Deutsch-lateinische Übersetzungen, Repetitorien, Stilübungen… wie auch immer man sie nennt, der Kern bleibt gleich: Sie sind schwer, man muss viel üben und die Auswahl an Materialien zum Selbststudium ist beschränkt.

In dieser Serie stelle ich Ihnen nach und nach alles zur Verfügung, was mir im Rahmen des Studiums und darüber hinaus in Bezug auf die deutsch-lateinische Übersetzung weitergeholfen hat.

Heute geht es um 10 Schritte beim Korrekturlesen, die Ihren lateinischen Text fehlerfrei machen.

Selbstkorrektur durch mehrschichtiges Lesen

Nehmen wir an, Sie sitzen in der Klausur und haben den deutschen Text vernünftig ins Lateinische übersetzen können. Was machen Sie nun, um all die kleinen Fehlerchen zu korrigieren, die sich womöglich in Ihren Text eingeschlichen haben?

Eine Übersetzung zu überprüfen, ist immer am günstigsten, wenn man sich vom eigenen Text etwas distanziert hat, also ein paar Tage nachdem man den Text verfasst hat. Leider ist dies in der Klausursituation nicht möglich. Aber erfreulicherweise können wir uns Techniken aneignen, um eine gezielte Selbstkorrektur erfolgreich vornehmen zu können.

Ich nenne diese Technik die Methode des mehrschichtigen Lesens.

Sie besteht darin, den Text mehrfach – nämlich am besten 10mal! – zu lesen, jedoch nicht als Fließtext, sondern indem man sich selektiv jeweils auf einen bestimmten Aspekt, eine Textschicht also, konzentriert:

1) Die Schicht der häufigen Fehler

Wenn Sie in der Klausur sitzen, haben Sie schon ein Semester lang fleißig geübt und können auf einen ziemlich großen Pool an Texten und auch an Fehlern zurückgreifen. Merken Sie sich bei der Nachbereitung der Texte während des Semesters immer, was für Fehler Ihnen wiederholt unterlaufen. Das kann alles Mögliche sein, z. B.:

  • Verwechseln Sie gerne tamen und tandem?
  • Übersehen Sie immer wieder mal ein Plusquamperfekt?
  • Machen Sie häufig Kasusfehler bei Relativpronomina?

Full disclosure: Das waren ein paar von meinen häufig rekurrierenden Fehlern. Merken Sie sich, welche Fehler Sie wiederholt machen, und achten in der Klausur ganz gezielt darauf.

2) Die Schicht der Rückübersetzung

Eine Methode, die viele anwenden, um ihren lateinischen Text zu korrigieren, ist die Rückübersetzung. Indem Sie Ihren lateinischen Text zurück ins Deutsche übersetzen, könnte Ihnen der eine oder andere Fehler leichter auffallen, als wenn Sie ihren lateinischen Text nur läsen.

Ich persönlich wende diese Methode nicht allzu oft an, aber sie hat mir insbesondere geholfen, um falsche Ablativi absoluti auffindbar zu machen. Es ist mir nämlich immer wieder passiert, dass ich einen Ablativus absolutus mit dem PPP von einem intransitiven Verb gebaut habe, à la die advento, um nachdem der Tag gekommen war zu übertragen. Tja, wenn man rückübersetzt und nachdem der Tag gekommen worden war hört, bemerkt man hoffentlich den Griff ins Klo.

3) Die Schicht der Vollständigkeit

Schlicht und einfach: Haben Sie alle Wörter übersetzt? Gehen Sie am besten Wort für Wort Ihren Text und den deutschen Text durch und schauen Sie nach, dass Sie auch wirklich alles mit übersetzt haben, denn Auslassung sind völlig verschenkte und ärgerliche Fehler.

