Jeder, der schon mal vom Deutschen ins Lateinische übersetzen durfte, kennt das: Man hat ein scheinbar einfaches Wort, wie Armut, das man auf Latein wiedergeben will, es fallen einem mehrere Möglichkeiten ein oder man findet mehrere Möglichkeiten im Wörterbuch – wie inopia, paupertas, egestas … – und es stellt sich die Frage: Wie wähle ich nun aus?! Sind sie alle gleichwertig oder bloß Teilsynonyme?

Georges‘ Kleines deutsch-lateinisches Wörterbuch hat gute Erklärungen. Der neue Menge bietet bei Adverbien eine sehr gute Hilfe. Ich empfehle unbedingt die §§ 152-187 Übersetzung deutscher Adverbien durch lateinische Adverbien, um allmählich, noch, nun usw. kontextangemessen übersetzen zu können.

Heute gehe ich auf Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten für dt. Armut ein.

Propriē – im eigentlichen Sinne

Das Substantiv Armut kann im Deutschen einen unterschiedlichen Grad des Mangels ausdrücken, denn es kann zum einen ‚Mittellosigkeit‘, zum anderen ‚Kargheit‘ bedeuten.

Meint man Ersteres, also eine tiefe ‚Mittelosigkeit‘, bei der dem Menschen das zum Leben Notwendige fehlt, sagt man auf Latein inopia. Als Teilsynonym von inopia existiert egestās: Wegen der inopia ‚Mittellosigkeit‘ verfällt man in egestās ‚Armut‘, ‚Elend‘. Egestās und inopia sind von der Intensität her also der höchste Grad an Armut. In vielen Kontexten kann man Armut als ‚Mittellosigkeit‘ mit einem beliebigen der zwei Substantive übersetzen. Muss man jedoch zwischen Ursache und Effekt unterscheiden, so ist inopia die Ursache und egestās die Konsequenz (vgl. Forcellini):

Si propter inopiam in egestate estis, pecuniam non habetis.

Cic. inv. 1.88.

Dem inops bleibt oft nichts anders als Betteln übrig: Er verfällt also in medīcitās ‚Bettelarmut‘.

Ein weiteres Wort, das semantisch inopia nah, jedoch in der deutsch-lateinischen Übersetzung mit Vorsicht zu genießen ist, ist indigentia ‚Bedürfnis‘, ‚Not‘, ‚Armut‘. Zum einen ist indigentia deutlich weniger oft belegt als inopia und egestās, zum anderen wird es meistens mit der Bedeutung ‚Ungenügsamkeit‘ und ‚Habsucht‘ verwendet.

Nicht jeder Arme ist völlig inops. Man kann ja arm auch bezüglich eines Menschen sagen, der einfach nur ’nicht reich‘ ist, also nicht in Übermaß Geld und andere Mittel besitzt, dem jedoch ein zwar bescheidenes, aber würdiges Leben nicht verwehrt bleibt. In diesem Fall sagt man paupertās. Ein pauper hat genug, nur nicht viel davon:

Paupertas enim est non quae pauca possidet, sed quae multa non possidet.

Sen. ep. 87.

Aufgrund dieses ganz zentralen Unterschieds werden Adjektive wie indīgna oder tacita nur mit egestās verbunden, nicht mit paupertās!

Ferner kann man Armut als ‚Mangel‘ an etwas, insbesondere in Bezug auf Lebensmittel, Vorräte u.ä., mit pēnūria übersetzen: pēnūria cibī, pēnūria frūmentī usw.

Gerät man aus Armut in die Klemme, spricht man im Lateinischen oft von angustiae (meist als Plurale tantum): in angustiās incidere. Angustiae kann zwar auf diese Weise absolut verwendet werden, wird aber – gerade in der Bedeutung ‚Armut‘, ‚Mangel‘ – gerne mit einem Genitivus obiectivus verbunden: angustiae pecūniae, angustiae reī familiāris, angustiae aerāriī u.ä.

Auch tenuitās kann neben ‚Dünnheit‘ auch ‚Armut‘, ‚Dürftigkeit‘ bedeuten: tenuitās aerāriī z.B.

