Mein guter Vorsatz am Anfang vom Jahr 2021 war es, Latein sprechen und schreiben zu lernen. Es ist nun also ein gutes Jahr her, dass ich angefangen habe, meine produktiven Lateinkenntnisse gezielt auszubauen. Latinitas viva, Latine loqui, Ørberg-Methode: Was habe ich gemacht? Was hat es gebracht? Hat sich der Aufwand so weit gelohnt? Würde ich es weiterempfehlen? Was habe ich nun weiter vor?

Auf diese Fragen möchte ich heute eingehen. Falls Sie auch mit dem Gedanken spielen, natürliche Lernmethoden zum Lateinlernen auszuprobieren, ist dieser Beitrag für Sie.

Warum Latein sprechen und schreiben?

Warum sollte man überhaupt Latein sprechen und schreiben lernen, wenn man sich doch dieser Sprache vorwiegend und hauptsächlich widmet, um Texte lesen zu können? Das Wesentliche ist und bleibt die Lektüre, die Rezeption der antiken und späteren lateinsprachigen Literatur.

Will man in die Fußstapfen der Humanisten treten, die sich dieser wunderbaren lingua franca bedient haben, um über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg kommunizieren zu können, kann das Schreiben natürlich auch von großem Interesse sein. Sollte jemand von Ihnen das nächste monumentum aere perennius zu verfassen versuchen, schreiben Sie mir, denn ich möchte es natürlich lesen!

Warum aber sprechen?

Ich kam ehrlich gesagt aus Verzweiflung zu diesem Ansatz, als mir im Laufe meines Zweitstudiums nicht gelingen wollte, diese Sprache vernünftig zu lernen, obwohl ich bereits viele andere teilweise mit großem Erfolg – wie Deutsch – gemeistert hatte. Die ausführliche Geschichte, wie es mit Latein trotz großen Engagements meinerseits nicht richtig klappen wollte und wie ich den Knoten zum Platzen bringen konnte, habe ich schon einmal in diesem Beitrag erzählt.

Jedenfalls habe ich mir letztes Jahr gegen Ende des Lateinstudiums, als ich mir deutlich bessere Sprachkenntnisse gewünscht hätte und vor der Stilübungsklausur Angst hatte, vorgenommen, das Sprechenlernen auszuprobieren. Das, was ich aus der Didaktik moderner Sprachen kannte und zum Erwerb vieler Fremdsprachen erfolgreich angewendet hatte, musste doch schließlich auch fürs Lateinische funktionieren!

Was habe ich gemacht?

Auf der Suche nach Menschen, die bereits Latein sprechen konnten, bin ich sehr schnell auf eine verhältnismäßig große Community gestoßen, die das wunderbare Werk von Ørberg, Lingua Latina per se illustrata, verwenden, zu dem es auch ein Übungsheft und weitere Zusatzmaterialien gibt. Angefangen an den Kalenden des Januars 2021 habe ich Familia Romana gelesen sowie alle Kapitel mündlich auf Latein zusammengefasst, dabei Synonyme und Umschreibungsmöglichkeiten für viele Ausdrücke im Buch gesucht und verwendet. Ich habe auch alle Übungen im Text- und Übungsbuch gemacht.

Wie ich bereits gesagt habe, hatte nur noch zwei Semester des Lateinstudiums vor mir und entsprechend viel Sprach- und Lektüreerfahrung. Dass ich ein extrem fleißiger und beharrlicher Mensch bin zum einen und dass die Texte von Familia Romana im Gegensatz zu den meisten Texten, die ich aus Textbüchern kenne, wirklich interessant sind zum anderen, hat auch auch dabei geholfen, dass ich schnell mit dieser Phase fertig war. Es hat drei Monate gedauert, in denen ich jeden Tag ein paar Stündchen daran gearbeitet habe.

Im April habe ich mich entschlossen, mich dahin zu begehen, wohin ich nur in Zeiten größter Not zu bewegen bin, nämlich unter Menschen. Denn ich sah ein, dass ich, um weitere Fortschritte zu machen, am besten sowohl Gleichgesinnte als auch Fortgeschrittenere brauchte. In dieser lateinsprachigen Schule habe ich für den Rest des Jahres einmal die Woche Lektürekurse besucht, in denen wir Texte im Original gelesen und auf Latein besprochen haben.

Parallel habe ich für die letzte Stilübung im Studium geübt und gelernt. Das geschah zwar durch Übersetzung, also nicht „nach Ørberg“, aber es handelte trotzdem um aktive Sprachverwendung und es hat sehr viel gebracht. Außerdem haben wir sehr schöne Texte übersetzt, nämlich einige Metamorphosengeschichten aus diesem Buch, dessen Lektüre ich unbedingt weiterempfehlen kann.


Hier auf dem Blog sammle ich übrigens auch Texte, um für die deutsch-lateinische Übersetzung zu üben. Diese Beiträge enthalten nicht nur Übungstexte mit ausführlichem Lösungsblatt inkl. Verweisen auf die Grammatiken von Rubenbauer/Hofmann und Menge, sondern auch zusätzliche, vorbereitende Lernmaterialien. Schauen Sie vorbei!


