Faciēbam und fē. Beides heißt ‚ich habe gemacht‘ – doch jeweils anders.

Aktionsart und Aspekt im Lateinischen: Da viele Grammatiken beim diesem Thema Aktionsart und Aspekt nicht genau sind und/oder stark voneinander abweichen, lohnt es sich an dieser Stelle, die Grenzen der Grammatikdarstellung zu verstehen, welche u.a. darauf zurückzuführen sind, wie die Kategorie der Aktionsart entstanden ist.

Heute spreche ich über den Unterschied zwischen Aktionsart und Aspekt. Was ist die Aktionsart? Wozu braucht man sie? Wozu kann man sie nicht gebrauchen? Worauf muss man aufpassen, wenn man eine Grammatik nachschlägt?

Nächste Woche vertiefe ich den Aspekt im Lateinischen.

Präteritum vs. Perfekt im Deutschen

Jeder deutschsprachige Lateinlerner kommt früher oder später an den Punkt, an dem er sich mit dem Unterschied zwischen den zwei Vergangenheitsformen Imperfekt und Perfekt anfreunden muss. Zwar hat auch das Deutsche neben dem Plusquamperfekt zwei weitere Vergangenheitstempora – Präteritum und Perfekt –, doch diese unterscheiden sich fast ausschließlich im Register voneinander: Das Präteritum ist das Erzähltempus der formelleren geschriebenen Sprache, während in der sog. konzeptionellen Mündlichkeit das Perfekt bevorzugt wird.

Im Lateinischen

Anders funktioniert das Lateinische. Da ist die Unterscheidung zwischen Perfekt und Imperfekt keine Frage des Registers, sondern des Aspekts.

Das Perfekt drückt den resultativen Aspekt aus, das Imperfekt drückt den durativen, iterativen oder konativen Aspekt aus.

Perfekt: resultativ (‚das Ergebnis ausdrückend‘)
Imperfekt: durativ (‚andauernd‘), iterativ (‚wiederholend‘), konativ (‚den Versuch ausdrückend‘)

Aktionsart

Vom Aspekt zu unterscheiden ist die sog. Aktionsart. Die Aktionsart ist von der Semantik des Verbs bestimmt, während der Aspekt flexionsmorphologisch markiert ist.

Theorie

Es gibt Verben, deren Bedeutung naturgemäß beispielsweise etwas Duratives (dūrāre, dormīre) oder Punktuelles (dēsistere, obdormiscere) ist. Die verbale Kategorie, die sich auf inhaltliche Aspekte der Verbsemantik bezieht, ist die Aktionsart. Die Aktionsart ist also keine flexionsmorphologisch markierte Kategorie, sondern ist in der Bedeutung des Verbs enthalten.

Man unterscheidet Aktionsarten primär nach folgenden Kriterien (vgl. Bußmann 2008, s.v. Aktionsart und RH §207, die ich hier zusammengefügt und an einigen Stellen ergänzt habe):

  • Dynamizität
    • statisch (‚einen Zustand wiedergebend‘): scīre, flōrēre, dolēre
    • dynamisch (‚einen Vorgang wiedergebend‘): discere, flōrēscere, pulsāre
  • Verlaufsweise eines Vorgangs (auch Telizität)
    • durativ oder atelisch (‚andauernd‘): tuērī, manēre
    • in Phasen zerlegbar oder telisch; weiter zu unterteilen in:
      • inkohativ oder ingressiv (‚den Verlaufsanfang ausdrückend‘): conticēre, extimēscere
      • perfektiv oder resultativ (‚das Verlaufsergebnis oder -ende ausdrückend‘): cōnsequī, adipīscī
      • egressiv (‚das Verlaufsende als Vorgang ausdrückend‘): dēflorescere, ēmorī
  • Wiederholung, Frequenz, Intensität
    • punktuell (‚in einem Zeitpunkt geschehend‘): cōnspicere, concidere, dare
    • habituativ oder frequentativ (‚als charakteristisches Geschehen darstellend‘): solēre, frequentāre
    • iterativ (‚die Wiederholung eines punktuellen Vorgangs ausdrückend‘): dictitāre, iterāre
    • intensiv (‚einen besonderen Grad von Intensität kennzeichnend‘): calefactāre, flāgitāre
    • deminutiv (‚einen niedrigen Grad an Intensität ausdrückend‘): cantillāre, nauculārī.
  • Kausalität
    • Handlungsverben (mit Agens): facere, scrībere
    • Vorgangsverben (ohne Agens): senēscere, pluere

Grenzen der Theorie

Sprachbeschreibungsmodelle haben immer ihre Grenzen und Inkonsistenzen. Dies ist umso leichter erkennbar, wenn sie nicht formalistisch, sondern bedeutungsbezogen sind, denn semantische Kategorisierungen sind immer zu einem gewissen Grad willkürlich. Folgende Punkte sollte man berücksichtigen:

