Lesen versetzt uns in andere Zeiten und andere Leben. Bald aus reiner Empathie, bald weil wir in den Charakteren etwas von uns selbst entdecken, vermag die Lektüre die Saiten unseres Gemüts besonders laut erklingen zu lassen. Heute möchte ich Ihnen 5 Bücher ans Herz legen, die mich zu Tränen gerührt haben.

Platz 5: ein verstohlenes Tränchen

Dass Orwell gerade mein Geburtsjahr für seinen weltweit berühmten dystopischen Roman gewählt hat, verdaue ich bis dato nicht gut, aber das ist nicht der Grund, weswegen ich weinen musste.

George Orwell, 1984

Während der gesamten Lektüre war ich sehr bedrückt und fühlte mich unwohl, was in diesem Fall für die Qualität des Romans spricht.


SPOILER-ANFANG!


Das Gelingen der Treffen der beiden Hauptcharaktere ist so unwahrscheinlich, dass man die ganze Zeit Schlimmes erwartet. Aber wie immer, wenn man nicht weiß, wann Schlimmes eintreten wird, ist die Warterei unerträglich. Die Kontrolle der Leben bis ins kleinste Detail, die Vertilgung der Vergangenheit, die unpersons, alles ist bedrückend. Irgendwann ist er so weit: Winston und Julia werden inhaftiert und gefoltert. Den zweiten Teil des Romans, der im euphemistischen Ministry of Love spielt, konnte ich ehrlich gesagt kaum lesen.


SPOILER-ENDE


Die gesamte Lektüre würde ich als bedrückend, beunruhigend, empörend kennzeichnen. An mehreren Stellen überkam mich ein solches Gefühl von Machtlosigkeit, dass ich das eine oder andere Wuttränchen nicht unterdrücken konnte.

Platz 4: *schnief* „Ich hab‘ nur was im Auge!“

Alessandro Manzoni, I promessi sposi

Schon zu Schulzeiten, als ich (wie wohl alle Italiener) in der 9. Klasse I promessi sposi lesen musste, war ich um all die genauen Beschreibungen, mit denen Manzoni seinen Roman großzügig versehen hat, dankbar, denn Prosa mit ausführlichen deskriptiven Anteilen mochte ich schon immer. Als Beispiel für eine gekonnt eingesetzte deskriptive Passage möchte die bildhafte Beschreibung der Augen von Pater Cristoforo hier wiedergeben, bei der allein der Vergleich mit plötzlich wild werdenden Pferden, die wissen, dass der erfahrene Kutscher sie schnell wieder zähmen wird, und trotzdem ihre temperamentvolle Anlage zuweilen nicht unterdrücken können, sehr viel über seine Natur und seinen Lebensweg anzudeuten vermögen, ohne dem Leser zu viel auf einmal zu offenbaren.

Due occhi incavati eran per lo più chinati a terra, ma talvolta sfolgoravano, con vivacità repentina; come due cavalli bizzarri, condotti a mano da un cocchiere, col quale sanno, per esperienza, che non si può vincerla, pure fanno, di tempo in tempo, qualche sgambetto, che scontan subito, con una buona tirata di morso.

Beschreibung der Augen von Fra‘ Cristoforo (Kap. 4)

Gerade lange Beschreibungen können aber auch dafür sorgen, dass man sich als Leser etwas distanziert, sodass für mich die Lektüre – und ich rede von der späteren, erneuten Lektüre im Erwachsenenalter, nicht der erzwungenen, welche der Pubertierenden allein ob des Entstehungsgrunds missfallen musste – zwar äußerst genüsslich vonstatten ging, jedoch allgemein nicht sonderlich rührend wirkte.

Trotzdem ist insbesondere eine Stelle herzbrechend. Ab Kapitel 31 spielen in I Promessi Sposi bekanntermaßen die Pest von 1630 und ihre verheerenden Folgen eine zentrale Rolle. Der Protagonist Renzo begegnet in Mailand einer Mutter, die ihr verstorbenes Kind den Leichenträgern übergibt. Die junge Mutter strahlt solch eine tiefe Dignität aus, dass sogar die rücksichtslosen, meist betrunkenen und an Leichenraub interessierten monatti, die haufenweise entstellte Körper auf ihren Karren abtransportieren, zurückweichen. Dem Kind erweist sie eine letzte, unzureichende Ehre, indem sie sie selbst sanft auf den Karren legt, in dem die makellos weiß gekleidete Cecilia einen schmerzhaften Gegensatz zur formlosen Nacktheit vieler namenloser Verstorbener darstellt.

