Denkt man sich etwas aus, kann man selbst bei den schlauesten Überlegungen meist davon ausgehen, dass jemand anders Ähnliches oder Besseres bereits in zutreffenderen Worten gefasst hat, als man es selbst jemals könnte. Gerade diejenigen, die wie ich rückblickend sich gerne älterer Literatur widmen, um über die Gegenwart zu urteilen und die Zukunft zu gestalten, kennen dieses Gefühl vermutlich sehr gut.

Finde ich bei einem wichtigen Denker, zwar viel schöner und treffender formuliert, dennoch meine eigenen Überlegungen wieder, schwankt mein Gemüt zwischen Befangenheit vor den Grenzen des Intellekts und Stolz auf die Übereinstimmung meiner und eines Großen Gedankengänge. Dass Beides von einem gewissen Übermut zeugt, wird weder verschwiegen werden müssen noch dem Goethe-Zitat, das ich heute anbringen möchte, etwas von seiner Wahrheit und Nützlichkeit absprechen können.

Heute sprechen wir über Goethes Tipps im Umgang mit der Originallektüre.

In einem Brief von 1774 an seine Mutter kommt Goethe darauf zu sprechen, wie er seine Griechischkenntnisse vertieft habe und wie man am besten mit zweisprachigen Ausgaben umgehe:

Hier ein kurzes Rezipe für des werthen Bar. v. Hohenfelds Griechisches Studium! „So Du einen Homer hast ist’s gut, hast Du keinen kauffe Dir den Ernestischen da die Clärckische wörtliche Uebersezzung beygefügt ist; sodann verschaffe Dir Schaufelbergs Clavem Homericam, und ein Spiel weisse Karten. Hast Du dies beysammen so fang an zu lesen die Ilias, achte nicht auf Accente, sondern lies wie die Melodey des Hexameters dahinfliest und es Dir schön klinge in der Seele. Verstehst Du’s; so ist alles gethan, so Du’s aber nicht verstehst, sieh die Uebersezzung an, lies die Uebersezzung, und das Original, und das Original und die Uebersezzung, etwa ein zwanzig dreisig Verse, biss Dir ein Licht aufgeht über Construcktion, die im Homer reinste Bilderstellung ist. Sodann ergreiffe Deinen Clavem wo Du wirst Zeile vor Zeile die Worte analisirt finden, das Praesens und den Nominativum, schreibe sodann auf die Karten, steck sie in Dein Souvernir, und lerne daran zu Hause und auf dem Feld, wie einer beten mögt, dem das Herz ganz nach Gott hing. Und so immer ein dreisig Verse nach dem andern, und hast Du zwey drey Bücher so durchgearbeitet, versprech ich Dir, stehst Du frisch und franck vor Deinem Homer, und verstehst ihn ohne Uebersezzung Schaufelder und Karten.« Probatum est!

Im Ernst liebe Mama, warum das alles so und so, und just Karten seyn müssen. Nicht untersucht ruft der Artzt! Warum muss das eben Nesseltuch seyn worin das Huhn gestopft wird. Sagen Sie dem hochwürdigen Schüler zum Troste, Homer sey der leichteste Griechische Autor, den man aber aus sich selbst verstehen lernen muss.

www.zeno.org/Literatur/M/Goethe,+Johann+Wolfgang/Briefe/1774

Was lernen wir daraus? Was können wir für unsere eigenen Lehr-/Lernversuche der alten Sprachen festhalten?

1. Es geht um Texte

Obwohl es eine Selbstverständlichkeit erscheinen mag, möchte ich aus gegebenem Anlass betonen – in manchen Lehrbüchern und in vielen Lateinstunden sind nämlich die Lateinanteile dermaßen geschrumpft, dass man an den einfachsten Prinzipien zweifeln darf –, dass es bei der Lektüre immer um Texte geht. Nicht um einzelne Sätzchen, sondern um Texte. In dieser Hinsicht ist das Übersetzen beim Ingangsetzen eines hermeneutischen Zirkels leider eher hinderlich, da das Augenmerk dadurch naturgemäß phrastisch ausgerichtet ist. Ein Lösungsansatz der altsprachlichen Fachdidaktik stellen transphrastische Texterschließungsmethoden, die dem Leser helfen, trotz lückenhafter Sprachkenntnisse eine ganze Passage in den Blick zu nehmen. Goethe spricht im Bezug auf die Homerlektüre von 20-30 Versen – ein für den Anfang vernünftiges Maß.

