Beinahe jeder Lateinstudent in Deutschland schlägt sich mit dem Rubenbauer/Hofmann durch und lernt im Laufe des Studiums jede Menge Regeln der lateinischen Morphosyntax. Manchen reicht die eine Grammatik nicht, sodass sie darüber hinaus noch mit dem Menge, wenn nicht sogar mit dem mehrbändigen Kühner/Holzweissig/Stegmann lernen.

Irgendwann werde ich bezüglich verschiedener Grammatiken, die verfügbar sind, meine Gedanken und Empfehlungen in einem Blogartikel aussprechen; heute geht es mir um eine Handvoll „Regeln“, die zwar unter Lateinstudierenden als solche zirkulieren, die sich jedoch bei genauerem Hingucken schnell als halbe Wahrheiten entpuppen. Ich stelle Ihnen 5 „Regeln“ vor, die man durchaus brechen darf oder gar sollte!

„Regel“ 1) sperare mit Infinitiv Futur

In der deutsch-lateinischen Übersetzung hört man diese Regel oft und gerne: Nach hoffen, versprechen, schwören und drohen steht der AcI mit Infinitiv Futur:

  • Ich hoffe, dass du mir hilfst.
  • Spērō tē mē esse adiūtūrum.

Diese „Regel“ stellt leider in mehrfacher Hinsicht einen fruchtbaren Boden für Missverständnisse dar.

Denn erstens ist sie streng genommen vollkommen überflüssig, wenn man die Denkweise berücksichtigt, die das Lateinische an den Tag legt. Es ist nur logisch, dass das, was man hofft, verspricht oder androht, als nachzeitig markiert wird, denn es ist noch gar nicht eingetreten! Diese ist also keine Extra-Regel, sondern rein lateinisch gedacht ein stinknormaler Fall. Da wir es im Deutschen ja offensichtlich mit der morphologischen Markierung der Zeitverhältnisse nicht so genau nehmen, wird der notwendige Ausdruck der Nachzeitigkeit ausgerechnet bei diesen Kopfverben sehr stark betont. Übersetzt man aus dem Deutschen ins Lateinische, ist dies nämlich ein entsprechend fehleranfälliger Bereich, bei dem man besonders gut aufzupassen braucht.

Weiter hat man selbstverständlich auch Sätze, bei denen auch bei dieser Gruppe an Kopfverben andere Zeitverhältnisse möglich oder nötig sind:

gleichzeitig: Cētera spērō prōlixa esse. (Cic., Att. 1.1)
vorzeitig: Spērō nōs cōnfēcisse. (Cic., Q. fr. 2.4)

Aus mir unerklärlichen Gründen bietet die Grammatik von Rubenbauer/Hofmann (RH §170.2) kein Beispiel für die Vorzeitigkeit an. Lernt man aber aktiv Latein und versucht man, es immer wieder mal im Alltag zu sprechen, wird einem schnell klar, dass die Struktur mit Infinitiv Perfekt ziemlich oft vorkommt, nämlich immer wenn man etwas sagt wie Ich hoffe, dass er es nicht vergessen hat oder Sie schwört, dass sie es nicht war usw.

Die dritte falsche Schlussfolgerung, zu der einige bei dieser Regel neigen, ist, dass es nur genau diese Verben seien, bei denen die Nachzeitigkeit im AcI ausgedrückt werde. Dem ist es nicht so. Alle Verben, die den AcI fordern, können je nach Sinn mit Infinitiv Futur stehen. Spērāre, iūrāre, minārī, pollicērī u.ä. sind nur die, die sich meistens anders verhalten als ihre deutschen Pendants.

  • Er sagt, dass er nach Rom reisen wird.
  • Dicit sē Rōmam iter esse factūrum.