In der Vorbereitungsphase für die Stilübungsklausur habe ich die Phraseologie von Ostermann auswendig gelernt. Wenn Sie diesen Beitrag oder diesen Beitrag von mir schon gelesen haben, wissen Sie, dass ich nie Vokabeln mit fertigen Glossaren lerne. Das hasse ich nämlich wie die Pest. Trotz meines ursprünglichen Misstrauens war die Phraseologie jedoch ein Gamechanger, wie ich zugeben musste. Insbesondere die Fußnoten, die die Unterschiede zwischen semantisch ähnlichen Wörtern oder Wörtern, die in der Übersetzung aus dem Deutschen fehleranfällig sind, waren super. Sed adhuc hactenus, da ich zu Phraseologien allgemein sowie zu einigen einzelnen Gedanken habe, die ich in einem späteren Beitrag sicherlich noch teilen werde.

Der Stilübungskurs, den ich im Jahr davor schon so erfolglos besucht hatte, dass ich mich nicht einmal zur Klausur angemeldet hatte, bereitete mir nach den paar Monaten aktivem Latein schon keine großen Schwierigkeiten mehr. Kennen Sie das, wenn man sich vom A1/A2-Niveau auf B1/B2 steigt und plötzlich Vieles von alleine Sinn macht, einfach präsent im Kopf ist und zunehmend von alleine „fluscht“? So war das. Nicht perfekt, aber so, dass man sicherlich gut besteht.

Es tat mir dabei wirklich Leid, viele Kommilitonen so schwitzen und bibbern zu sehen, wie ich im vorigen Semester selbst gekämpft hatte. Da wurde mir klar, dass es allen anderen auch viel genutzt hätte, die herkömmliche Übersetzungsmethode um andere, zum Sprachenlernen geeignetere Ansätze zu ergänzen. Nicht ganz uneigennützig, denn er bietet mir auch regelmäßige und tolle Chancen zu üben, gründete ich den Bonner Circulus Latinus namens Circulus Minervae. Wir treffen uns vierzehntägig und sprechen über alle möglichen Themen, lernen Vokabeln, wiederholen Grammatik und sind eine ganz tolle, engagierte Lerngruppe. Es macht mich so glücklich, meine Kollegen zu hören, die wie ich vor wenigen Monaten die ersten, holprigen Sprechversuche wagten und nicht weiter kamen, weil sie nach allen möglichen Wörtern – inklusive ja – fragen mussten, und jetzt in der Lage sind, eine Konversation auf Latein frei zu gestalten und über ihr Leben, Literatur, Grammatik und alles Mögliche etwas zu erzählen. Das macht mich stolz, sogar ein bisschen auf mich!

Zudem besuche ich im Moment einen lateinsprachigen Kurs der Accademia Vivarium Novum. Sagen wir mal so: Dieser Kurs sorgt nicht nur für große Fortschritte, sondern sicherlich dafür, dass sich mein kleiner Stolzmoment nicht in Übermut verwandelt. Es ist der absolute Wahnsinn, wie gut die Dozenten dort die lateinische Sprache beherrschen und die Texte kennen, sodass ich – ihre gelungene Verbindung von ratio und oratio bewundernd – manchmal von mir nur denken kann: Balbutio, ergo sum. Da lesen wir Roma aeterna, den zweiten Band von Lingua Latina per se illustrata, sowie viele Stellen aus allen möglichen Werken, die gerade inhaltlich passen. Zudem liegt der Schwerpunkt einerseits auf Grammatik – Oratio obliqua, Unterschiede zwischen Final- und Konsekutivsätze usw. usf. –, andererseits auf Wortschatz und Wortverbindungen.

Ich bin froh, dass ich es gewagt habe, auch mit anderen Menschen Latein zu sprechen, obwohl es am Anfang ein großer Überwindungsakt war, denn so konnte ich einige Kontakte mit Menschen knüpfen, die aus Liebe zu dieser Sprache und Literatur brennen, die stets fleißig daran arbeiten, sich zu verbessern, und für die die Texte, um die es in unserem wunderbaren Fach geht, nicht nur schöne, alte Denkmäler sind, sondern nützliche, lebendige Leuchttürme, die uns dabei helfen, das Wahre, das Schöne und das Gute in der Welt zu erkennen, ein würdiges Leben zu führen, ja wirklich Menschen zu werden. Denn mit Erasmus: Homines non nascuntur, sed finguntur.

Was hat es gebracht? Hat es sich gelohnt?

Sehr viel und ja.

Vokabeln, Kollokationen, Bedeutungsnuancen, grammatische Grundregeln sowie Sonderfälle – alles ist viel einfacher zu verstehen und memorieren geworden, was wiederum eine sinnstiftende Lektüre stark gefördert hat.

Würde ich es weiterempfehlen?

UNBEDINGT!

Wenn Sie Latein studieren oder gar Lateinlehrer sind und die Erfahrung noch nicht hatten, dass Sie einen lateinischen Originaltext einmal schnell herunterlesen und wissen, was dadrin steht, probieren Sie diese Methode aus.