On the bright side: Auslassungsfehler sind für den Dozenten die allerschwierigsten zu entdecken, und man kann das Glück haben, dass er einen nicht bemerkt. (Natürlich gibt es auch Korrekturtechniken, um Auslassungsfehler leichter zu finden, aber die verraten wir hier nicht! 😉)

4) Die Schicht der Rechtschreibung

Die nächste Lektüre betrifft die Orthographie und die Flexionsmorphologie: Haben Sie alle Wörter richtig geschrieben? Unter den orthographischen Merkmale kann man z. B. achten auf:

  • Großschreibung von Herkunftsadjektiven (Romanus, Italicus …),
  • Rechtschreibung griechischstämmiger Wörter, etwa mit rh am Wortanfang für ῥ, th für θ, t für τ usw.,
  • Kommasetzung zwischen über- und untergeordneten Sätzen,
  • kein Komma bei AcI und Abl. abs.;
  • Wortähnlichkeit,

Dass ich aus einer dea venusta mal eine dea vetusta gemacht habe, fand die Dozentin zwar lustig, aber Sympathiepunkte gab es leider keine.

In dieser Phase kann man auch kontrollieren, ob die Wortformen morphologisch korrekt gebildet wurden. Ich habe es z. B. systematisch geschafft, das i beim Imperfekt der gemischten Konjugation (faciebam) zu vergessen oder die u-Deklination bei magistratus zu vergessen. Upsi!

Gegen solche Fehler ist es am besten, Wort für Wort von unten nach oben vorzugehen. Fangen Sie am Ende des Textes an und hangeln Sie sich rückwärts durch, werden Sie weniger durch den Inhalt abgelenkt und können sich auf die einzelnen Wortformen konzentrieren.

5) Die Schicht des Kasus

Die nächsten sechs Schritte haben es mit Morphosyntax zu tun. Wir fangen mit den deklinierbaren Wörtern – Substantiven, Pronomina, Adjektiven, Partizipien, Gerundiva – an und schauen, ob die Kasus stimmen. Warum hat man sich für einen bestimmten Kasus entschieden? Wurde er etwa von einer Präposition oder einem Verb gefordert? Haben wir den richtigen gewählt (z. B. parcere + Dat., adiuvare + Akk.)? Sind Substantiv und dazugehörige Adjktive oder Pronomina kongruent?

Ein besonders fehleranfälliger Kasus scheint mir der Ablativ zu sein, denn damit ist die transzendentale Frage verknüpft: bloßer Ablativ oder mit in? Außerdem ist cum + Abl. statt bloßen instrumentalen Ablativs auch ein rekurrierender Fehler.

Bei Pronomina lohnt es sich in dieser Phase auch, die Reflexivität zu überprüfen: se oder eum, suus oder eius?

6) Die Schicht des Numerus und Genus

Numerus und Genus von deklinierbaren Wörtern sind nicht superduperfehleranfällig, finde ich, aber es lohnt sich ein Auge darauf zu werfen, dass auch alles stimmt. Mir ist neulich in einem von einem Lateinprofessor verfassten Buch ein tanta amore aufgefallen, nur um zu sagen: Solche blöden Fehler können wirklich jedem passieren.

Nicht einmal Italiener sind geschont: Sie müssen nämlich immer auf Wörter wie rete – ein lateinisches Neutrum, aber italienisches Femininum – oder das maskuline fons, das im Italienischen la fonte heißt, aufpassen.

7) Die Schicht von Person und Numerus

Wir machen nun mit Verben weiter. Person und Numerus sind nicht so fies. Das einzige Problem, das ich damit hatte, war, dass man doch meistens Texte in der 3. P. Sg. hat und, wenn es darum geht, andere Personen zu übersetzen, man sich daher schneller vertut. Daher die Fragen: Haben Sie bei 2. P. Sg. auch wirklich ein -s oder -isti genommen? u. ä.

8) Die Schicht der Modi

Wurden die Modi richtig gewählt? Schauen Sie noch einmal auf alle Subjunktionen: Haben Sie nach z. B. nach kausalem cum oder finalem ut auch Konjunktiv genommen? Haben Sie etwa nach zusammengesetzten Relativpronomina wie quisquis Indikativ benutzt?