Platz 3: Dicke Tränen kullern die Wange runter

Giovanni Verga, Storia di una capinera

Storia di una capinera ist ein Briefroman, der aus den Schreiben von Maria an ihre beste Freundin besteht. Maria wurde nach dem Tod ihrer Mutter als 7-Jährige aufgrund ökonomischer Schwierigkeiten ihres erneut verheirateten Vaters in ein Kloster geschickt, in dem Nonnen in Klausur leben. Der Roman setzt an, wenn die 19-jährige angehende Nonne wegen des Ausbruchs einer Choleraepidemie 1854-55 in Catania (Sizilien) eine Zeit lang aufs Land zu ihrer Familie zurückziehen darf. Ihre sprühende Lebensfreude einerseits und die Bemühung, ihrem Fatum zu folgen, andererseits lösen unüberwindbare Konflikte aus.


SPOILER-ANFANG!


Selten glaubwürdiger als in diesem Roman fand ich die von einem Mann verfasste Frauenperspektive. Maria ist eine junge, lebendige Frau, die sich ihrem Schicksal zu fügen versucht, die trotz ihres inneren Widerstands und ihrer Lebenslust aufrichtig versucht, sich gänzlich Gott hinzugeben, und dabei nach und nach eingeht. Sie sehnt sich zum einen unsäglich nach Leben und Liebe, zum anderen gibt sie alles, um sich ihr Schicksal zu wünschen. Doch ihr innerer Kutscher ist nicht so erfahren und willentlich wie der von Fra‘ Cristoforo, weil die Entscheidungen über ihr Leben nicht von ihr selbst getroffen worden sind, sodass innere Konflikte und äußere Umstände letztendlich ihren Tribut fordern.


SPOILER-ENDE


Platz 2: Ich brauche dringend Taschentücher

Ab und zu lese ich sehr gerne Jugendliteratur oder YA (Young Adults), wie man heutzutage zu sagen pflegt. The Lunar Chronicles ist eine dystopische YA-Serie aus vier Romanen und einigen ergänzenden Erzählungen; die Romane sind retellings, Nacherzählungen von Grimmschen Märchen:

Marissa Meyer, The Lunar Chronicles
  • Cinder (Aschenputtel)
  • Scarlet (Rotkäppchen)
  • Cress (Rapunzel)
  • Winter (Schneewittchen)

Menschen, diskriminierte Androide, Mondbewohner mit furchterregenden Kräften; das Schicksal der Welt hängt von einem Mädchen ab; Abenteuer; erste und ewige Liebe. Ein Träumchen!

Nach Orwell, Manzoni und Verga tue ich mir schwer, diese Serie zu loben, aber gemessen an ihrem Genre ist sie wirklich gut. Die Art, wie aus den Märchen Inspiration geholt wird, ist originell, der Plot ist spannend, die Charaktere zahlreich und unterschiedlich und die Romane bauen schön aufeinander auf, sodass die Welt allmählich komplexer und interessanter wird.

Die Serie aus 4 Romanen wurde um ein paar Erzählungen erweitert, von denen The Queen’s Army mir zur tränenfeuchten Lektüre wurde.


SPOILER-ANFANG!


Die böse Mondkönigin bereitet eine animalisch rücksichtslose Armee aus Werwölfen. Dafür werden Jungen ihren Familien entrissen, damit sie in Rudeln gehalten trainieren und gegeneinander für den Platz des Alphamännchens kämpfen, während ihre DNA mit schmerzhaften medizinischen Eingriffen der von Wölfen angepasst wird. Sie verlieren in verschiedenen Schritten ihre Menschlichkeit, vergessen sich selbst und ihre Lieben und werden zu blutigen Mördern. Ich bin definitiv zu pimpelig für so etwas.