Ich wiederhole anders. Sie kennen ja das Gefühl: Man nimmt einen Text auf Deutsch, Englisch oder irgendeine andere Sprache, die man beherrscht, man liest ihn und man hat die Botschaft des Textes verstanden. Wenn Sie dieses Gefühl bei der lateinischen Originallektüre noch nicht (regelmäßig) haben, brauchen Sie bessere aktive Sprachkenntnisse!

Einerseits mag es sich abwegig anhören, dass man mit produktiven Kenntnissen die Lesekompetenz erhöhen kann. Andererseits denken Sie über Folgendes nach. Wenn jemand nach Tipps sucht, wie er sein Englisch verbessern kann, wer würde denn jemals „Glossare auswendiglernen und Texte übersetzen“ als geeignete Methode empfehlen?! Geht es uns also nicht um Übersetzungskompetenz, sondern rein um Sprachkenntnisse in allen Teilkompetenzen (sowie um textbezogene Kompetenzen), müssen wir anders vorgehen.

Ich bin mittlerweile der festen Überzeugung, dass man kein Latein beherrscht, solange man sich nicht auch fundierte produktive Sprachkenntnisse angeeignet hat. Und mit Beherrschen schließe ich das Lesen auch ein. Egal, ob die produktiven Kenntnisse durch intensive Stilübungen, wie sie in älteren Studienordnungen vorgesehen waren, oder durch natürlichere Lehr-/Lernarrangements, wie sie im einsprachigen Lateinunterricht entstehen, erworben werden, ohne fundierte Sprachkenntnisse kommt m. E. niemand souverän mit der lateinischen Originallektüre klar. Sollten Sie nun Latein weder sprechen noch gut schreiben können und trotzdem der Meinung sein, Sie hätten keine Schwierigkeiten beim Lesen, gebe ich gerne meinen Fehler zu. Ich sage Ihnen aber auch: Ihre (Latein-)Welt wird sich ändern, wenn Sie Ihr aktives Latein verbessern! Sie werden unfassbar schnell große Fortschritte machen, unheimlich viel lernen und die Texte noch mal unter ein anderes, helleres Licht sehen können. Probieren Sie’s aus!

Was habe ich nun weiter vor?

Ich werde trotz mittlerweile abgeschlossenen Latinistikstudiums sicherlich nicht damit aufhören, Latein zu lernen. Ich habe nämlich noch sehr viel vor (und nötig).

Hier auf dem Blog zeige ich in der Serie Disce mecum Einiges von dem, was ich tue, um meine Lateinkenntnisse zu verbessern. Machen Sie gerne mit! Mittlerweile konnte ich mich auch überwinden, ein paar Videos auf YouTube hochzuladen, wie etwa dieses:

Ich mag es, mit selbsterstellten Glossaren Vokabeln zu lernen. Abgesehen von Vokabeln und Phrasen, von denen man nie genug kennen kann, möchte ich auch einige Grammatikregeln, die ich bereits auf dem Papier kann – wie die Consecutio temporum –, so weit einüben, dass sie funktionieren, ohne dass ich beim Sprechen groß darüber nachdenken muss. Es sind außerdem Fragen der Topologie und des Stils, die mich momentan besonders interessieren.

Wenn ich ganz ehrlich bin, bin ich mit meinen jetzigen rezeptiven Lateinkenntnissen ganz zufrieden, denn ich habe keine großen Schwierigkeiten bei der Lektüre, kann einen Batzen Vokabeln, beherrsche im Großen und Ganzen die Grammatik. Vor allem möchte ich daher deutlich besser in der Lage sein, aus dem Stegreif zu sprechen. Ich bin allgemein eher der Planungstyp; spontan zu handeln, mag ich nun mal nicht, und das betrifft auch das Sprechen. Dennoch möchte ich mehr und mehr in der Lage sein, das, was ich schriftlich auszudrücken in der Lage bin, auch im mündlichen Vortrag bzw. im Gespräch zum Einsatz zu bringen.

Ich bin unendlich dankbar um all die Gleichgesinnten, die ich im letzten Jahr kennengelernt habe, weil ich nun viele tolle Leute in meinem Leben habe, mit denen ich ausschließlich oder größtenteils auf Latein kommuniziere.

Wenn Corona das wieder zulässt, möchte ich irgendwann auch an Conventicula Latina teilnehmen oder einen Fachdidaktikkurs an der Accademia Vivarium Novum besuchen, wenn sie wieder welche auf ihren Summer Schools anbieten.

Ich spiele auch immer wieder mit dem Gedanken, selbst einen Latine-loqui-Workshop an der Uni oder in der Volkshochschule anzubieten. Das wäre wirklich schön!


Falls das Lateinsprechen für Sie neu ist, hoffe ich sehr, dass ich Sie motivieren konnte, diesen wunderschönen Weg zum Lateinlernen für sich zu entdecken! Wenn dem so ist, erzählen Sie mir, wie es läuft. Frohes Schaffen und viel Erfolg!

Jeden Sonntag erscheint ein neuer Artikel auf der Webseite. Bis der nächste herauskommt, könnten Sie auch diese interessieren:



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Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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