Fährt ein Deutscher zum Wandern nach Schweden, wird er staunen, wie viel er zumindest schriftlich versteht. (Lust auf Blåbärssoppa?) Liest ein Engländer einen französischen Text, versteht er schon viele Wörter, ohne die Sprache zu lernen. Warum ist das so?

Heute gehe ich auf die vier Faktoren ein, die dazu führen, dass Ähnlichkeiten zwischen Sprachen entstehen.

Hier finden Sie eine Legende der verwendeten Symbole und Abkürzungen.

Inwiefern ähnlich?

Denken wir an Ähnlichkeiten zwischen Sprachen, fallen uns zunächst einmal Wörter ein, die in zwei Sprachen ganz ähnlich klingen oder geschrieben sind. Intuitiv bewegen wir uns also in der Regel vorwiegend auf der lexikalischen Ebene und um diese wird es heute primär gehen.

Man sollte jedoch immer im Hinterkopf behalten, dass Ähnlichkeiten zwischen Sprachen alle sprachlichen Ebenen betreffen können. Schauen wir uns ein paar Beispiele an:

  • Auf phonologischer Ebene haben bis auf das Hochdeutsche alle westgermanischen Sprachen ger. *t– behalten: ne. town ~ nl. tuin ~ nhd. Zaun.
  • Flexionsmorphologisch weisen indogermanische Sprachen daraufhin eine Parallele, dass zusammengesetzte Verbformen mit den Auxiliarverben haben und sein gebildet werden.
  • Wortbildungsmorphologisch finden wir in germanischen Sprachen Determinativkomposita (s. o.: Blåbärssoppa), bei denen das Grundwort das Letztglied der Wortbildung ist, während die Bestimmungswörter jeweils nach links angereiht werden: Eine Blaubeersuppe ist eine ‚Suppe, die aus Beeren gemacht ist, die blau sind‘.
  • Morphosyntaktisch können wir die gleichen Kasus in verschiedenen Sprachen wiederfinden.
  • Typologisch werden Sprachen daraufhin eingeteilt, ob sie suffigierend, agglutinierend usw. sind.
  • Auf phraseologischer Ebene finden wir in verschiedenen Sprachen ähnliche idiomatische Wendungen wieder: Vgl. etwa das Handtuch werfen und ital. gettare la spugna oder viele Köche verderben den Brei und ne. too many cooks spoil the broth.
  • Und so weiter und so fort…

Ähnlichkeiten können auf allen Ebenen festgestellt werden.

Warum ähnlich?

Dass Ähnlichkeiten zwischen zwei Sprachen bestehen, kann immer auf einen der folgenden vier Gründe zurückgeführt werden: Urverwandtschaft, Entlehnung, parallele Entwicklung oder Zufall.

1. Urverwandtschaft

Der erste Grund, auf den Ähnlichkeiten zwischen zwei Sprachen zurückgeführt werden können, ist die Tatsache, dass sich verschiedene Tochtersprachen aus einer ursprünglichen Muttersprache durch Sprachspaltung entwickelt haben. Um diese Entwicklungen greifbar zu machen, bedient man sich gerne dieser Familien- bzw. Stammbaummetapher, die auf August Schleichers Stammbaumtheorie von 1861 zurückgeht. Der zufolge spalten sich die verschiedenen Sprachen einer Sprachfamilie von einer Ursprache ausgehend wie die Zweige eines Stammbaums. Im Falle des Deutschen ist diese Ur- oder Muttersprache das Indogermanische (Idg.).

die indogermanische Sprachfamilie / die indoeuropäische Sprachfamilie:
Sprachstamm mit ca. 140 Einzelsprachen, der nach seiner geographischen Ausbreitung von Europa bis nach Nordindien benannt ist

das Indogermanische / das Indoeuropäische:
rekonstruierte Protosprache dieses Gebiets, die in der Zeit um 3000 v. Chr. angesetzt wird

Indogermanisch und indoeuropäisch sind Synonyme. Im deutschsprachigen Raum ist indogermanisch üblicher, international indoeuropäisch. Vgl. ne. PIE (Proto-Indo-European), ital. indoeuropeo, fr. indo-européen usw.

