In meiner Zitatensammlung, die ich seit über 20 Jahren pflege, habe ich die Tage folgendes Auszug aus Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre wiederentdeckt. Das hat mich zum Nachdenken angeregt.

Ich konnte anfangs keinen Plan in dieser Erziehung sehn, bis mir mein Arzt zuletzt eröffnete: der Oheim habe sich durch den Abbé überzeugen lassen, daß, wenn man an der Erziehung des Menschen etwas tun wolle, müsse man sehen, wohin seine Neigungen und seine Wünsche gehen; sodann müsse man ihn in die Lage versetzen, jene sobald als möglich zu befriedigen, diese sobald als möglich zu erreichen, damit der Mensch, wenn er sich geirrt habe, früh genug seinen Irrtum gewahr werde, und wenn er das getroffen hat, was zu ihm paßt, desto eifriger daran halte und sich desto emsiger fortbilde.

Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre

„Ich konnte anfangs keinen Plan in dieser Erziehung sehn“

Bildung bezeichnet als Derivat auf -ung sowohl den Prozess als auch das Ergebnis des Bildens. Bilden wiederum hat offensichtlich mit formen und gestalten zu tun. Das heißt, dass Bildung nicht an und für sich oder absolut existieren kann, sondern man wird immer zu etwas gebildet.

Bildung verfolgt immer – ob unverhohlen und programmatisch oder implizit und unbewusst – ein Ziel. Die Bildung zum mündigen Bürger steht etwa in humboldtscher Tradition. Bildung als Befähigung zur Selbsttätigkeit entstammt Montessoris Ansatz „aiutami a fare da solo“.

Welche Bildungsziele jeweils verfolgt werden, ändert sich von Gesellschaft zu Gesellschaft, ändern sich durch die Zeit und weist oft sozial bedingte Unterschiede (ja nach Geschlecht, Sozialklasse, Herkunft usw.) innerhalb ein- und derselben Gesellschaft.

Noch unterschiedlicher und von diesen Zielen ausgehend noch schwieriger auszuwählen sind die konkrete Realisierungen der Bildungsinhalte, was oft zu schwer nachvollziehbaren Entscheidungen seitens der Bildungspolitik führen kann.

Irritationen entstehen jedenfalls, wenn die Betroffenen (wie im Zitat) nicht verstehen, worauf das Ganze hinauswill. Das sehen wir doch so oft auch in unseren Schulen, wo gerade jedes Fach vor unangenehme Legitimierungsfragen gestellt wird. Von allen Seiten ertönt „Wozu eigentlich…?“ und „Ist das zeitgemäß?“ und „Das habe ich nie wieder gebraucht.“

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„Wohin seine Neigungen und seine Wünsche gehen“

Bildung macht vor allem Sinn, wenn sie die Neigungen und Wünsche des einzelnen Menschen berücksichtigt. Was liegt uns? Was wünschen wir? Beide Aspekte bieten Raum zur Indivualisierung des Lernens.

Ich muss zugeben, dass die heutige Gesellschaft nach meinem Geschmack zu viel Wert auf Wünsche und zu wenig auf Neigungen legt. Die Devise lautet ständig You can be anything und, indem wir uns rein nach den eigenen Wünschen orientieren, verlieren wir den Halt dessen, was tatsächlich da ist: unseres ingenium. Was können wir wirklich? Was fällt uns leicht? Wobei vergessen wir die Zeit? In welchen Bereichen haben wir mit unseren gegebenen geistigen, körperlichen und seelischen Neigungen die Chance, exzellent zu werden?

Wünsche zu verfolgen, ohne die tatsächlichen Neigungen zu berücksichtigen, ist gefährlich. Das bildet nur unzufriedene, frustrierte Menschen.

Wann passiert das aber? Warum wollen wir lieber den Wünschen als den Neigungen folgen?

Zum einen haben wir gesellschaftlich gesehen ein Ranking an Jobs, Fähigkeiten und Titel: Ein Zahnarzt hat tendenziell mehr Prestige als ein Tischler, obwohl beide Jobs, soweit ich verstehe, handwerkliches Geschick voraussetzen. Die Versuchung ist groß und verständlich, dass man für soziales Ansehen die Berücksichtigung eigener Grundvoraussetzungen vernachlässigt.