9) Die Schicht der Tempora

Sie haben es fast geschafft! Bleiben Sie dran, denn jetzt kommt eine der allerwichtigsten Schichten: das Tempus. Die Überprüfung der Tempora ist komplex, denn es geht um drei Ebenen:

  1. Haben Sie funktional und aspektisch gesehen das richtige Tempus gewählt? Imperfekt oder Perfekt? Futur, wo man im Deutschen auch im Präsens arbeiten kann? …
  2. Stimmen die Zeitverhältnisse von AcI und Partizipialkonstruktionen? Außerdem muss man sich merken, dass man bei quin-Sätzen auch die Nachzeitigkeit mit coniugatio periphrastica ausdrückt, und solche Scherzchen.
  3. Der dritte große Block ist die consecutio temporum in indikativischen bzw. konjunktivischen Nebensätzen.

10) Die Schicht der Diathese

Die letzte Lektüre betrifft das Genus verbi, insbesondere das Passiv. Am bereits erwähnten Beispiel die advento sieht man schon, worauf zu achten ist: Sind die gewählten Passivkonstruktionen zulässig? Gibt es die PPPs oder die Gerundiva, die man benutzt hat, auch wirklich wirklich?


Das waren zehn Schritte, um den eigenen lateinischen Text nach der Klausur noch einmal unter die Lupe nehmen und alle kleinen wie größeren Fehler zu entdecken. Die Texte sind in der Regel nicht lang und jede Schicht nahm bei mir in der Umsetzung bei (Probe-)Klausuren durchschnittlich 1 Minute in Anspruch. Die Übersetzung zehnmal Korrektur zu lesen, hört sich so ausgeführt nach irre viel an, heißt aber de facto nichts anderes, als sich 10 bis 15 Minuten zu nehmen, um die eigenen Arbeit zu überprüfen.

Meiner Erfahrung und Beobachtung nach sehen die deutsch-lateinischen Übersetzungsklausuren keine langen Texte vor, sodass ein ausführliches Korrekturlesen am Ende durchaus umsetzbar ist. (Wenn Sie andere Erfahrungen gemacht haben, schreiben Sie es gerne in die Kommentare; es würde mich sehr interessieren.)

Trotzdem: Wenn die Zeit knapper wird und man sich für ein paar der Schichten entscheiden muss, welche sind die wichtigsten? Wer 1) häufige Fehler, 5) Kasus, 8) Modus, 9) Tempus überspringt, spielt meiner Meinung nach mit dem Feuer. Darauf würde ich niemals verzichten!

Haben Sie besondere Techniken, um Ihre lateinischen Texte Korrektur zu lesen?

Deutsch-lateinische Übersetzungen versehe ich mit dem Hashtag convertamus. Da sammele ich Übungstexte mit kommentierten Lösungsblättern.



Werde ich jemals Originaltexte mühelos lesen können?

Wird die Originallektüre irgendwann einfach? Diese Frage plagt viele Lateinstudierende im Laufe ihrer universitären Karriere.

Am Anfang des Wintersemesters war ich mit einigen Mitgliedern des Circulus Minervae, einer Bonner Gruppe von Latinisten, die ihre aktiven Sprachkenntnisse gemeinsam zu verbessern versuchen, auf der Erstirallye. Die Veranstaltung, die die Fachschaft auf die Beine gestellt hat, war klasse und die neuen Studierenden hatten ihren Spaß auf den verschiedenen Stationen, wo mit Bobbycar-Wettrennen, lateinischsprachigen Quiz u.v.a.m. Geschicklichkeit und Können auf die Probe gestellt wurden.

Das sonst fröhliche Gesicht der Drittsemestler, die dabei waren, da sie letztes Jahr coronabedingt das Ganze verpasst hatten, verdüsterte sich aber, als sie fragten: „Wird das Lesen irgendwann einfach?“ Sprich: Wird jemals der Punkt kommen, in dem sich die Originallektüre nicht wie ein Kampf mit Wörterbucheinträgen und Konstruktionsmethoden als Waffen, sondern als genüsslicher, natürlicher und, ja, sogar müheloser Teil unseres Latinistenalltags anfühlen wird?