  1. Die Aktionsarten iterativ/frequentativ und intensiv gehen im Lateinischen oft Hand in Hand, denn das Wortbildungssuffix -(i)tāre beide semantische Richtungen decken kann: z.B. minitārī = ’saepe et valde minārī‘.
  2. Die Termini werden in der Fachliteratur nicht einheitlich verwendet. Wenn Sie eine Grammatik nachschlagen oder einen Aufsatz lesen, vergewissern Sie sich, dass Sie eine Definition finden, der gemäß der Terminus jeweils verwendet wird. Beispielsweise werden frequentativ und iterativ manchmal (wegen Punkt 1, s.o.) synonym verwendet, während manche zwischen inkohativ (‚den Vorgangsbeginn kennzeichnend‘) und ingressiv (‚einen plötzlichen Vorgangsbeginn kennzeichnend‘) unterscheiden (vgl. Bußmann 2008, s.v. Incohativ).
  3. Man könnte sich durchaus weitere Kategorien vorstellen. Ich glaube, dass die übliche Auswahl an Aktionsarten dadurch bedingt ist, dass die Aktionsart als grammatische Einheit just als Gegenüberstellung zur Kategorie des Aspekts oder zu anderen Kategorien entstanden ist. Es gibt m.E. keinen Grund, beispielsweise prohibitiv nicht auch als Aktionsart von Verben wie prohibēre oder arcēre anzusehen, obwohl der Terminus prohibitiv meist nur als Modusfunktion verstanden wird. Die Grenze zwischen Aktionsart und bloßem semantischem Merkmal ist arbiträr oder zumindest funktional zur Unterscheidung von grammatischen Kategorien. Auch konativ wird beispielsweise meist nur als Aspekt, nicht als Aktionsart aufgeführt.
  4. Die Kausalität wird vorwiegend zur Unterscheidung von kausativen und fientiven Verben benutzt. Das ist für die lateinische Sprache weniger relevant, weil man an dieser Stelle mit den Valenzkategorien transitiv und intransitiv durchaus auskommt. Im Germanischen aber wurden mit dem Wortbildungsinfix -j- kausative Verben geformt. Dies führt u.a. zu Verbpärchen wie liegenlegen, trinkentränken, fallenfällen, von denen ersteres jeweils ein starkes Verb, zweiteres jeweils ein schwaches Verb erster Klasse (sog. -jan-Verb). Wegen solcher Muster ergibt sich die Notwendigkeit, die jeweilige Aktionsart zu unterstreichen:
    • kausativ oder faktitiv (‚die etwas auf jemanden/etwas bewirken‘): urere, siccāre (trans.), dēnigrāre
    • fientiv (‚einen Werdegang ausdrückend‘): ardēre, siccāre (intrans.), nigrēscere

Kurzum: Es gibt m.E. keinen weiteren guten Grund, von Aktionsart zu sprechen, als dass man sie manchmal zur Abgrenzung zu anderen Kategorien oder zur Darstellung vom Ergebnis besonders produktiver Wortbildungsmustern mit systemischen Folgen braucht. Genau aus diesem Grund haben sich in den Grammatiktraditionen der verschiedenen Sprachen jeweils unterschiedliche Aktionsarten durchgesetzt – abhängig von den jeweiligen theoretischen Bedürfnissen. Es geht bei den Aktionsarten nicht um eine komplexives semantisches Modell, sondern immer nur um ausgewählte (morphologisch bedingte) Eigenschaften der Verbalbedeutung.

Zum Glück haben die Inkonsistenzen im Beschreibungssystem keinen wirklichen Einfluss aufs Lateinlernen, zeigen jedoch, dass die Kategorie der Aktionsart zur Eingrenzung der inhärenten Verbsemantik im Vergleich zu flexionsmorphologischen Merkmalen (Aspekt) oder wortbildungsmorphologischen Merkmalen fungiert.

Praxis

Was die lateinische Sprache angeht, lohnt es sich einige Wortbildungsmuster zu kennen, die die Aktionsart des neugebildeten Verbs bedingen.

  • -sc- bildet fientive oder ingressive Verben: senēscere, expavēscere.
  • ē- kann egressive Verben bilden: ēdiscere ‚usque ad finem discere‘ = ‚auswendig lernen‘, ēbibere ‚usque ad finem bibere‘ = ‚austrinken‘.
  • per- kann Intensiva oder Egressiva bilden: perdiscere ‚gründlich lernen‘, peramāre ‚zutiefst lieben‘, perficere ‚usque ad finem facere‘ = ‚vollenden‘.
  • -tūr- und -sūr- bilden Desiderativa (‚ein Verlangen/Streben ausdrückend‘): ēsurīre (< edere), sullātūrīre (< Sūlla) ‚den Sulla spielen wollen‘.
  • Ebenfalls desiderativ sind die Wortbildungen auf -essere: arcessere (< accēdere), capessere (< capere).
  • -tāre und -sāre bilden Intensiva: captāre (< capere), cantāre (< canere), pulsāre (< pellere), quassāre (< quatere).
  • Mit den Intensiva eng verwandt sind die Frequentativa oder Iterativa auf -itāre: vīsitāre, agitāre.
  • Verbale Deminutiva können wie ihre nominalen Pendants enthalten:
    • -ill-: tītillāre ‚kitzeln‘;
    • -icul-: fissiculāre ‚in Stückchen teilen‘;
    • sub-: subbibere ‚ein wenig trinken‘, subpēdere ‚leise furzen‘.
  • -(i)gāre (< agere) bildet Faktiva: mītigāre, purgāre, lēvigare.

In diesem Artikel geht es weiter mit dem Aspekt:

  • Indikativ Perfekt vs. Imperfekt im Lateinischen kennt jeder.
  • Wo spielt der Aspekt aber sonst auch eine Rolle?
  • Und wo kann man ihn gar nicht unterscheiden, obwohl es ganz schön sinnvoll wäre?

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Bibliographie

  • Bußmann, H. (20083): Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart: Kröner.
  • Kühner, R./Holzweissig, F. (19122/2021): Ausführliche Grammatik der lateinischen Sprache. Teil I. Elementar-, Formen- und Wortlehre. Darmstadt: wbg Academic.
  • Forcellini, Lexikon totius Latinitatis.
  • Ruberbauer, H. / Hofmann, J.B. (199512): Lateinische Grammatik. Bamberg: C.C. Buchner.

Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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