Im Lateinstudium lernt man viel, einige würden despektierlich sagen: Man paukt. Vokabeln lernen ohne Ende, Graecum nachholen, ohne Wörterbuch übersetzen, Rubenbauer/Hofmann auswendig lernen… es ist nicht ohne. Obwohl die meisten Lateinstudierenden so fleißig sind, sind nicht wenige im Studium von der Originallektüre und den Stilübungen frustriert. Heute erzähle ich, wie ich dazu kam, Latein zu lernen, und wie ich einige Frustrationen im Lateinstudium überwunden habe. Ich hoffe, dass meine Geschichte dabei hilft, dass bei Ihnen auch der Knoten platzt.

Ich kam erst mit Mitte zwanzig nach dem Studium zum Lateinischen. Wie dies meine Lebenspläne ziemlich durcheinanderbrachte, erzähle ich Ihnen jetzt.

How it all began

Am Ende des Studiums wurde mir eine Mitarbeiterstelle in der Germanistik angeboten, auf der ich promovieren und im Rahmen eines lexikographischen Projekts arbeiten sollte. Da man für eine Promotion in der Philosophischen Fakultät das universitätsinterne Latinum brauchte, fing ich gleich an, den ersten Sprachkurs zu besuchen. Nach zwei Semestern hatte ich zwar das nötige Zertifikat in der Tasche, aber die lateinischen Passagen in den sonst ripuarischen Texten des 15. Jahrhunderts, die das Korpus des Wörterbuchprojekts ausmachten, konnte ich leider nur sehr mühsam entziffern. Außerdem kann man doch keine Sprache zwei Semester lang lernen, in denen man sich die ganzen Grundlagen der Morphosyntax aneignet, um dann wieder aufzuhören, sobald man etwas damit machen könnte. Nein nein: Ich wollte ordentlich lesen lernen.

So kam es, dass ich mich mit zwei weiteren Kollegen, die ebenfalls Anfänger waren, für einen Lektürekurs anmeldete. Es wurde Cicero gelesen. Naja, es wurden minimale Cicero-Mengen kopiert.

Die sehr nette und bemerkenswert geduldige Dozentin tat mir wirklich Leid, denn wir waren grottenschlecht, da wir wenig Zeit für Latein investieren konnten. Wir haben Stunden gebraucht, um einen Satz (womöglich auch noch falsch) zu übersetzen, wir waren in aller Regel unvorbereitet und ich persönliche hätte kein einziges Wort verstanden, wenn www.dizionario-latino.com die Suche flektierter Wortformen nicht zugelassen hätte. Einen Teilnahmeschein haben wir trotz unserer Unbeholfenheit bekommen, aber unseren Durst nach besseren Lateinkenntnissen war offensichtlich noch nicht gestillt. Nach einem weiteren Semester war mein Plan, Latein lesen zu lernen, trotz des großen Spaßes an der Sache also noch nicht aufgegangen. Da ich gleichzeitig auf der Arbeit immer eindeutiger feststellte, dass ich am liebsten nur unterrichtet hätte, fing ich irgendwann ein Zweitstudium auf Lehramt an und sah darin gleich die Chance, ein für alle Mal ordentlich Latein zu lernen, um mich endlich als richtige Humanistin fühlen zu dürfen; so wählte ich es als Lehramtsfach.

Latinum und Bachelor

Das bedeutete, dass ich das staatliche Latinum nachholen musste, weswegen ich mich im Herbst wieder bei der gleichen Dozentin für einen weiteren Lektürekurs anmeldete, den ich diesmal sehr gewissenhaft besuchte. Es wurde Pro Archia poeta übersetzt. Im März hatte ich das staatliche Latinum in der Tasche. 🥳 YAY!

Am Anfang des Studiums habe ich sehr große Fortschritte gemacht, weil ich die Grundlagen der Morphosyntax noch einmal gefestigt habe und allmählich gemerkt habe, dass ich nicht mehr zwei Stunden pro Satz brauchte, sondern vielleicht „nur“ noch 30 Minuten. Das war zwar immer noch lächerlich im Vergleich zu allen anderen Sprachen, die ich je gelernt hatte, aber Fortschritt none the less.

Frustrationen

Das Bachelorstudium abzuschließen, war süßsauer, denn ich musste feststellen, dass ich immer noch deutlich weniger Schwierigkeiten hatte, Französisch zu lesen, das ich in der Oberstufe gelernt und seitdem (13 Jahre früher!) nicht mehr angefasst hatte, als Latein, für das ich immerhin einen frischen, sehr guten Studienabschluss in der Hand hielt.