Opificesque omnes in sordida arte versantur.

Cic. off. 1.42.

Zum anderen haben wir bei unseren Wünschen oft eine limitierte Sicht der Tätigkeiten, über die wir nachdenken. Den Wunsch, einen bestimmten Job auszuüben, kann durch Sozialisierung, Social Media, verzerrte Wahrnehmungen oder nicht weiter begründete Assoziationen bewegt sein, wie Grace Lordan im lesenswerten Think BIG klarstellt. Dort machte die Verhaltensforscherin darauf aufmerksam, dass wir uns den stinknormalen Alltag einer Tätigkeit vorstellen sollten, um zu entscheiden, ob sie was für uns ist. Ein Schriftsteller ist demnach beispielsweise nicht bloß jemand, der auf Buchtournees geht oder schlaue Interviews gibt. Primär ist er jemand, der alleine vor einem Rechner hockt und schreibt unabhängig davon, ob die Muse ihm hold zuspricht oder die wohlige Luft des Parnass gerade nicht verlassen möchte. Will ich nicht tagein tagaus die einseitige Gesellschaft meines Computers genießen, ist die Schriftstellerei nicht der richtige Weg für mich.

„Wenn er sich geirrt habe“

In Goethes Zitat geht es auch darum, möglichst früh Neigungen und Wünsche zu entdecken und zu entfalten, um Raum für Fehler zu schaffen. Durch Selbstreflexion wird man dann feststellen können, ob der eingeschlagene Weg der richtige gewesen sei oder nicht.

Ich glaube, dass die heutige Gesellschaft in diesem Punkt sehr eigenartig ist, und kann Zygmunt Baumans Darstellung einer sog. flüssigen Gesellschaft, in der sich alles so schnell ändert und wandelt, dass dem Menschen nötige Anhaltspunkte fehlen, gut nachvollziehen. Es ist nicht nur normal geworden, dass man Kurs ändert und bereit ist, sich neu zu entdecken. Es ist teilweise sogar erforderlich geworden.

The virtue proclaimed to serve the individual’s interest best is not conformity to rules (which at any rate are few and fare between, and often mutually contradictory) but flexibility: a readiness to change tactics and style at short notice, to abandon commitments and loyalties without regret – and to pursue opportunities according to their current availability, rather than following one’s own established preferences

Bauman, Liquid Times. Living in an Age of Uncertainty

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„desto eifriger und desto emsiger“

Der Bildungsweg kann ein schöner, erfüllender und angenehmer werden. Wenn Wünsche berücksichtigt werden, bildet man sich auch zur Erfüllung eigener Vorstellungen. Wenn Neigungen berücksichtigt werden, macht man vorzugsweise Dinge, die einem leichter fallen und worin dopaminausschüttende Erfolgserlebnisse an der Tagesordnung stehen.

Das Unterfangen führt aber nur zum Ziel, wenn man nicht vom Weg abweicht (desto eifriger daran halten). Bei einer Sache zu bleiben, bis sie Früchte getragen hat, fällt uns oft nicht leicht. Die anfängliche Motivation kann noch so groß sein, aber um daran zu halten, muss man eifrig sein.

Außerdem besteht der Prozess der Bildung aus stetiger Fortbildung. Es hört bekanntermaßen nicht auf. Dieser Prozess ist ein lohnenswerter, kommt aber nicht von alleine. Emsiges Arbeiten ist dabei immer gefordert. Wer kennt nicht die Schüler, die in einem Fach kaum etwas tun, weil es ihnen leicht fällt? Die Neigung ist da, aber es fehlt die emsige Fortbildung. Wenn ihnen das, was anderen schwer fällt, ohne zu lernen, mit Links gelingt, welche Wunder könnte eine Förderung auf ihrem Niveau bewirken, bei der etwas Anstrengung nötig wird?

Bildung – wie wohl alles Lohnenswerte – erfordert unsere Anstrengung.


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Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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