(Vgl. Bußmann 2008: s. v. Indo-Europäisch.)

Da das Indogermanische nicht belegt ist und seine territoriale wie zeitliche Ausbreitung extrem groß sind, muss die rekonstruierte Ursprache eher als Abstraktion gefasst werden.

Verfolgen wir die Spaltungen, die zum Neuhochdeutschen (Nhd.) führen, sehen wir, dass unsere Sprache zur germanischen Sprachfamilie gehört. Das Germanische, ein im 1. Jahrtausend v. Chr. entstandener Zweig, ist nicht belegt, sondern wie das Idg. sprachhistorisch und sprachvergleichend rekonstruiert. Von der idg. Ursprache hat sich der germanische Zweig durch die erste Lautverschiebung gespalten.

das Germanische

Sprachzweig des Indogermanischen, der sich durch die erste Lautverschiebung gespalten hat

Zahlreich sind aber die Wandel, die sich in germanischer Zeit vollzogen und das Germanische von den übrigen indogermanischen Sprachen unterscheiden, wie die folgenden sowie weitere kleinere:
– erste Lautverschiebung
– Zusammenfall von *o und *a, in der Länge zu *ō, in der Kürze zu *a
– bestimmte laryngalbedingte Vokalwandel
– Sprossvokalisierung der silbischen Nasale und Liquide durch *u
– Verners Gesetz (nach der 1. LV)
– Festlegung des Initialakzents (nach Verners Gesetz)
– Herausbildung von Ablautreihen
– Kasussynkretismus
– Numerussynkretismus
– Modussynkretismus
– Herausbildung der starken und schwachen Konjugation
– Herausbildung der starken und schwachen Adjektivdeklination

Es ist fraglich, ob es eine einheitliche Ursprache (Urgermanisch) gegeben habe. Wie das Indogermanische ist das Germanische eine rekonstruierte Sprache, die eher als Abstraktion verstanden werden muss.


die germanische Sprachfamilie

Ab Ende des 2. Jh. v. Chr. werden Dialektgruppen angenommen. Die Sprachen der germanischen Sprachfamilie sind in Untergruppen eingeteilt (s. Stammbaum unten); manche davon sind bereits ausgestorben.

(Vgl. Schweikle 1996, Bußmann 2008: s. v. Germanische Sprachen und Müller 2007.)

Stammbaum der germanischen Sprachfamilie

Die erste Lautverschiebung ist ein komplexer Lautwandel, der nacheinander stimmlose Plosive (Reihe der Tenues), stimmhafte Plosive (Reihe der Mediae) und stimmhafte aspirierte Plosive (Reihe der Mediae aspiratae) betroffen hat. Alle germanischen Sprachen – vom Isländischen übers Englische bis hin zum Niederdeutschen – haben diesen Lautwandel gemeinsam, denn das ist der Wandel, durch den sich das Prägermanische vom Urgermanischen unterscheidet.

der Lautwandel,

„Lautveränderung in einer Sprache unter historischem Aspekt“

(Bußmann 2008: s. v. Lautwandel.)

die Lautverschiebung, -en

Lautwandel, der nicht einen einzelnen Laut betrifft, sondern eine Lautreihe, d. h. eine Lautgruppe mit mindestens einem gemeinsamen artikulatorischen Merkmal

Wenn ein Sprachwandel so grundlegend ist, dass er zu einer Verzweigung im Stammbaum führt, spricht man von Dialekt- oder Sprachspaltung, wobei der Unterschied zwischen Dialekt und Sprache eher politischer als sprachwissenschaftlicher Natur ist.