Natürlich gilt bei allen nachzeitigen AcIs – auch denen mit spērāre und Konsorten –, dass die Nachzeitigkeit mit fore, ut + Konj. ausgedrückt werden kann:

  • Spērō fore, ut contingat id nōbīs. (Cic., Tusc. 1.34)

Zusammenfassend entsteht die Regel „spērāre + nachzeitiger AcI“ also nur aus dem – kontrastiv und didaktisch betrachtet richtigen – Gedanken, deutschsprachige Lerner auf die Eigentümlichkeiten der lateinischen Denkweise aufmerksam zu machen. Eigentlich ist sie jedoch keine zusätzliche Regel und man sollte sich unbedingt vor falschen Rückschlüssen hüten. Mit Cicero (Att. 1.1): Spērō mē tibi causam probāsse! 😉

„Regel“ 2) die consecutio gilt immer (1/2)

Die konjunktivische Consecutio temporum sieht so aus: Hat man im übergeordneten Satz ein präsentisches (oder futurisches) Verb, steht das Verb im konjunktivischen untergeordneten Satz bei Vorzeitigkeit im Perfekt, bei Gleichzeitigkeit im Präsens, bei Nachzeitigkeit als PPA + esse im Konjunktiv Präsens; hat man im übergeordneten Satz ein Verb in der Vergangenheit, steht das Verb im Nebensatz im Plusquamperfekt, Imperfekt oder PPA + esse im Konjunktiv Imperfekt:

anteasimulpostea
nunc (Haupttempus)Konj. Perfekt.Konj. PräsensPPA + sim, sīs, sit …
tunc (Nebentempus)Konj. PlusquamperfektKonj. ImperfektPPA + essem, essēs, esset …

Beispiel:

anteasimulpostea
Nesciō,num herī adfuerit.num hodiē adsit.num crās adfutūrus sit.
Nesciēbam,num prīdiē adfuisset.num illō diē adesset.num postrīdiē adfutūrus esset.

Die sog. coniugatio periphrastica activa mit PPA + Konjunktiv von esse beschränkt sich im Wesentlichen auf die oratio obliqua (inkl. nōn dubitō, quīn) im Aktiv. Bei passiven Verben in der indirekten Rede sowie immer in anderen konjunktivischen Nebensätzen wird die Nachzeitigkeit nicht morphologisch markiert, sondern man wählt ersatzweise die Tempora der Gleichzeitigkeit (RH § 230):

  • Exspectās fortasse, dum dīcat (Cic., Tusc. 2.17)
  • Vōs ōrō obtestorque, iūdicēs, ut in sententiīs ferendīs, quod sentiētis, id audeātis. (Cic., Mil. 105)

Gemäß dieser Regel dürfte man nie gleichzeitig ein Perfekt sowohl im über- als auch untergeordneten Satz haben, nicht wahr? In einem Fall ist dies aber durchaus möglich! Lassen Sie uns schauen, warum und wann dies passiert.

Um zwischen Haupt- und Nebentempus eines Kopfverbs zu unterscheiden, ist nicht vorwiegend die morphologische Form ausschlaggebend, sondern viel öfter geht es um den Sinn: nunc oder tunc? Aus diesem Grund zählen etwa der narrative Infinitiv Präsens oder das historische Indikativ Präsens sehr gerne als Nebentempora, ein resultatives Perfekt dagegen gerne als Haupttempus (RH § 229). Ein Beispiel mit historischem Präsens und gleichzeitigem Imperfekt aus Livius 5.41:

  • Ruunt, nē quis impetus fieret.

Unter den hypothetischen Nebensätzen gibt es im Lateinischen einen, der in vielen anderen Sprachen fehlt: den Potentialis. Bis auf ein paar Wendungen (s. RH § 216) beschränkt sich der Potentialis auf die Gegenwart und drückt das aus, was durchaus sein könnte, aber gerade nicht ist. Anders verhält es sich mit dem Irrealis, der etwas ausdrückt, was nicht eintreten kann oder eingetreten ist:

  • Potentialis: Et tamen egō ā philosophō, afferat ēloquentiam, nōn asperner, sī nōn habeat, nōn admodum flāgitem. (Cic., fin. 1.15)
  • Irrealis: Sī ūnus ille occīdisset, […] gentēs omnēs concidissent. Nisī vērō quia perfecta rēs nōn est, nōn fuit pūnienda. (Cic., Mil. 18)

Der Potentialis kann bedeutungsgleich mit dem Konjunktiv Präsens oder dem Konjunktiv Perfekt formuliert werden. Daraus ergibt sich also, dass man im klassischen Latein durchaus Perioden mit Perfekt im Haupt- und konjunktivischen Nebensatz finden kann! Öfter findet man solche Sätze zum Beispiel, wenn um ein Gefallen gebeten wird:

  • Grātissimum mihi fēcerīs, sī ad mē in Ciliciam quam prīmum vēnerīs. (Cic., fam. 2.19)

Da man nicht sicher festlegen kann, dass das Gefallen, worum man bittet, geleistet werden wird, kann man keinen Indefinitus mit Indikativ verwenden; der Inhalt ist aber auch nicht irreal, denn hoffentlich geht der andere ja darauf ein, also: Potentialis mit Konjunktiv Präsens/Perfekt im über- UND untergeordneten Satz (RH § 259)!