Nach einer längeren Elternzeit ging es weiter – nach wie vor berufsbegleitend – mit dem Masterstudium, wobei meine Verzweiflung leider immer größer wurde. Ich besuchte meine Kurse, und zwar bei tollen Dozentinnen und Dozenten, die ich sehr schätze, lernte viel, was Literaturgeschichte angeht, machte jedoch hinsichtlich Sprachkompetenzen nur noch unmerklich Fortschritte. Daher war ich täglich von Selbstzweifeln geplagt:

Liegt es an mir? An den veränderten Umständen? An der Babypause? Bin ich zu alt? Mache ich zu viel gleichzeitig?

Die Frustration gipfelte im Besuch des letzten Deutsch-Latein-Übersetzungskurses, also des Kurses, den man früher Stilübung nannte, denn in dem Zustand hätte ich niemals bestanden. Ich konnte zu dem Zeitpunkt ganz gut lesen: Ich musste mich dafür zwar konzentriert mit Wörterbuch hinsetzen, aber ich verstand dann auch mehr oder minder alles. Aber ins Lateinische übersetzen ging einfach rein gar nicht. Sicherlich war das dadurch erschwert, dass ich als italophone Studierende zwischen zwei Fremdsprachen übersetzte, aber ich musste mir ehrlich zugeben, dass ich grundsätzliche Regeln (z. B. zur consecutio temporum) nicht sicher auf dem Schirm hatte, dass ich mangels Übung viele blöde Fehler auch im Bereich der Deklination machte und dass sich mein aktives Vokabular gefühlt auf puella currit beschränkte. So ging es für mich nicht weiter.

Den Selbstzweifeln bezüglich einer raren, verfrühten Demenzkrankheit nachzugehen, hätte mir nichts gebracht. An den Umständen – Job, Familie, Kind, Studium – konnte und wollte ich nichts ändern, denn ich investierte trotz allem so viel für Latein, dass die Zeit und Energie hätten mehr bewirken sollen. Eines Tages fielen mir diese Verse aus Alexander Popes Essay on Man ein:

Oh, happiness, our being’s end and aim!
Good, pleasure, ease, content! whate’er thy name
[…]
Where grows? – where grows it not? If vain our toil,
We ought to blame the culture, not the soil

Alexander Pope, Essay on Man

Aktive Kenntnisse

Ich musste schlicht und ergreifend eine andere Methode ausprobieren. Da Latein chronologisch gesehen meine sechste Fremdsprache war, hatte ich ausreichend Lernerfahrung, um zu wissen, was für mich funktioniert. Und nein: Ich hatte keine einzige Sprache rein durchs Übersetzen gelernt. Ganz im Gegenteil schien mir der Gedanke, etwa Englisch durch deutsch-englische oder italienisch-englische Übersetzungen zu lernen, ziemlich kontraintuitiv. Übersetzung hatte ich zwar im Erststudium studiert, aber mit Sprachen, die ich bereits sehr gut beherrschte. Oben drauf kam die Übersetzungsbefähigung. Nicht umgekehrt.

Auf der Suche nach Gleichgesinnten, die „normal“, d. h. mit mir aus anderen Fremdsprachen bekannten Methoden, Latein gelernt hatten, ist mir – dem Internet sei Dank! – eine ganze Welt aufgegangen. Eine schöne Welt. Eine Welt voller Menschen, die heute noch fantastisch Latein sprechen und schreiben, die Horaz im Bett vor dem Schlafengehen lesen und bei jeder Wendung, die sie benutzen, zitieren können, wo sie vorkommt oder gar wie sie auf Griechisch heißt. Es bestand Hoffnung.

Da ich nicht mehr weiter wusste, habe ich nach Menschen gesucht, die bereits das konnten, was ich beherrschen wollte, und habe ihnen die Arbeitsschritte dahin nachgemacht.

Als Erstes habe ich Familia Romana, den ersten Band des Lehrbuchs Lingua Latina per se illustrata von Hans Ørberg, und die dazu gehörigen Exercitia Latina gelesen, gelernt, abgearbeitet. Das ist ein Lehrbuch für Komplettanfänger, mit dem ich gegen Ende meines Lateinmasterstudiums noch einmal von null angefangen habe zu lernen, um aktive Sprachkenntnisse aufzubauen.