Angesichts des großen germanischen Gebiets und der Tatsache, dass sich die erste Lautverschiebung über eine Zeitspanne von mehreren Jahrhunderten vollzogen hat, wird klar, dass die Stammbaumtheorie als Metapher und Hilfsmittel betrachtet werden sollte, denn es gibt de facto historisch keine abrupten Trennungen oder Zweige noch synchron trennscharfe Grenzen zwischen benachbarten Sprachen. Diese Theorie hilft aber unheimlich, das Ergebnis von lang andauernden Wandeln, die synchron kaum erkennbar sind, darzustellen und die Ähnlichkeiten zwischen Sprachen ein und derselben Sprachfamilie zu erklären.

Auf der anderen Seite kann eine Sprache jedoch weitere Lautwandel erfahren, durch die sie sich von den Schwestersprachen innerhalb derselben Sprachfamilie deutlich unterscheidet. Nehmen wir das bereits erwähnte Beispiel von ger. *t- in den westgermanischen Sprachen (ne. town ~ nl. tuin ~ nhd. Zaun), in dem nur das Neuhochdeutsche die Affrikate [t͜s] im Anlaut aufweist. Das beruht auf der zweiten Lautverschiebung, durch welche sich das Hochdeutsche vom restlichen westgermanischen Stamm gespalten hat.

die Affrikate, -n / die Affrikata, -en

Doppelkonsonant aus Plosiv + Frikativ, z. B. [t͜s], [p͜f]

Da der bildliche Charakter der Stammbaumtheorie, wie oben erwähnt, zu irrtümlichen Annahmen führen kann, entwickelte Johannes Schmidt 1872 sein Wellenmodell. Obwohl diese Theorie in kritischer Abgrenzung zum Stammbaummodell entstand, stellt sie eigentlich eine sinnvolle Ergänzung dar, sodass die zwei Theorien trotz ihrer Ätiologie als komplementär betrachtet werden können.

Das Wellenmodell beschreibt die Tatsache, dass eine sprachliche Erneuerung, etwa ein Lautwandel, in einem (i. d. R. städtischen) Zentrum entsteht, von dem aus sie wellenartig nach außen hin propagiert, wobei ihre Kraft desto mehr abschwächt, je mehr man sich vom Entstehungszentrum entfernt, wie die sich zirkumzentrisch ausbreitenden Wellen, die entstehen, wenn man einen Stein ins Wasser fallen lässt. Das Wellenmodell ermöglicht es daher, die Kontinuierlichkeit benachbarter Sprachen sowie den Einfluss von Sprachkontakt (bspw. in Form von Entlehnungen) abzubilden.

2. Entlehnung

Dort, wo Kontakt und Austausch zwischen Kulturräumen bestehen, werden nicht nur Ideen und Gegenstände getauscht, sondern auch das betreffende Vokabular. Wir wissen aus der heutigen Lage, dass eine als angesehen betrachtete Kultur auch einen großen sprachlichen Einfluss auf andere ausübt. Das führt heute zu den vielen Entlehnungen aus dem Englischen, die teils zusammen mit einem im angloamerikanischen Raum entwickelten Gegenstand/Konzept zu uns kommen – googlen, Like, Server –, teils weil es einfach cool ist. Früher hätte man von überlegener Kultur gesprochen, aber mittlerweile sind solche Rankings wieder out.

Bei Kulturkontakt kommt es also zu Entlehnungen, aufgrund derer selbstverständlich Ähnlichkeiten zwischen Sprachen entstehen können und welche sowohl verwandte als auch nicht miteinander verwandte Sprachen betreffen können.

Beispielsweise weist das Englische historisch durch die Normannische Eroberung von 1066 bedingt unheimlich viele Entlehnungen aus dem Französischen, und zwar bemerkenswerterweise für Begriffe, die im Angelsächsischen bereits existierten, was etwa zur Entwicklung der Wortpaare für Tier einerseits und genießbares Fleisch des Tiers andererseits geführt hat: pig (Etymologie unklar; germanischen Ursprungs ist sicherlich swine) – pork, deervenison, cowbeef, sheepmutton. Es wird geschätzt, dass bis zu 60 % (!) des englischen Wortschatzes (direkt oder mittelbar über eine romanische Sprache) lateinischen Ursprungs sei. Wahnsinn, oder? Daher ist das Englische zwar eindeutig eine germanische Sprache, weil es die Sprachwandel aufweist, die zur Spaltung des Germanischen geführt haben, aber es hat auf lexikalischer Ebene eindeutige Ähnlichkeiten zu den romanischen Sprachen.