Meine Antwort lautet: Es kommt darauf an.

Ich habe selbst größere Frustrationen im Umgang mit der lateinischen Originallektüre erlebt und es tut mir leid zu sehen, dass ich damit nicht alleine bin. Lateinstudierende sind bekanntermaßen fleißig und nach 1-2 Jahren Studium ist die Frage gerechtfertigt: Wird es eigentlich irgendwann besser?!

Heute gehe ich darauf ein, was meine Sicht der Dinge ist und was mir persönlich geholfen hat, damit sich die lateinische Originallektüre nicht mehr wie ein kompliziertes Rätsel anfühlt, sondern zunehmend mühelos vonstattengeht.

Übersetzen und Lesen sind zwei verschiedene Paar Schuhe

Ob an der Schule oder an der Universität, im Lateinunterricht wird viel bis ausschließlich übersetzt. Viele Lateinstudierende kommen nie dazu, einen Text einfach so zu lesen, ohne ihn ins Deutsche zu übersetzen. Übersetzungskompetenz und Lesekompetenz sind aber zwei verschiedene Bereiche, die sich nur teilweise überlappen.

Für eine Übersicht der Teilkompetenzen, die für die Übersetzung von lateinischen Texten ins Deutsche notwendig sind, empfehle ich die Lektüre von diesem praxisorientierten Heft voller Übungsvorschläge von Hey et al. (2016):

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(No animals were harmed in the making of this photograph.)

Ganz allgemein können wir sagen, dass der Schwerpunkt beim Übersetzen darauf liegt, eine möglichst adäquate wie textnahe Übertragung des Textes in eine andere Sprache zu gewährleisten, unter dem Motto: „so nah wie möglich, so frei wie nötig“. Dies bringt mit sich, dass es nicht reicht, den allgemeinen Sinn zu verstehen, sondern dass wir auch jedes einzelne Wort wissen oder nachschlagen müssen, damit die Übersetzung vollständig ist. Außerdem können wir uns nicht gänzlich auf den Ausgangstext einlassen, weil wir neben dem reinen Textverständnis (Dekodierung) auch immer mit der Frage einer angemessenen Übertragung in die Zielsprache (Rekodierung) beschäftigt sind.

Da besteht doch schon eine große Diskrepanz zur „normalen“ Lektüre. Es gibt viele Gründe, einen Text zu lesen, (Unterhaltung, Information, Sprachanalysen usw.) und viele Methoden (kursorisch, selektiv, close-reading …). Nehmen wir an, wir lesen einen lateinischen Text aus Interesse für ein literarisches Werk, also so, wie wenn wir einen englischen oder französischen Roman läsen.

Wenn es darum geht, fremdsprachliche Texte lesen zu lernen, können wir uns Impulse aus den modernen Fremdsprachen holen. Wenn im Englischunterricht die Teilkompetenz Lesen geübt wird, geht es zunächst einmal darum, den allgemeinen Sinn und die allgemeine Intention des Textes zu verstehen. Man fängt bekanntermaßen nicht mit der Suche einzelner Vokabeln an, sondern man liest zuerst eine längere Passage und versucht, sich anhand der eigenen Vorkenntnisse zurechtzufinden. Man kennt ja Sprüche von Fremdsprachenlehrern wie „Man muss nicht jedes Wort verstehen.“ Genau darum geht es auch im Lateinischen, wenn wir lesen lernen wollen.