Lesen Sie auch Livius 5.41: eine transphrastische Textanalyse.

2. Es geht um Lektüre

Goethes Ziel ist die Lektüre. Und wir sprechen heute noch von Orignallektüre und Lektürephase, obwohl das, was in Schulen und Unis passiert – nämlich das mühsame Entziffern jedes einzelnen Wortes eines altsprachlichen Textes und das einem Ratespiel oder Rätsel ähnelnde Übersetzen in ein halbwegs angemessenes Deutsch –, dem natürlichen Lesen allzu oft weit entfernt bleibt. Ich rate jedem Studierenden der alten Sprachen, sich so oft wie möglich einer „normalen“ Lektüre zu widmen, sprich einer möglichst einsprachigen Lektüre, bei der ein Text von links nach rechts und von oben bis unten rezipiert wird, um seine Hauptbotschaft zu empfangen: ohne zu pendeln, ohne zu konstruieren, ohne Sätze auseinanderzunehmen, ohne sich für jede Winzigkeit aufzuhalten.

Ist man in der Originallektüre noch nicht ganz firm, rät Goethe dazu, eine Passage im Original und ggf. in einer den Strukturen des Originals möglich nahen Übersetzung lesen oder zuerst in Übersetzung, dann im Original. Ich musste beim Lesen schmunzeln, denn genau diesen Tipp habe ich auch mal gegeben.

Wie Sie gewinnbringend mit zweisprachigen Ausgaben umgehen können, lesen Sie in meinem Beitrag: Werde ich jemals Originaltexte mühelos lesen können?

3. Den Autor aus sich selbst verstehen lernen

Wenn wir Sprachen lernen, entwickeln wir nach und nach ein „Gefühl“ für ein neues Sprachsystem: Wir internalisieren nach und nach Laute und Lautkombinationen, Vokabeln, Wortverbindungen und Grammatikregeln einer neuen Sprache und bilden uns ein stets durchs Weiterlernen wachsendes System, eine sogenannte Interimsprache. Damit dies möglich ist, müssen wir Textabschnitte – mündlich wie schriftlich – auch mal ganz rezipieren können. Im Lateinunterricht allgegenwärtige Fragen wie Wo ist das Prädikat? oder Was ist das für ein Kasus? sind dabei oft hinderlich. Es ist gut, auch diese analytischen Methoden zu kennen und wo nötig anwenden zu können, aber sie reichen alleine nicht aus, um sich den Weg zur eigenen Interimsprache bahnen zu können. Dafür muss man die Sprache auch und vor allem zusammenhängend als Text (< texere ‚weben‘, ‚flechten‘) wahrnehmen.

Werke im Original zu lesen, ist außerdem unentbehrlich für das tiefe Verständnis eines Autors. Man muss den Autor „aus sich selbst verstehen lernen“, und nicht erst mittels einer gezwungenermaßen interpretierenden Übersetzung eines dritten Menschen.

Nicht umsonst kritisierte Ugo Foscolo mit einem bitteren Epigramm den ehemaligen Freund Vicenzo Monti, der mit angeblich wackligen Griechischkenntnissen die Ilias unter Verwendung verschiedener Übersetzungen im Italienischen nachdichtete:

Questo è il Monti, poeta e cavaliero,
gran traduttor de‘ traduttor d’Omero.

Ugo Foscolo

Falls Sie Lust auf Ciceros Tusculanae disputationes haben, finden Sie hier lektürebegleitend meine Notizen dazu.

4. Vokabeln im Kontext lernen, und zwar auswendig

Wörter sind nicht bloß alleinstehende Verknüpfungen von Vorstellung und Bedeutung – wie wir alle bei Saussure gelernt haben –, sondern werden zusätzlich in einem komplexen, modular aufgebauten Netz namens mentales Lexikon untereinander gespeichert. Die Module können beispielsweise auf semantischen Relationen, Wortfamilien oder Sachfeldern basieren.

