Weltanschauung und Bildungsbegriff

Was ist Bildung? Und inwiefern ändert das Zeitalter, in dem man lebt, die jeweiligen Bildungsanforderungen?

Bildung ist ein schwer zu fassendes Wort, für das in der Philosophie wie in der Bildungswissenschaft immer wieder neue Definitionsversuche gestartet werden. In viele Sprachen kann es gar nicht richtig übersetzt werden.

Substantive auf -ung haben die Eigenschaft, dass sie sowohl einen Prozess als auch das Ergebnis besagten Prozesses kennzeichnen. So ist Genehmigung zum einen ‚das Genehmigen‘, zum anderen eine ‚Erklärung, durch die etwas genehmigt wird‘.

Dementsprechend definieren Rekus/Mikhail (2013, 37) Bildung als:

  1. „pädagogischen Prozess […], durch den ein Mensch fähig wird, sein Leben in zunehmender Selbstbestimmung und wachsender Eigenverantwortung zu gestalten (der Menschen bildet sich)“;
  2. „Ergebnis dieses Prozesses […] (der Mensch ist gebildet)“.

Der Bildungsbegriff verweist immer auf die Einheit von Unterricht und Erziehung (als Prozesse der Aneignung und Differenzierung von Wissen bzw. Haltungen), die jedoch nicht zwingend mit einer Institution verbunden sein müssen.

Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung

Pädagogische Prinzipien ändern sich nicht abrupt, sondern meist langsam und manchmal kaum wahrnehmbar wie die Weltanschauung einer Gesellschaft. Tendenzen, den Lernenden in den Vordergrund zu stellen, finden wir schon in Rousseaus Émile ou de l’éducation (1762) und werden etwa mit Piagets (gest. 1980) Phasenmodell kognitiver Entwicklung heute noch konkretisiert.

Das einzelne Individuum steht für die moderne Gesellschaft im Vordergrund. Daraus ergeben sich nicht nur die Notwendigkeit von Differenzierungsmaßnahmen, sondern sogar von Individualisierung von Lernprozessen (Schulgesetz NRW §1). Die Schüleraktivierung und -tätigkeit werden immer mehr betont, weil Lernen als individuelle Konstruktion verstanden wird: Der Paradigmenwechsel vom Glauben an objektive Erkenntnis zum Glauben an epistemologischen Individualismus führt notwendigerweise dazu, dass jeder Lerner aktiver Konstrukteur seiner Erkenntnis wird. Lernerzentrierung und Subjektivierung, aber auch Partizipation und Teamorientierung rücken somit in den Fokus. (Vgl. Reich 2005, 5f., Huwendiek 20147, 55.)

Der Gedanke, dass ein Mensch sein Leben selbstständig und selbstbestimmt gestalten können muss, ist offensichtlich humboldtsches Erbe. Das humboldtsche Bildungsideal setzt voraus, dass ein mündiger Mensch selbständig denken und lernen, sein Leben selbstbestimmt gestalten und seine Identität selbsttätig finden kann. Bildung ist die Voraussetzung dafür. Es wird also die Frage aufgeworfen, was einen Menschen zu dieser Autonomie befähigt.

Wie wird das Abstraktum Bildung im Lernprozess konkretisiert?

Die moderne Pädagogik versucht, Richtlinien zu finden, um schülerorientiert relevante Inhalte festzulegen. Bei Klafki lauten die Prinzipien etwa Gegenwartsbezug (was spricht die aktuelle Lebenswelt der Schüler an?) und Zukunftsbedeutung (was werden die Schüler für die Gestaltung ihres zukünftigen Lebens brauchen?). (Vgl. Klafki 19912, 272).

Wir wollen aber gleichzeitig die Zukunft nicht von vorne herein festlegen, sondern die Schule sollte den Jugendlichen durch ein breites Spektrum von Kenntnissen und Fertigkeiten eine selbstbestimmte Wahl und Freiräume in der Zukunftsgestaltung ermöglichen. Schon für Humboldt war klar: Es reicht nicht, für einen bestimmten Beruf ausgebildet zu werden!

Gesellschaft und Bildungsphilosophie

Schaut man auf die Gesellschaften, in denen Ausbildung das primäre Bildungsziel ist oder war – etwa in der mittelalterlichen, geschlossenen Gesellschaft –, dann ist es klar, was man da brauchte. Von Geburt an war das Schicksal eines jeden Individuums im Einklang mit seinem Stand prädestiniert. Man wusste, was ein jeder Mensch von Beruf werden wird, und musste ihn genau für diesen Beruf fit machen. Lernen war für die meisten Menschen Ausbildung, basiert auf der Lehrer-Lehrling-Interaktion Machen und Nachmachen.