Ich höre schon Einwände: „Aber ich muss in den Prüfungen eh immer übersetzen. Was bringt es mir, nur zu lesen?“

Gründe zum reinen Lesen

Lesen, ohne zu übersetzen, lohnt sich aus mehreren Gründen, u. a.:

  1. Man schafft es, größere Textmengen zu lesen, wenn man nicht alles übersetzt. Will man sich literaturgeschichtliche Kenntnisse aneignen, ist eine reine Lektüre viel effizienter als das Übersetzen.
  2. Wenn man übersetzt, wendet man oft verschiedene Übersetzungsmethoden, wie die Konstruktions- oder die Pendelmethode, an. Sie sind zwar für die Übersetzung sehr hilfreich, aber eher hinderlich für die ästhetische Rezeption eines literarischen Textes. Es ist ein ganz anderes Leseerlebnis, wenn man einen Text so rezipiert, wie er für die Lektüre oder für das Vortragen konzipiert war, anstatt ihn „auseinanderzunehmen“.
  3. Liest man den Text so, wie es gedacht war, erkennt man auch Fragen der Informationsstruktur, die bei einer nicht-linearen Lektüre völlig flöten gehen, z. B. wenn ein Satzglied auffällig nachgestellt wird oder besondere Hyperbata vorkommen.
  4. Bei Dichtung ist es noch schlimmer, weil man zusätzlich auch die von der Metrik geschaffene Atmosphäre oder die Hervorhebung bestimmter Satzteile durch Zäsuren verpasst.
  5. Kurzum: Lesen ist natürlich. Wenn Sie Englisch, Französisch oder eine andere Fremdsprache beherrschen und aus Interesse ein Buch in dieser Sprache lesen, kämen Sie doch nie auf die Idee, das ganze Ding zu übersetzen, oder? Sie würden doch einfach nur lesen, denn Lesen ist normal.
  6. Auch Ihre Übersetzungen werden sich verbessern, wenn Sie lateinische Texte nicht mehr entziffernd übertragen müssen, sondern auf Anhieb verstehen und sich beim Übersetzen nur darauf konzentrieren müssen, schöne oder besonders passende Lösungen zu finden. Man kann sowieso nicht gut übersetzen, wenn man den Sinn und die Intention eines Textes nicht verstanden hat. Erst verstehen, dann übersetzen.
  7. Außerdem: Wenn man nicht nur ein paar Abschnitte pro Session übersetzt, sondern viele Seiten am Stück aus demselben Werk liest, begegnet man gerne denselben Vokabeln mehrfach pro Leseeinheit. Mit zunehmender Anzahl an exposures in unterschiedlichen, doch verwandten Kontexten wächst auch die Wahrscheinlichkeit, dass wir nebenbei neue Vokabeln memorieren.
  8. Lesen wir einerseits Texte ihrer Konzeption entsprechend von links nach rechts, andererseits größere Textmengen, entwickeln wir implizit ein Gespür dafür, welche Strukturen hochfrequent sind, welche eher auffällig, welche Phänomene autoren- oder textsortenspezifisch usw. Wir wenden nicht bloß Grammatikkenntnisse an, sondern vertiefen uns darüber hinaus in eine vielseitig sinnstiftende Lektüre.

Tipps zur erfolgreichen Lektüre

Wie fängt man an?

Will man lesen lernen, muss man – oh Wunder! – lesen. Wenn man jedoch zeit seiner gesamten Lateinkarriere nur übersetzt hat, wird es einem wahrscheinlich ungewohnt vorkommen, einen lateinischen Text herunterzulesen, bzw. man wird zunächst nicht viel verstehen. Bleiben Sie aber dran! Es lohnt sich.

Schließlich führt beim Lernen kein Weg daran vorbei, dass man es regelmäßig schafft, seine Kehrseite lang genug am Schreibtischstuhl und dabei die Birne am Laufen zu halten. Die Arbeit nimmt Ihnen niemand ab, aber hier sind ein paar Tipps, wie Sie vorgehen können.

Fangen Sie mit Texten an, die Sie schon kennen

Wenn Sie in einem Übersetzungskurs oder als Vorbereitung auf das Latinum schon ein (antikes) Buch übersetzt oder seinen Inhalt aus anderen Gründen ganz gut kennen, fangen Sie damit an.