Der erste Satz lautete: Roma in Italiā est. Ich sagte doch von null aus! Und ich werde nicht lügen: Das hat meinem Ego ganz schön Weh getan. Trotzdem habe ich alles brav gelesen, mündlich auf Latein zusammengefasst, die Übungen dazu gemacht, die Grammatikerklärungen auf Latein studiert.

Wie natürlich und gut sich das plötzlich anfühlte, kann ich gar nicht beschreiben! Die ersten Versuche, Latein zu sprechen, missglückten unter anderem dadurch, dass mir spanische statt lateinischen Wörtern einfielen. Und ich kann gar kein Spanisch!!! Ich habe zwar Einiges auf Spanisch interkomprehensionsmäßig gelesen und Filme geschaut, aber richtig gelernt habe ich es nie. War mein Latein in irgendeinem Hirnareal mit allem anderen Italischen, das ich nicht richtig beherrschte, gespeichert?! Traurig, aber jetzt auch egal, denn mit jedem Kapitel wurde es besser. Mein Vokabular, insbesondere mein aktives Vokabular wurde nach Monaten stagnierender Verzweiflung mühelos erweitert, die Grundlagen der Morphologie konnte ich schnell, ohne nachzudenken, anwenden und ich entwickelte langsam ein Gefühl für bestimmte syntaktische Eigenschaften der lateinischen Sprache. Das fühlte sich herrlich an und in einem Semester konnte ich meine Sprachkenntnisse mehr verbessern als in den zwei Jahren davor. Auch das Lesen ging plötzlich viel einfacher. Nach ein paar Monaten konnte ich auch 15-20 Seiten Cicero im Bett von dem Schlafengehen lesen. Ohne Wörterbuch, ohne mich sonderlich anzustrengen. Endlich ging das!

Natürlich macht man in jeder (Fremd-)Sprache noch Fehler oder man muss das eine oder andere Wort nachschlagen. Wichtig ist mir aber, dass ich auch, obwohl ich spät zum Lateinischen gekommen bin, noch meinen Weg gefunden habe, um Latein richtig zu lernen. Das war und ist mein Ziel. Das, was ich auf diesem Wege lerne und unterrichte, teile ich gerne auf diesem Blog, weil ich der festen Überzeugung bin, dass es viele Lateinstudierende gibt, die fleißig lernen und sich trotzdem am Ende des Studiums wünschen, sie kämen mit der Originallektüre besser klar.

Auf der Suche nach Gleichgesinnten, die weiter als ich sind, habe ich mich zu lateinsprachigen Kursen angemeldet, z. B. in der Accademia Vivarium Novum. Gleichzeitig habe ich den Circulus Minervae in Bonn gegründet. Wir sind eine kleine Gruppe sehr engagierter Lateinlerner (Lateinstudenten und -lehrer), die sich regelmäßig treffen, um Latein zu sprechen und üben.

Es gibt viel Material im Netz: von Podcasts zu YouTube-Videos über lateinischsprachige Instragramprofile. Nicht alles, was als Latein verkauft wird, ist wirklich Latein, jedoch findet man auch hervorragende Latinisten, wie Irene Regini. Ich nutze YouTube auch gerne, um wissenschaftliche Vorträge von Philologen zu hören, die fantastisch Latein sprechen, wie Luigi Miraglia oder Wilfried Stroh.

Dank dieses natürlicheren Zugangs hat sich für mich im Laufe von wenigen Wochen (!) ziemlich alles verändert. Die Frage, ob ich die deutsch-lateinische Übersetzungsprüfung bestehen würde, stellte sich bald gar nicht mehr. Auch jetzt – Masterabschluss hin oder her – geht das Lateinlernen für mich weiter.

Man lernt nicht aus, wissen Deutsche.

Non si finisce mai di imparare, sagen Italiener.

Studendum vero semper et ubique, mahnt Quintilian. 

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Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

2 Kommentare

Elena Francia · 17. Januar 2023 um 20:21

This is a real adventure in the Latin studies! I really admire your perseverance, hard work, passion and will power. I believe this will bring you anywhere you wish to go and will allow you to reach any goal you have in mind.

    Silvia Ulivi · 20. Januar 2023 um 19:02

    Aww! Thank you so much, dear Elena. I count myself lucky to have a friend like you.
    A wise man once said: „With a little perseverance and Verner’s law, you can tackle almost every problem.“ 😉

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