde graviter pertexuit. 

Cic., Att. 1.14

1 Aristarchos von Samothrake (ca. 2. Jh. v. Chr.), berühmter Philologe und Direktor der Bibliothek von Alexandria, ist der Kritiker per Antonomasie. Vgl. auch Hor., ars 445ff.: Vir bonus et prudens versus reprehendet inertes, […] fiet Aristarchus.

Was heißt nun λήκυθος?

Λήκυθος

Gerade in den Briefen verwenden gebildete Römer gerne mal griechische Wörter, insbesondere wenn diese als Termini technici aufgefasst werden können. Das Substantiv λήκυθος bezeichnet im eigentlichen Sinne ein ‚Salbenfläschchen‘.

Im übertragenen Sinne wird es verwendet, um ‚Prunkworte‘ und großzügigen ‚Redeschmuck‘ zu bezeichnen. Diese Metapher des Schwellens – vgl. dazu auch nhd. Schwulst – für den sprachlichen Ausdruck bezieht sich auf die bauchige Form des Behälters. Im Griechischen wird die Metapher von Aristophanes in der Komödie Die Frösche populär gemacht.

Cicero – und es war natürlich nicht anders zu erwarten – weiß ganz genau, was er tut, wenn er in seinen Darstellungen alle Register zieht, um einen bestimmten Standpunkt mit allen möglichen sprachlichen Mitteln zu vertreten, denn durch die Darlegung eines klaren, genauen, gut verständlichen, harmonischen Welt- und Sprachbilds können gute Rhetoriker in republikanischer Zeit sowohl in der Jurisprudenz als auch in der Politik große Erfolge erzielen.

In der Kaiserzeit ändert sich die Lage, weil die Rhetorik als Instrument, die Gesellschaft zu prägen, eindeutig an Bedeutung verliert. So, wie es kein Zufall ist, dass die Redekunst im republikanischen Athen des 5. Jh. und später im republikanischen Rom erblüht, verwundert die „Entpolitisierung der Rhetorik“ (Ueding 2005, 46) auch nicht, die in Zeiten der Alleinherrschaft zu beobachten ist. Dennoch ist und bleibt die Rhetorik ein wesentlicher Bestandteil der Bildung und die großen Schriftsteller und Redner der Vergangenheit fungieren nach wie vor als Vorbilder.

Ex his ceterisque lectione dignis auctoribus et verborum sumenda copia est et varietas figurarum et componendi ratio, tum ad exemplum virtutum omnium mens dirigenda.

Quint., Inst. 10.2,1

Bei den hier erwähnten Tugenden handelt es sich um die virtutes dicendi: Sprachrichtigkeit (puritas), Deutlichkeit (perspicuitas), Angemessenheit (aptum/decorum), Redeschmuck (ornatus) und Kürze (brevitas).

Cicero gehört selbstverständlich zu den meist nachgeahmten Autoren – obwohl er es mit der brevitas vielleicht nicht ganz so drauf hat. 😜 Auch Plinius tritt ausdrücklich in dessen Fußstapfen:

‚Est enim‘ inquam ‚mihi cum Cicerone aemulatio, nec sum contentus eloquentia saeculi nostri; nam stultissimum credo ad imitandum non optima quaeque proponere.

Plin., ep. 1.5

Dennoch scheint mir Ciceros Stil nicht einmal für Plinius hundertprozentig passend zu sein, wenn er sich doch rechtfertigen muss, weil er nicht allen Redeschwulst seines Vorbilds vermeiden wollte. Er nimmt in einem der ersten Briefe wörtlich Bezug auf Ciceros λήκυθοι, bei deren Anwendung er zuweilen – wenn der Redeschmuck angemessen erschien (non intempestivis amoenitatibus) – vom Gebot der brevitas abgesehen habe (paulum itinere decedere):

Non tamen omnino Marci nostri ληκύθους fugimus, quotiens paulum itinere decedere non intempestivis amoenitatibus admonebamur: acres enim esse non tristes volebamus.

Plin., ep. 1.2

Ampulla

Sowohl für die konkrete als auch für die übertragene Bedeutung wird im Lateinischen ampulla (< amphorula ‚kleine Amphore‘) verwendet.

Bei der Verwendung im rhetorischen Rahmen handelt es sich um eine Lehnbedeutung aus dem Griechischen ins Lateinische.

Das Wort wird von Horaz in der Ars poetica im Bezug auf das genus grande der Tragödie verwendet; von langen, gewählten Ausdrücken müsse man hier und da nämlich sogar in der Tragödie absehen, um dem sermo pedester wo nötig Platz zu lassen.

et tragicus plerumque dolet sermone pedestri

Telephus et Peleus, cum pauper et exul uterque

proicit ampullas et sesquipedalia verba,

si curat cor spectantis tetigisse querella.

Hor., ars 95ff.

Wahrscheinlich von Horaz selbst geprägt ist das Verb ampullari ‚dick auftragen‘, das er ebenfalls auf die Tragödie bezieht:

fidibusne Latinis

Thebanos aptare modos studet auspice Musa,

an tragica desaevit et ampullatur in arte?

Hor., ep. 1.3,11ff.

Übrigens erkennen wir im Deutschen die konkrete Bedeutung noch in der Entlehnung Ampulle, die ja v. a. als Terminus technicus der Medizin und der Liturgie Anwendung findet. Im Italienischen verhält es sich sehr ähnlich beim Substantiv ampolla, während die übertragene Bedeutung im Adjektiv ampolloso ’schwülstig‘ fortlebt.

Jeden Sonntag veröffentliche ich einen neuen Artikel auf meiner Webseite. Bis der nächste herauskommt, könnten Sie auch diese interessieren:




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Verwendete Lexika

Verwendete Literatur

  • Quincey, J.H. (1949): The Metaphorical Sense of ΛΗΚΥΘΟΣ and AMPULLA. In: The Classical Quarterly 1, Vol. 43.1/2, 32–44. 
  • Schwerdtner, K. (2015): Plinius und seine Klassiker. Studien zur literarischen Zitation in den Pliniusbriefen. Boston/Berlin.
  • Ueding, G. (20054): Klassische Rhetorik. München.

Alle erwähnten Werke finden Sie auf www.thelatinlibrary.com.


Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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