Ein gängiges Modell zur Erfassung des Verstehensprozesses ist der sog. hermeutische Zirkel, dem gemäß sich die Bedeutung des Ganzen aus dem Verständnis der Teile zusammensetzt und nach Gadamer durch eine Art Dialog mit dem Text konstruiert wird. Wir gehen mit Vorurteilen und Erwartungen an den Text und holen uns bei der Lektüre Rückmeldungen vom Text selber, die es ermöglichen, unser (Vor-)Verständnis zu verfeinern und mit neuen Fragen und Erwartungen den Text anzugehen. Verstehen ist demnach ein zirkulärer und unendlicher Konstruktionsprozess.

Es ist im Sinne des hermeutischen Zirkels günstig, wenn Sie mit dem, was Sie lesen, schon etwas verbinden. Erkenntnistheoretisch formuliert: Wenn Sie am Anfang der Lektüre bereits über Vorkenntnisse zum Text verfügen und daher Vorurteile haben, die während der Lektüre Bestätigung finden, verringert die Spanne zwischen ihren Erwartungen und dem sog. Bedeutungshorizont, also der Intention des Texts.

Naja, das ist eigentlich nur fancy für: Vorher zu wissen, was im Text steht, macht es leichter, den Text zu verstehen.

Notieren Sie sich die Gliederung am Textrand

Mit antiken Texten haben Sie bereits Jahrtausende lange viele kluge und belesene Menschen auseinandergesetzt. Das hat für uns Lerner den Vorteil, dass wir auf viel Material zurückgreifen können. Notieren Sie sich vor der Lektüre die Gliederung des Textes. Es spielt dabei keine große Rolle, ob Sie die Gliederung den Anmerkungen am Ende Ihres Reclam-Hefts, einer Wikipedia-Seite oder einem wissenschaftlichen Kommentar entnehmen. Wichtig ist – wie oben schon erwähnt –, dass Sie mit (richtigen) Erwartungen an den Text herangehen, damit Sie sich schneller inhaltlich orientieren können.

Lesen Sie denselben Text mehrfach

Ich finde zwar, dass Seneca im zweiten Brief des ersten Epistelbuchs etwas übertreibt, wenn er schreibt:

Fastidientis stomachi est multa degustare; quae ubi varia sunt et diversa, inquinant non alunt. Probatos itaque semper lege, et si quando ad alios deverti libuerit, ad priores redi. Sen., ep. 1, 2,4

Andererseits können wir einen Autor nur durchdringen, wenn wir ihn nicht nur besuchen, sondern regelrecht frequentieren und uns mit seinen Texten gründlich vertraut machen. Es ist keine schlechte Idee, denselben Text mehrfach zu lesen: aufgrund des hermeneutischen Zirkels und der Unabschließbarkeit des Verstehensprozesses, zur Wiederholung der nachgeschlagenen Vokabeln, zur Verfestigung tieferer Literaturkenntnisse.

Benutzen Sie zweisprachige Ausgaben

Gerade am Anfang ist es absolut keine Schande, zweisprachige Ausgaben zu verwenden. Sie sind ja zum Lesen und Benutzen da.

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Wer schon einmal anhand einer fertigen Übersetzung versucht hat, die Struktur eines lateinischen Satzes, mit dem er nicht klar wurde, nachzuvollziehen, der weiß, wie wenig sich (für den Druck freigegebene) Übersetzungen dazu eignen. Erschienene Übersetzungen entstehen nicht mit dem Ziel, lateinische morphosyntaktische Strukturen abzubilden, und geben den Text entsprechend freier wieder, als wir es uns in einem Übersetzungskurs „erlauben“ würden.

Als Unterstützung für die Übersetzung sind also eher Textannotationen und Vokabelangaben hilfreich. Wenn wir bei Reclam bleiben wollen, helfen beim Übersetzen eher die roten Ausgaben als die orangenen Ausgaben.

Für eine reine Lektüre sind zweisprachige Ausgaben aber sehr zielführend.