„Regel“ 3) Dat./Abl. Pl. der a-Deklination ist -īs

Rosa, rosae, rosae … jeder kennt die erste Deklination und weiß, dass der Dativ/Ablativ Plural rosīs heißt.

Man nehme jetzt aber ein Testament, in dem es steht, alles solle den fīliīs überlassen werden. Damit die männlichen Erben nicht auf selbstsüchtige Ideen kommen, kann man zusätzlich deutlich machen, dass es auch um die Töchter gehen soll: fīliīs fīliābusque! In solchen Fällen, in denen man eine Ambiguität ausdrücklich vermeiden möchte, kann man bei einigen Substantiven der ersten Deklination im Dativ und Ablativ Plural ausnahmsweise die Endung -ābus verwenden. Die Substantive, die diese Form zulassen, sind sowohl die von RH (§ 27) genannten fīlia und dea als auch ein paar wenige andere wie līberābus, asinābus, equābus.

Schauen Sie sich auch diesen Artikel an: Männlein und Weiblein bei den Römern!

„Regel“ 4) lateinische Wörter sind nie endbetont

Der lateinische Wortakzent ist eine sehr konsequente Angelegenheit. Es gibt nur eine Regel:

Ist die vorletzte Silbe eines mehrsilbigen Wortes lang, wird diese akzentuiert; ist die vorletzte Silbe kurz, fällt der Akzent auf die vorvorletzte.

Too good to be true?

Definitiv!

Denn die Regel ist zwar denkbar einfach, aber die konsequente Umsetzung der Regel ist manchmal recht kompliziert. Ich möchte von mir behaupten, dass ich zu denjenigen gehöre, die ganz doll darauf aufpassen, Wortakzente richtig zu setzen, und doch entdecke ich immer wieder Wortformen, die ich falsch ausspreche, wie invocō, das ich immer wieder fälschlicherweise auf vo betone. Argh!

Schauen Sie sich diese Artikel an:

Gemäß der Pänultimaregel dürfte es im Lateinischen keine endbetonten Wörter geben. ABER! Es gibt zwei Fälle, die dazu führen, dass manche Wörter den Akzent doch auf der letzten Silbe haben!

Erster Fall: Juxtapositionen von facere

Das Verb facere kommt bekanntermaßen nicht nur als Simplex vor. Die Wortbildungen mit der Verbalwurzel fac sind entweder Derivata oder Juxtapositionen.

Die Derivata weisen ein (depräpositionales) Verbalpräfix und die sog. lateinische Apophonie (Vokalwechsel: ai) vor:

  • cōnficere, ficere, īnficere, praeficere

Das Passiv bilden diese Verben regulär: cōnficiōcōnficior. (In vielen Grammatiken werden diese Wortbildungen als Komposita aus Präposition + Verb beschrieben. Ich bevorzuge es, von Derivata zu sprechen, aber das macht an dieser Stelle keinen Unterschied.)

Die Juxtapositionen dagegen haben keinen Vokalwechsel und vor dem Verbalstamm ein weiteres freies morphologisches Element, das auch selbstständig vorkommt,

  • wie einen weiteren Verbalstamm: calefacere, assuēfacere, tumefacere (vgl. calē-sc-ō, assuē-sc-ō, tumē-sc-ō)
  • oder ein Adverb: satisfacere.

Das Passiv bildet diese Gruppe durch fierī: calefaciōcalefiō.

Was den Wortakzent angeht, behandelt man die Wörter aus der ersten Gruppe ganz normal als ein Wort (z. B.: cōnficiō, cōnficis), die Wörter aus der zweiten Gruppe als zwei getrennte Wörter (z. B.: calefaciō, calefacīs). Aus diesem Grund entstehen im passiv scheinbar endbetonte Wörter: calefiō, calefīs, calefit!