Seitdem wir jedoch in einer, wie Karl Popper sie nennt, offenen Gesellschaft leben, stehen einem Kind potentiell alle Wege offen. Wenn dies nicht der Fall ist, warnen wir vor Ungerechtigkeit oder fehlender Chancengleichheit. Ein Mensch sollte nach unserem Verständnis seinen Weg frei wählen und selbstbestimmt leben können. Dazu ist es notwendig, dass ihm unterschiedliche Themen, Inhalte, Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten beigebracht werden, damit er im erwachsenen oder heranwachsenden Alter tatsächlich eine Entscheidung treffen kann. Die Schule wird somit zu einer künstlichen Verlängerung der Kindheit, sprich der Zeit, in der ein Mensch noch nicht für sich sorgen muss. Den Jugendlichen wird Fürsorge gewährleistet, damit sie die Chance erhalten, das nötige Wissen, die nötigen Fertigkeiten und die nötigen ethischen Haltungen für ihre Lebensgestaltung zu erwerben.

Die Frage, worin dieses Wissen, diese Fertigkeiten und diese Moral bestehen, muss die Pädagogik immer wieder neu beantworten.

Die Antworten, die die Pädagogik einer bestimmten Zeit jeweils zu dieser Frage gibt, sind immer für das jeweilige Zeitalter symptomatisch. Es braucht also nicht zu wundern, dass sich die Bildungswissenschaft in unserer flüssigen Gesellschaft, wie Baumann sie nennt, völlig von Inhalten abgewandt hat.

Warum ist das so?

Heutzutage ändert sich alles sehr schnell. Was gestern angemessen erschien, muss heute schon revidiert werden: Alles steht besteht aus rasant wandelnden Prozessen. Alles, was wir tun, wird dem Ist-es-zeitgemäß?-Test unterzogen und meist lautet die Antwort „Nein“.

a ‚liquid‘ phase of modernity: that is […] a condition in which social forms (structures that limit individual choices, institutions that guard repetitions of routines, patterns of acceptable behaviour) can no longer (and are not expected to) keep their shape for long

Bauman 2007, 1.

In dieser Lage wird vom Individuum nicht mehr Konformität – wie in der geschlossenen Gesellschaft – verlangt. Da aber auch keine Stabilität gegeben ist, wird von ihm lebenslange Flexibilität erwartet. (Vgl. Bauman 2007, 4.)

Das Individuum muss also stets drauf gefasst sein, dass er sich neu erfinden muss. Zeitgemäß wird das genannt. Defacto ist es Unsicherheit. Mit sich dermaßen rasant wandelnden Rahmenbedingungen, dass sie kaum als Rahmen und Leitlinie wahrgenommen werden können, ist die natürliche Reaktion eine Unsicherheit darüber, was den wechselnden Anforderungen standhalten kann.

Häufige Jobwechsel, lebenslanges Lernen, Umgang mit sich ständig ändernden Technologien – ein für die Meisten aus der Generation meiner Oma (Jg. 1922) undenkbarer Zustand – sind für uns ein selbstverständlicher Fakt des Lebens geworden.

Inhalte und Kompetenzen

Deswegen lautet die Antwort der Bildungswissenschaften Kompetenzorientierung. Man kann nicht bloß Inhalte lernen, denn die heute festgelegten Inhalte könnten morgen schon überholt, sprich nicht mehr zeitgemäß sein, sondern man braucht Kompetenzen, die man an beliebigen Inhalten anwenden kann. #flexibility

Der Gedanke, dass sich Bildung von Inhalten loslösen lasse, ist schlichtweg absurd. Natürlich gibt es Kompetenzen, die man aufbaut und die sich auf andere Bereiche übertragen lassen, aber diese können nur im Umgang mit bestimmten Inhalten erworben werden. Außerdem wird durch eine reine Kompetenzorientierung verleumdet, dass es Inhalte gibt, die an und für sich wert sind gelernt zu werden, nicht bloß weil man dadurch übertragbare Kompetenzen erwirbt.

Dass Inhalte nicht beliebig sein dürfen, wird selbst bei verbreiteter Kompetenzorientierung (erfreulicherweise) dadurch konterkariert, dass man auf Exemplarität setzt. Der Inhalt darf doch nicht komplett beliebig sein, sondern muss sich als in irgendeiner Hinsicht relevant und potenziell übertragbar beweisen. Es geht nicht nur um einen Unterrichtsinhalt, sondern immer auch um einen Unterrichtsgehalt.

Am potentiellen Thema müssen sich allgemeinere Zusammenhänge, Beziehungen, Gesetzmäßigkeiten, Strukturen, Widersprüche, Handlungsmöglichkeiten erarbeiten lassen.

Klafki 19912, 275.

Der Unterricht besteht nicht aus Inhalten, sondern abstrahiert aus exemplarischen Inhalten hierarchisch übergeordnete Leitfragen.

Was dabei meines Erachtens oft übersehen wird, ist die Tatsache, dass sich Unterrichtsinhalt und Unterrichtsgehalt in manchen Fällen überlappen können. Anders formuliert: Es gibt Inhalte, die man braucht, um als gebildeter Mensch in der Gesellschaft klar kommen und am kulturellen Leben teilhaben zu können.