Man sollte aber auch nicht vergessen, dass Lehnwörter, die endgültig in den Wortschatz einer anderen Sprache aufgenommen worden sind, irgendwann wie der Rest des Sprachsystems behandelt werden. Das heißt, dass sie von einsetzenden Lautwandeln ebenfalls betroffen werden wie das einheimische Vokabular, was dazu führen kann, dass Fremdwörter nicht mehr leicht als solche erkennbar sind. Das ist der Fall etwa bei Pfütze, Ziegel, Pforte und vielen anderen Fremdwörtern, die durch die zweite Lautverschiebung diese wunderbar deutsch klingenden Affrikaten bekommen haben und nun vom nicht trainierten Betrachter mit einheimischem Vokabular verwechselt werden könnten. In solchen Fällen spricht man von assimilierten Fremdwörtern. Der Lautstand dieser Wörter wird auch genutzt, um den Zeitpunkt der Entlehnung festzulegen: Pfütze, Ziegel und Pforte sind offensichtlich nach der ersten, aber vor der zweiten Lautverschiebung entlehnt worden. (Wäre lat. porta vor der 1. LV entlehnt worden, wäre p- zu *f– geworden und bis heute geblieben; wäre das Wort nach der 2. LV entlehnt worden, hätten wir noch p- wie etwa in der späteren Entlehnung Portal.)

Auch bei Entlehnungen gilt, dass sie nicht nur auf lexikalischer Ebene wirken, sondern auch auf anderen sprachlichen Ebenen stattfinden können. Beispielsweise wurde im Ahd. ein Zungenspitzen-[r] realisiert, das später in Anlehnung an das Französische in vielen deutschsprachigen Gebieten zu einem gutturalen [ʁ] geworden ist. Um ein weiteres Beispiel zu nennen, existiert im Italienischen neben der einheimischen Kollokation svolgere un ruolo unter Einfluss des Englischen to play a role auch die Variante giocare un ruolo.

Selbst wenn wir auf der lexikalischen Ebene bleiben, ist Entlehnung nicht gleich Entlehnung. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1959 hat Betz verschiedene Entlehnungstypen beschrieben, denn durch Kulturkontakt kann es nicht nur passieren, dass ein Wort übernommen wird (Fremdwort), das dann mit der Zeit assimiliert wird, sondern es können in Anlehnung an die fremde Sprache und unter ihrem Einfluss neue Wörter mit einheimischen Mitteln gebildet werden oder neue Bedeutungen von bereits existierenden Wörtern entstehen.

Entlehnungstypen nach Betz

Eine ausführliche Erklärung der Entlehnungstypen nach Betz finden Sie in diesem Beitrag.

So, wie wir heute den starken Einfluss des Englischen erleben, sind in Zeiten des intensiven Kontakts mit einer wirkungsreichen Kultur immer wieder wellenartig ganz viele Entlehnungen auf einmal entstanden. In der deutschen Geschichte und Vorgeschichte können folgende Entlehnungswellen festgelegt werden.

Entlehnungswellen in der deutschen (Vor-)Geschichte:

  • Erste lateinische Welle (ins Vorahd.)
    Die Entlehnungen aus dem Lateinischen während der Römerzeit betreffen verschiedene Bereiche, in denen die südliche Kultur das bessere Know-How besaß wie Verwaltung und Architektur.
    Mauer < ahd. phunt< ger. ← lat. pondō (indeklinabel)
    Esel < ahd. esil < ger. *asiluz ← lat. asinus
    Kelch < ahd. kelih < vorahd. ← lat. calix