Lesen Sie diesbezüglich auch:
Synonyme, Antonyme & Co.
Fabula, fari, fatum … – eine gesprächige Wortfamilie
Das Sachfeld ‚Lebewesen‘ auf Latein
Wie sagt man ARMUT auf Latein?
INTERFICERE – Dicamus aliter!

Der Ko(n)text ist auch der fruchtbarste Boden, aus dem neue Vokabeln gepflückt werden sollten. Natürlich kann die Semantisierung neuer Vokabeln unterschiedlich erfolgen, aber vor der mnemonischen Arbeit ist es absolut notwendig, dass man den Wörtern im textuellen Kontext begegnet ist. Anders formuliert: Man sollte beim Lernen neuer Vokabeln die syntagmatische Perspektive nie außer Acht lassen. Es geht nicht nur darum, was die Wörter einzeln bedeuten, sondern viel eher darum, wie sie miteinander verknüpft werden. Selbst in den Fällen, in denen man sich auf einzelne Wörter (anstatt Wortverbindungen) beschränkt, sind syntagmatische Aspekte wie Fragen der Valenz von Verben oder Präpositionen unausweichlich.

Der Kontext spielt jedoch auch für die Semantik eine wesentliche Rolle, denn die allermeisten Wörter sind polysem und entfalten in verschiedenen Sätzen unterschiedliche Nuancen. Da Wortentsprechungen in einer anderen Sprache oft nicht in paralleler Weise polysem sind, werden diese verschiedenen Nuancen im Übersetzungsprozess oft notgedrungen aufgedeckt. In der Regel sind die Grenzen zwischen den verschiedenen Bedeutungen eines Wortes fließend: Es gibt ein paar eindeutige Fälle, anhand derer Lexikographe die verschiedenen Bedeutungen festlegen können, aber auch viele Belege, die nicht eindeutig einer einzelnen Bedeutung zugeordnet werden können. Aus diesem Grund ist Übersetzen auch immer interpretieren, weil man oft auch in Fällen monosemieren muss, die im Ausgangstext (vielleicht sogar absichtlich) Doppeldeutigkeiten aufweisen.

Ich kriege immer die Krise, wenn ich in den Glossaren einer Textbuchlektion Bedeutungen „auf Vorrat“ präsentiert bekomme, die überhaupt nicht in den Lektionstexten eingeführt sind. In unserem Lateinbuch an der Schule wird zum Beispiel sehr früh debere eingeführt, das in den Texten mit der Bedeutung ‚müssen‘, ’sollen‘ oder negiert ’nicht dürfen‘ vorkommt. Im Vokabelheft sollte man aber „auf Vorrat“ auch schon mal ’schulden‘ lernen, obwohl das nirgends eine Rolle spielt. Ich verstehe diesen zwanghaften Drang zur Vollständigkeit nicht, die just dem unentbehrlichen Prinzip der didaktischen Reduktion widerspricht. Lernen Sie Vokabelbedeutungen, die Sie im Kontext kennengelernt haben, und erweitern Sie sie nach und nach bei steigender Texterfahrung! Dazu rät doch schließlich auch Goethe.

Goethe empfiehlt Karteikarten, um daran zu lernen, „wie einer beten mögt, dem das Herz ganz nach Gott hing“ oder welche, wie der Italiener sagt, vanno imparate come l’Ave Maria. Der Vorteil von Karteikarten ist, dass man sie mitnehmen kann; ich persönlich bin trotzdem kein großer Freund davon. Ich tapeziere lieber die Wände mit Glossaren und Ausdrücken, die ich auswendig lernen möchte.

Und zu der Frage „Latein – Deutsch oder Deutsch – Latein?“ sage ich nur: Alles, was man selbst sicher anwenden kann, kann bei der Lektüre keine Schwierigkeiten bereiten. Je sicherer die produktive Sprachkompetenz, desto müheloser die Lektüre!

5. Metrik muss man hören

Verse sind zum Hören, Vortragen und Singen da! „Lies wie die Melodey des Hexameters dahinfliest und es Dir schön klinge in der Seele“! Das ist doch mal ein schöner Rat!

Auch in diesem Fall habe ich nichts gegen analytische Verfahren und man muss sicherlich auch Längen und Kürzen theoretisch erkennen und „zählen“ können, aber das Wesentliche ist doch, dass man den Vers hört.

Lesen Sie die Aeneis mit mir!

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Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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