Der Kanon

Eine Stimme, die sich zur Verteidigung eines notwendigen Kanons erhoben hat, mit der ich mich sehr gut identifizieren kann, ist die von Manfred Fuhrmann. In seinem Buch Bildung. Europas kulturelle Identität definiert der Altphilologe Bildung als „die Form […], in der die Individuen an der Kultur teilhaben“ (Fuhrmann 2002, 36), und vertritt die Ansicht, dass sich die Inhalte, die man in westlichen Kulturen hierzu zwingend braucht, vorwiegend auf zwei Säulen basieren: dem humanistischen Kanon und dem christlichen Kanon.

Was bedeutet das konkret?

Das bedeutet beispielsweise, dass man in den allermeisten westlichen Museen nichts verstehen wird, wenn man Ovids Metamorphosen oder Episoden aus der Bibel nicht kennt, oder dass man die Großen der abendländischen Literatur nicht genießen kann, wenn man berühmte antike Vorbilder nicht gelesen hat. Kurzum: Die Wirkungsgeschichte von Antike und Christentum ist für die gesamte europäische, ja abendländische Kultur – Kunst wie Wissenschaft – dermaßen prägend, dass man ohne ihre Kenntnis nicht als gebildet im obigen Sinne gelten kann.

Oft wird das Gymnasium dafür kritisiert, dass es nicht aufs Leben vorbereite. In einer flüssigen Gesellschaft fehlt der nötige Halt, und den sucht man verständlicherweise im geschützten Ort der Schule in Form von konkret brauchbaren Skills wieder zu etablieren. „Warum soll man überhaupt XYZ lernen? Warum Latein? Warum ausgerechnet Französisch und nicht Spanisch? Warum Philosophie? Warum Grammatik?“ Wir stellen in den ewigen Diskussionen um die Fachlegitimierung den Wunsch einer Rückkehr zur Ausbildung statt Bildung fest.

Doch der vornehmste Zweck des europäischen gelehrten Unterrichts hat bis zum 19. Jahrhundert nicht darin bestanden, die Lernenden für irgendwelche Berufe zu rüsten, sondern darin, ihnen eine geistige Orientierung angedeihen zu lassen […].

Fuhrmann 2002, 12.

Ein Wort zum Fach Latein

Das ist einer der Gründe, weswegen ich Lateinlehrerin sein will. Im Fach Latein beschäftigt man sich mit Inhalten, die bewiesenermaßen dem Lauf und den Veränderungen der Zeit standhalten. Es geht darum, die Werke kennen zu lernen, die unsere gesamte abendländische Kulturgeschichte und Wissenschaft beeinflusst haben. Es geht darum, sich dabei moralische Fragen zu stellen und Werte auszubauen, die man im Leben allgemein, bei jeder Aktivität und Beziehung berücksichtigen sollte. Es geht um anthropologisch wesentliche Fragen und Inhalte, die über Jahrtausende alle europäischen Gelehrten beschäftigt haben. Kurzum: Es geht darum, die Werte und Werke kennenzulernen, die für den gebildeten Menschen nötig sind.

Die Tatsache, dass die lateinische Sprache ausschließlich schriftlich überliefert ist, macht sie darüber hinaus zum geeignetsten Gegenstand, um die bildungssprachlichen Kompetenzen junger Menschen in der Schule auszubauen. Deswegen ist Latein traditionell auch das Fach der Sprachreflexion und Sprachbildung schlechthin.


Das Paradoxon unseres Zeitalters

Ich bin immer wieder darüber erstaunt, wie widersprüchlich die Anforderungen, die die Gesellschaft an die Schule stellt, sein können. Einerseits werden Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit gefordert – im Lernprozess wie in der Lebensgestaltung. Andererseits vermisst man konkrete Skills für den Beruf, ohne jedoch dass dieser Beruf von vorne herein festgelegt sein dürfe, denn das sollte jedes Individuum selbst wählen können. Die Frage steht noch offen: Wollen wir Bildung oder Ausbildung?

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Bibliographie

  • Baumann, Zygmunt (2007): Liquid Times. Living in an Age of Uncertainty. Cambridge: Polity.
  • Fuhrmann, Manfred (2002): Bildung. Europas kulturelle Identität. Stuttgart: Reclam.
  • Huwendiek, Volker (20147): Didaktische Modelle. In: Bovet, Gislinde / Huwendiek, Volker (Hgg.): Leitfaden Schulpraxis. Pädagogik und Psychologie für den Lehrerberuf. Berlin: Cornelsen.
  • Klafki, Wolfgang (19912): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik. Weinheim/Basel: Beltz.
  • Reich, Kersten (2005): Konstruktivistische Didaktik. Beispiele für eine veränderte Unterrichtspraxis. In: Schulmagazin 3/2005, 5–10.
  • Rekus, Jürgen / Mikhail, Thomas (Hgg.) (20134): Neues schulpädagogisches Wörterbuch. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
  • Schulgesetz NRW.

Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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