  • Zweite lateinische Welle (ins Ahd.)
    Die Entlehnungen aus dem Mittellateinischen ergaben sich wegen der zentralen Rolle dieser Sprache für Kirche, Verwaltung, Rechtswesen, Literatur und Wissenschaft.
    Pilger < ahd. piligrim ← spätlat. pelegrīnus < lat. peregrīnus
    Vikar < ahd. fikāri ← lat. vicārius
    Himmel als ‚Paradies‘ (Lehnbedeutung)

  • Erste französische Welle (ins Mhd.)
    Die im Mittelalter aus dem Französischen entlehnten Wörter haben mit der höfischen und Ritterkultur zu tun.
    Palast < mhd. palas ← afrz. palais
    Manier < mhd. maniere ← afrz. maniere (substantiviertes feminines Adjektiv)
    Wörter aus der Wortfamilie Hof (höfisch, höflich, hofieren) sind Lehnprägungen aus dem Afrz.

  • Dritte lateinische Welle (ins Frnhd.)
    Trotz der allmählichen Ausbreitung der Volkssprachen auf zunehmend viele Lebensbereiche bleibt das Neulatein in der Renaissance Sprache der Wissenschaft und Literatur. Entlehnungen aus dieser Zeit umfassen vorwiegend fachsprachliche Terminologie.
    Patient ← lat. patiens
    Passiv ← lat. passus (von patior, passus sum, patī)
    Stil ← lat. stilus

  • Zweite französische Welle (ins Frnhd. und Nhd.)
    Die Wörter, die zur Zeit des Barock und Rokoko aus dem Französischen entlehnt wurden, decken verschiedene Lebensbereiche, wie Transport, Kleidung und Kulinarik.
    Karosse ← frz. carrosse m. (früher f.) ← it. carrozza
    Krawatte ← frz. cravate
    Korsett ← frz. corset

  • Angloamerikanische Welle (ins Gegenwartsdeutsche)
    Interview ← ne. interview
    Show ← ne. show
    liken ← ne. like

Was den Einfluss des Englischen auf die deutsche Sprache angeht, ist es sehr schwer zu sagen, wann er aus dem Englischen im engeren Sinne, wann er aus dem Amerikanischen ausgeht. Weiter lässt sich der Anglizismenbestand allgemein nicht mit endgültiger Sicherheit messen, zum einen aufgrund der großen Ähnlichkeiten zwischen den zwei Sprachen, zum anderen weil just diese Ähnlichkeit die Voraussetzung für parallele Entwicklungen bedingt (s. u.).

Selbstverständlich gibt es im Deutschen neben diesen großen Wellen, in denen jeweils eine Gebersprache eine besondere Rolle gespielt hat, auch viele Entlehnungen aus weiteren Sprachen. So sind beispielsweise während der dritten lateinischen Welle auch viele Fachtermini griechischen Ursprungs entstanden. Zahlreich sind auch die Entlehnungen aus dem Italienischen etwa in den Bereichen Bankwesen (Konto, brutto, Valuta), Musik (andante, allegro, Capodaster), Malerei (Fresko, Madonna, Aquarell), Kulinarik (Cappuccino, Rucola, al dente). Ich möchte niemanden beunruhigen, aber ohne Italiener würde man hier zu Lande nicht mal von Kartoffeln sprechen können!

Quelle: Pfeifer 1995: s. v. Kartoffel (Stand: 30.12.2021).

3. Parallele Entwicklung

Eine parallele Entwicklung in zwei Sprachen, ohne dass eine Beeinflussung der einen auf die andere bestehe, ergibt sich, wenn in beiden Fällen ähnliche Voraussetzungen gegeben sind. Diese Vorraussetzungen können außersprachlich oder innersprachlich sein.

Es sind zum Beispiel sprachexterne Faktoren, die zu ähnlich klingenden Lautmalereien in zwei Sprachen führen. So macht der Hahn kikeriki auf Deutsch, chicchirichì auf Italienisch, cororico auf Französisch und, was die Engländer hören (cock-a-doodle-doo), muss man nicht unbedingt nachvollziehen können. 🤷🏻‍♀️

(Nicht jede Lautmalerei ist ein Indiz für parallele Entwicklung. So gehen nhd. muhen, ital. muggire, ne. moo auf die onomatopoetische idg. Wurzel *mu̅̆ zurück. Vgl. auch agr. μυκᾶσθαι und lat. mugire. Diese Ähnlichkeit geht also auf Urverwandtschaft zurück.)