Option 1: Latein zuerst

Für eine parallele Lektüre sind zweisprachige Ausgaben meist genau richtig, weil der Übersetzer bemüht ist, – ganz grob gesprochen – den Text so wiederzugeben, dass er einen ähnlichen Effekt auf den Leser hat, wie wenn dieser das Original läse. Wenn es uns also auf ein natürliches Lektüreerlebnis ankommt, können wir zunächst den lateinischen Text lesen und dann unser Verständnis anhand des deutschen Textes überprüfen. Haben wir den Sinn verstanden? Ggf. die Handlung? Die Argumentationsstruktur des Textes? War irgendeine Aussage vielleicht ironisch gemeint? Mit solchen Fragen – eher als mit Fragen bezüglich der Morphosyntax des lateinischen Textes – können wir an eine solche Übersetzung herangehen.

Option 2: Deutsch zuerst

Wenn Sie mit der Originallektüre trotz zweisprachiger Ausgabe gar nicht klar kommen sollten, können Sie auch zunächst die deutsche und anschließend die lateinische Seite lesen. Dann wissen Sie genau, was auf Sie zukommt, und können versuchen, es beim Lesen im Lateinischen nachzuvollziehen. Das ist eine gute Übung, um hineinzukommen zum einen, zum anderen aber auch um ein Gespür für die lateinische Wortstellung zu bilden. Das wird Ihnen in den Stilübungen zugutekommen.

Lesen Sie, was Sie wirklich interessiert

Als Lateinstudent liest man lateinische Texte oft deswegen, weil man besser im Lesen werden will. Wenn Sie aber nur deswegen eine mühsame Lektüre auf sich nehmen, weil sie mühsam ist, wird der Fokus des Unterfangens wahrscheinlich immer darauf liegen, dass das Ganze doch so furchtbar schwer ist und es nicht auf Anhieb klappen will.

Sorgen Sie stattdessen dafür, dass der Fokus der Lektüre auf die Kommunikation liegt. Ein Buch liest man gerne, wenn man etwas wissen will, wenn die Geschichte spannend ist, wenn man Empathie für die Charaktere empfindet usw. Die lateinsprachige Literatur ist voller spannender Themen und Geschichten, die die Menschen über Jahrhunderte, ja Jahrtausende hinweg begeistert haben. Suchen Sie sich das aus, was Ihnen am meisten gefällt: Ovids Metamorphosen, das Neue Testament, Ciceros Reden, Senecas Briefe, Pontanos Dialoge… was immer Sie inhaltlich interessiert. (Ich würde vielleicht nur nicht mit Lyrik anfangen, sondern eher mit etwas Handlungsreicherem, das sich zum „Runterlesen“ eignet.)

Stehen die Inhalte im Vordergrund, ist dies die beste Lesemotivation!

Was mir aber wirklich wirklich geholfen hat

Ich finde, dass das reine Lesen ohne Rückgriff aufs Übersetzen allen Lateinstudierenden zugutekommt. Doch die drastischste Verbesserung hinsichtlich der Fähigkeit, lateinische Texte zu lesen (und gleich zu verstehen), habe ich bei mir festgestellt, als ich angefangen habe, meine aktiven Lateinkenntnisse zu verbessern.

Es mag sich vielleicht nicht gerade intuitiv oder gar ganz abwegig anhören, aber so ist das. Je mehr ich es schaffe, meine produktiven Lateinkenntnisse zu verbessern, desto leichter fällt mir die Lektüre. Und je leichter die Lektüre, desto reibungsloser das Übersetzen.

Ich habe mich lange gefragt, warum es wohl so ist. Wie immer versuche ich mir zu vergegenwärtigen, dass das Lateinische ja auch nichts anderes als eine natürliche Sprache ist, und vergleiche den Lernprozess mit dem Erwerb anderer moderner Fremdsprachen, die ich im Laufe des Lebens gelernt habe. Wie wäre mein Deutsch (ich bin Italienerin), wenn ich, anstatt auch zu schreiben und sprechen, nur versucht hätte zu übersetzen? Wahrscheinlich grottenschlecht. Und ich wäre wohl auch nicht in der Lage, Goethe oder Thomas Mann flüssig zu lesen, sondern müsste die Texte mit größter Mühe entziffern. Wäre ich in der Lage, ein Buch auf Englisch zu lesen, wenn mir überhaupt der Prozess der Lektüre an sich in dieser Sprache ganz fremd wäre? Wahrscheinlich nicht.