Weiter möchte ich auf das Substantiv necessitās kurz eingehen, das u.a. ‚Notlage‘, ‚Notdurft‘ bedeuten kann. Ich persönlich neigte zu Studienzeiten dazu, necessitās in zu vielen Kontexten zu verwenden, vielleicht verleitet von Ausdrücken wie frz. être dans la nécessité. Necessitās heißt vor allem ‚Unvermeidlichkeit‘, ‚Notwendigkeit‘, ‚Unabänderlichkeit‘; nur seltener kennzeichnet es ‚Notlage‘ und ‚dringende Bedürfnisse‘, dann gerne im Plural necessitātēs.

Schließlich kann dt. Armut in manchen Kontexten auch nur eine ‚geringe Anzahl‘ bedeutet, wie in Armut an Mitgliedern. Das ist auf Latein paucitās. Das, was in einer geringen Anzahl vorhanden ist, steht im Genitiv, z.B. paucitās hostium, paucitās suōrum.

Als Kollektivum

Die Armut kann man im Deutschen auch metonymisch für ‚die armen Leute‘ sagen. In diesem Fall darf man sich im Lateinischen nicht der oberen Übersetzungsmöglichkeiten bedienen, sondern man muss auf ein substantiviertes Adjektiv zurückgreifen. Welches unter den folgenden das passende ist, hängt von den oben erläuterten Unterschieden zwischen den entsprechenden Substantiven ab:

  • inopēs ‚die Armen‘, ‚die Mittellosen‘
  • egentēs ‚die Armen‘, ‚die Mittellosen‘
  • mendīcī ‚die Bettelarmen‘
  • pauperēs ‚die Armen‘
  • tenuiōrēs ‚Leute niederen Standes‘; vgl. auch tenuī locō nātus

Trānslātē – im übertragenen Sinne

Armut hat im Deutschen nicht nur eine eigentliche Bedeutung, sondern kann auch übertragen im Sinne von ‚Kargheit‘ verwendet werden. Erfreulicherweise können die meisten oben genannten lateinischen Substantive auf ähnliche Weise metaphorisch gebraucht werden.

Wortarmut

Wortarmut oder Wortkargheit ist verbōrum paupertās oder (schlimmer) verbōrum egestās:

Quanta verborum nobis paupertas, immo egestas sit, numquam magis quam hodierno die intellexi.

Sen. ep. 58.

Wortkargheit während einer Unterhaltung ist inopia sermōnis; auch die allgemeine Gedankenarmut eines Redners ist inopia:

Sed cavenda est presso illi oratori inopia et ieiunitas. (↔︎ cōpia et ūbertās)

Cic. Brut. 202.

Geistige Armut

Um eine innere, geistige Armut zu kennzeichnen, haben wir im Lateinischen verschiedene Ausdrücke zur Verfügung, u.a.:

  • angustiae animī
  • animus pusillus
  • angustiae pectoris ‚Engherzigkeit‘
  • pusillanimitās (nachklassisch)
  • egestās ratiōnis ‚Unvernunft‘

Best of Phraseologie

Die deutsch-lateinische Übersetzung geht nicht ohne fundierte phraseologische Kenntnisse. Hier sind daher ein paar Wendungen, die mit Armut zu tun haben:

aliquem ad inopiam redigerejemanden in die Armut treiben
aliquem ad summam inopiam redigerejemanden an den Bettelstab bringen
aliquem in summās angustiās compellerejemanden in Bedrängnis bringen
in egestāte esse / versārīin Armut leben
in paupertāte vīverein Armut leben
vītam in egestāte dēgereein Leben in Armut führen
vītam inopem persequī / colereein kümmerliches Leben fristen
ad pudendam inopiam dēlābīin schmähliche Armut herabsinken
paupertās mordetArmut drückt / schmerzt
inopiā premīdie Armut zu fühlen bekommen
in angustiās inciderein die Klemme geraten / in Schwierigkeiten geraten
māgna / summa inopiatiefe / bittere Armut
tacita egestāsverhüllte / verschämte Armut
in angustiīs essein (tausend) Nöten sein
in angustiās addūcerein Schwierigkeit bringen
māgnā in necessitāte esseschweren Bedrängnissen ausgesetzt sein
paupertātem suam obscūrē ferreseine Armut geheim halten
ex mendīcitāte ēmergeresich aus größter Armut befreien
inopiam sublevāre / inopiae medēdie Armut lindern
aliquem inopiā levārejemanden aus der Armut befreien
inopiam tūtārīdie Armut abwehren
inopiam aequo animō ferre ac tolerāredie Armut gelassenen Gemüts ertragen

Verwendete Lexika

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Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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