Nehmen wir ein anderes Beispiel: Lidschatten heißt auf Englisch eyeshadow, auf Italienisch ombretto (Verniedlichungsform von ombra ‚Schatten‘). Wenn in allen drei Sprachen diese Wörter unabhängig voneinander entstanden sind, ist dies ein Fall von paralleler Entwicklung. Die außersprachliche Verbindung der Schminke mit Schattierungen hätte in diesem Fall drei Sprachsysteme parallel beeinflusst. Wenn hingegen nhd. Lidschatten in Anlehnung auf ne. eyeshadow entstanden ist, ist es ein Beispiel von Lehnübertragung.

Innersprachliche Faktoren haben einen viel größeren Einfluss auf sprachgeschichtliche Entwicklungen als außersprachliche. Im Falle der Parallelität ist dies nicht ganz einfach nachzuvollziehen. Manche Wandel in verschiedenen Sprachsystemen ergeben sich, weil verwandte Sprachen gewissen Ähnlichkeiten haben, sozusagen die gleichen genetischen Voraussetzungen mitbringen, die dazu führen, dass sich irgendwann völlig unabhängig voneinander ähnliche Veränderungen in beiden Sprachen ergeben.

Dieses Phänomen ist insbesondere von Otto Höfler untersucht worden, der die Stammbaum- und die Wellentheorie um die Entfaltungstheorie ergänzt hat. Er hat nämlich u. a. festgestellt, dass sich bestimme Monophthonge und Diphthonge in verschiedenen germanischen Dialekten ähnlich entwickelt haben, dass diese Entwicklungen aber aufgrund von eindeutigen räumlichen Diskontinuitäten nicht mit dem Wellenmodell erklärt werden konnten. Nicht nur die Ausbreitung aus einem bestimmten Punkt aus, sondern auch andere „horizontale“ Zusammenhänge, nämlich Nachahmung und Übernahme (also Entlehnung i. w. S.), können bei räumlicher Diskontinuität ausgeschlossen werden.

Nehmen wir ein weiteres Beispiel: Sowohl mhd. ū also auch me. ū wurden diphthongiert und sind schließlich unabhängig voneinander schließlich zu /a͜ʊ/ geworden. Diese Fälle von Polygenese werden von der Entfaltungstheorie erklärt.

In den Lehrveranstaltungen fragt mich jemand an dieser Stelle immer: „Aber warum?“

Historische Wissenschaften sind allgemein deskriptiv veranlagt und können nur versuchen, möglichst genau zu rekonstruieren, WAS passiert ist. Gerade wenn es um Sprachwandel angeht, können wir nur von einem Bruchteil der Entwicklungen nachvollziehen, warum sie passieren, z. B. bei Assimilations- oder Analogieprozesse. Warum sich letztendlich Sprachen ändern, ist bei aktuellem Wissensstand eine eher metaphysische Frage. Vergleichen wir das mit der Schwerkraft: Wir können rekonstruieren, was dazu führt, dass es die Schwerkraft gibt, und welche physischen Auswirkungen diese hat u. ä., aber WARUM es diese Faktoren so gibt, wie sie vorliegen, geht eben ins Metaphysische. Physiker haben es nur insofern leichter, weil sich physikalische Gesetze nicht ändern, während Sprachsysteme stets im Wandel sind.

4. Zufall

Die vierte und letzte mögliche Voraussetzung für Ähnlichkeiten zwischen Sprachen ist der Zufall. Manchmal ähneln sich Sprachen also, ohne dass ein wirklicher Grund vorliegt. Zufällige Ähnlichkeiten auf lexikalischer Ebene können sich natürlich sowohl zwischen Sprachen derselben Familie als auch zwischen nicht verwandten Sprachen. So mögen sich ne. poor und nhd. pur zwar ähnlich anhören, aber sie haben selbstverständlich nichts miteinander zu tun. Zwischen dem Italienischen und dem Japanischen kann man erstaunlich viele ähnliche Wörter finden, weil beide Sprache zur Alternanz von je einem Vokal und einem Konsonanten tendieren, z. B.: it. casa ‚Haus‘ vs. jap. 傘 kasa ‚Regenschirm‘ oder ‚Sonnenschirm‘.