SPOILER-ENDE


Platz 1: Man hört mich von nebenan heulen

Thomas Mann, Buddenbrooks

In meinen Augen – aber ich bin mit dieser Meinung in zahlreicher und guter Gesellschaft – sind die Buddenbrooks der beste Roman der Welt. Bei diesem „Verfall einer Familie“ verfolgt der Leser vier Generationen einer wohlhabenden und stolzen Lübecker Handelsfamilie und erfährt dabei viel über die patriarchalische Familienstruktur, die teilweise widersprüchlichen Aspirationen der zahlreichen Verwandten, ihre Schicksale, ihre Tischmanieren, das Essen, das bei verschiedenen Angelegenheiten serviert wird, die Möblierung ihrer Häuser, die gehörte und gespielte Musik, die Sprache von Bediensteten und Hafenarbeitern und und und. Unter den unzähligen, meisterhaft dargestellten Charakteren erinnere ich mich besonders gerne an die schlaue, unterbewertete Tony Buddenbrook zurück, die mit ihrer „majestätischen Würde“ vielleicht sogar das nötige Gemüt und Gespür gehabt hätte, das Schicksal der Familie umzukehren, wenn sie nur das richtige Geschlecht gehabt hätte; außerdem an Sesemi Weichbrodt, deren wiederkehrender Wunsch „Sei glöcklich, du gutes Kend!“ lustigerweise zum schlechten Omen wird, und an den groben Permaneder, dessen Auftritt im richtigen Moment die Narration wieder auflockert.

Noch mehr als in anderen Romanen spielt Thomas Mann in den Buddenbrooks mit wiederkehrenden Motiven und Sprüchen. Immer wieder, wenn sich die Epitheta der Charaktere wiederholten, musste ich an die homerischen Epen, vor allem an die Ilias denken. Einzigartig ist ebenfalls das Codeswitching zwischen Hoch- und Niederdeutsch, Fachjargons, Fremdsprachen und weiteren Dialekten. In jedweder Hinsicht ein Meisterwerk!


SPOILER-ANFANG!


Hanno Buddenbrook ist von klein auf ein zerbrechliches Persönchen: Seine Gesundheit ist immer instabil, sein Temperament trotz der väterlichen Bestimmung, das Familienunternehmen an ihn weiterzugeben, nicht durchsetzungsstark, seine bescheidenen Bemühungen in der Schule dermaßen erfolglos, dass sein „Avancement“ in die nächste Klasse ein Ding der Unmöglichkeit wird. Von Ängsten und Albträumen geplagt, nur Theater und Musik lassen sein Herz aufgehen. Die wacklige Gesundheit und das empfindliche Gemüt des künstlerisch veranlagten Hanno können ihn nicht zum selbstbewussten Kaufmann, den sich der pflichtbewusste Vater Thomas als Nachkommen wünscht, und er bleibt ein Außenseiter. Die wonnige Freundschaft, die ihn mit Kai Graf Mölln verbindet, versüßt ihm sein kurzes Leben.

Nach einer demütigenden Zeit in der Schule begleitet der Leser Hanno ein letztes Mal an den Flügel, „bis endlich, endlich in Ermattung nach allen Ausschweifungen ein langes, leises Arpeggio in moll hinrieselte, um einen Ton emporstieg, sich in dur auflöste und mit einem wehmütigen Zögern erstarb“.

Beim schüchternen Anfang des folgenden Kapitels – „Mit dem Typhus ist es folgendermaßen bestellt.“ – war’s um mich geschehen.


SPOILER-ENDE


Übrigens: Wer die Buddenbrooks gelesen hat und nicht genug bekommen kann von multigenerationellen Romanen von Familien mit großer Vergangenheit, die viel von sich halten und mit den sich ändernden Umständen nicht klar kommen, lese I viceré di Federico Di Roberto für eine sizilianische Version.


All die 4 Romane und die eine Serie, von denen ich heute geschrieben habe, würde ich wärmstens weiterempfehlen.

Und Sie? Welche Lektüre hat Sie zu Tränen gerührt?

Jeden Sonntag erscheint ein neuer Artikel auf der Webseite. Bis der nächste herauskommt, könnten Sie auch diese interessieren:




Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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