Zweiter Fall: Sekundäre Oxytonie

Es existieren auch nicht zusammengesetzte Wörter, die endbetont sind, wie illīc, adhūc oder Maecēnās. Die Endbetontung lässt sich in diesen Fällen dadurch erklären, dass der letzte Vokal jeweils weggefallen ist. Ursprünglich hatten diese Wörter also eine Silbe mehr – il(s)ce > illīc – und folgten dementsprechend ganz normal der Pänultimaregel. Da nun jedoch der letzte Vokal fehlt, haben sie synchron den Anschein einer Ausnahme, weil der Akzent auf der ursprünglich vorletzten Silbe geblieben ist. Man spricht daher von sekundärer Oxytonie, weil der Endakzent nicht ursprünglich, sondern erst durch einen Lautwandel bedingt ist. (Vgl. Traina 1982: 66ff.)


Die Regel, dass es im Lateinischen keine endbetonten Wörter gibt, mag in ein paar Fällen also scheinbar nicht stimmen; unter Berücksichtigung von Wortbildungsprozessen und wenigen Lautwandeln lässt sich jedoch feststellen, dass die Ausnahmen nur synchron bestehen; bei einer diachronen Betrachtung wird alles wieder normal.

Die Pänultimaregel lügt nie!

„Regel“ 5) die consecutio gilt immer (2/2)

Repetitio mater studiorum und die Consecutio kann man nicht genug wiederholen. 😉 Daher noch mal die Tabelle mit der Zeitabfolge im Konjunktiv:

anteasimulpostea
Nesciō,num herī adfuerit.num hodiē adsit.num crās adfutūrus sit.
Nesciēbam,num prīdiē adfuisset.num illō diē adesset.num postrīdiē adfutūrus esset.

Neben dem Potentialis mit konjunktivischem Perfekt im über- und untergeordneten Satz (s. o. „Regel“ Nr. 2) gibt noch einen Fall, in dem man von der normalen konjunktivischen consecutio absehen muss, nämlich den konsekutiven Nebensatz.

Zum einen können wir im konsekutiven Nebensatz sowohl Konjunktiv Präsens nach einem Nebentempus finden, wenn sich die Proposition in die Gegenwart des Sprechers ausstreckt oder allgemeine Gültigkeit besitzt, –

  • Verrēs Siciliam ita perdidit, ut ea restituī in antiquum statum nūllō modō possit. (Cic., Verr. 1.12) –

als auch Konjunktiv Imperfekt nach einem Haupttempus, wenn es sich dabei um ein allgemeingültiges Präsens in einer vergangenen Erzählung handelt –

  • Vērīsīmile nōn est, ut ille homō tam locuplēs religiōnī suae pecūniam antepōneret. (Cic., Verr. 2.4,11).

Zum anderen muss man beachten, dass im Konsekutivsatz der Aspekt ausgedrückt wird. Dementsprechend wählt man bei resultativem oder punktuellem Aspekt den Konjunktiv Perfekt, bei durativem oder iterativem Aspekt den Konjunktiv Imperfekt.

  • Tantum aberat ā bellō, ut, cum cupiditāte lībertātis Italia ardēret, dēfuerit cīvium studiis potius quam eōs in armōrum discrīmen addūceret. (Cic., Phil. 10.14)

Ach, Grammatik macht mich so glücklich! 🥰 Kannten Sie diese „Regeln“ und ihre Einschränkungen?

Jeden Sonntag erscheint ein neuer Artikel auf der Webseite. Bis der nächste herauskommt, könnten Sie auch diese interessieren:




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Verwendete Literatur

  • Forcellini, Lexicon totius Latinitatis.
  • Kühner, Raphael / Holzweissig (20212): Ausführliche Grammatik der lateinischen Sprache. Teil I: Elementar-, Formen- und Wortlehre. Darmstadt: wbg.
  • nM: Burkhard, Thorsten / Schauer, Markus (20125): Lehrbuch der lateinischen Syntax und Semantik. Begründet von Hermann Menge. Darmstadt: WBG.
  • RH: Rubenbauer, Hans / Hofmann, J.B. (199512): Lateinische Grammatik. Neubearbeitet von R. Heine. Bamberg: C. C. Buchner.
  • Traina, Alfonso / Bernardi Perini, Giorgio (1982): Propedeutica al latino universitario. Bologna: Pàtron.

Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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