Es kann auch passieren, dass in zwei Sprachsystemen Wörter, die nicht urverwandt sind und sich völlig unabhängig voneinander entwickeln, zufällig sowohl ausdrucksseitlich als auch inhaltsseitlich ähnlich werden. Das ist etwa der Fall bei nhd. haben und lat. habere. Es ist zum Vokabellernen zwar ganz schön praktisch, dass sich die zwei synonymen Verben so ähnlich sind, die Ähnlichkeit ist aber willkürlich, denn haben ist mit lat. capere urverwandt.

Abschließende Anmerkungen

Im extremen Falle von casa und 傘 käme niemand auf die Idee, etwas anderes als Zufall anzunehmen. Das sollte aber nicht täuschen: Meist ist es überhaupt nicht trivial, zwischen Urverwandtschaft, Entlehnung, Parallelität und Zufall zu unterscheiden. Solche Sprachvergleiche erfordern neben Sprachkenntnissen genaue deklarative wie prozedurale sprachhistorische Kompetenzen sowie breite Kenntnisse über die benachbarten Sprachlandschaften, Mundarten und Texte verschiedener Epochen. Oft spielen mehrere Faktoren auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig eine Rolle.

Sowohl bei einheimischem Vokabular als auch bei Fremdwörtern können sich außerdem Bedeutungsänderungen ergeben, denn wie auf allen anderen Ebenen ändern sich Sprachen auch auf der Ebene der Semantik. Oder aber es kann passieren, dass ein polysemes Wort aus einer Gebersprache nur mit einer bestimmten Bedeutung entlehnt wird. Weder bei Urverwandtschaft noch bei Entlehnung ist die semantische Ebene allein ausschlaggebend. Vor allem sind es Untersuchungen der historisch-vergleichenden Phonologie, die es ermöglichen, zwischen Urverwandtschaft, Entlehnung, Parallelität und Zufall zu unterscheiden.

Mein herzlichster Dank gilt Dr. Stefan Müller und Dr. Eva Büthe-Scheider, die mich vor langer Zeit mit größter Geduld und Wertschätzung in sprachgeschichtliche Themen eingeführt und eingearbeitet haben, als ich derer völlig ahnungslos war.

Wenn Sie Fragen zur deutschen Grammatik oder zu sprachwissenschaftlichen Themen haben, schreiben Sie mich gerne an!

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Bibliographie

  • Betz, W. (1959): Lehnbildungen und Lehnwörter im Vor- und Frühdeutschen. In: Maurer, K. / Stroh, F. (Hgg.): Deutsche Wortgeschichte, Berlin, S. 127–147.
  • Bußmann, H. (20084): Lexikon der Sprachwissenschaft, Stuttgart.
  • Eisenberg, P. (20183): Das Fremdwort im Deutschen, Berlin/Boston.
  • Höfler, O. (1956): Stammbaumtheorie, Wellentheorie, Entfaltungstheorie. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, S. 1–44.
  • Müller, S. (2007): Zum Germanischen aus laryngaltheoretischer Sicht. Mit einer Einführung in die Grundlagen der Laryngaltheorie. Berlin/Boston.
  • Müller, S.: Einführung in die germanistische Linguistik, historisch – Zusammenfassung, mit einem Beitrag von Ulivi, S.
  • Online Etymology Dictionary. Unter www.etymonline.com aufrufbar.
  • Pfeifer, W. (1993): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Unter www.dwds.de digital aufrufbar.
  • Schweikle, G. (19964): Germanistisch-deutsche Sprachgeschichte im Überblick. Stuttgart/Weimar.

Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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