Ich habe nichts gegen Übersetzungen. Ganz im Gegenteil: Ich habe in meinem Erststudium Übersetzung und Dolmetschen studiert. Ich habe aber etwas gegen Übersetzungen als beinahe ausschließlich angewendete Methode zum Spracherwerb, denn dazu sind Übersetzungen weder das einzige noch das beste Mittel.

Ich kann nur von meiner Erfahrung sprechen und Ihnen darauf bauend den Tipp geben: Wenn Sie Latein studieren, versuchen Sie, Ihre aktiven Sprachkenntnisse möglichst zu erweitern. Das wird Ihnen nicht nur bei der deutsch-lateinischen Übersetzung helfen, sondern auch als langfristig schönerer Nebeneffekt bei der Originallektüre.

Warum helfen produktive Kenntnisse bei der Sprachrezeption? Ich denke, dass es zum einen darum geht, dass das, was man selber in der Lage ist auszudrücken, kaum Chancen hat, beim Lesen Schwierigkeiten oder Missverständnisse zu verursachen. Zum anderen hilft die aktive Sprachverwendung unheimlich dabei, den Wortschatz effektiv zu erweitern. Und bei all den Wörtern, die man so sicher beherrscht, dass man sie selber anwenden kann, ergibt sich zum Beispiel viel eher, dass man bei der Lektüre unter vielen möglichen automatisch an die passendste Bedeutung denkt.

Mein guter Vorsatz für das Jahr 2021 war es, mein aktives Latein zu verbessern. Seitdem habe ich Familia Romana abgearbeitet, mich zu lateinsprachigen Kursen angemeldet und den Circulus Minervae gegründet. Und ich habe dadurch allein im ersten Halbjahr mehr lateinische Originaltexte lesen können als in den zwei Jahren zuvor zusammen! Ja: Es ist sooo viel leichter geworden!

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Verstehen Sie mich nicht falsch. Mein Latein ist alles andere als perfekt. Aber ist es um Welten besser als vor einem Jahr?! Hell yeah!

Aus diesem Grund teile ich mit Ihnen hier auf dem Blog in der Serie Disce mecum sehr viel von dem, was ich tue, um mein Latein nach wie vor zu verbessern. Machen Sie doch mit: Disce mecum!

Außerdem: Wenn Sie Materialien für die deutsch-lateinische Übersetzung suchen, halten Sie nach dem Hashtag #convertamus Ausschau.

Und verlieren Sie nicht den Mut! Sie sind ja fleißig. Kanalisieren Sie einen Teil dieses Willens und Durchhaltevermögens dahin, dass Sie Ihre produktiven Lateinkenntnisse und das natürliche Lesen üben, und Sie werden bald ohne große Mühe all die wunderschönen lateinischen Originaltexte genießen können.

Ein Gedanke, der mir immer Mut gibt, ist dieser:

Unsere Stärke liegt darin, dass wir aus der Vergangenheit lernen können, und vor uns haben bereits sehr viele kluge Köpfe über Jahrhunderte hinweg phantastisch Latein gelernt, ohne mit Muttersprachlern – außer durch die Lektüre ihrer Werke – kommunizieren zu können. Dieser Weg wird uns allen offen bleiben, solange wir Zugang zu lateinischen Texten haben. In diesem Sinne: Ad fontes!

Ich wünsche Ihnen einen schönen dritten Advent! 🕯🕯🕯




Jeden Sonntag erscheint ein neuer Artikel auf der Webseite. Bis der nächste herauskommt, könnten Sie auch diese interessieren:


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Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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