Wetten wir, dass Sie mindestens eins der folgenden Wörter falsch aussprechen? 😉 Heute reden wir über den Wortakzent, einen Bereich der lateinischen Aussprache, der voller Tücken steckt.

Wir konzentrieren uns dabei auf Verben und Verbformen.

Was Aussprache angeht, haben es Lateinlerner eigentlich leicht: Ob pronuntiatus restitutus, sogenannte Schulaussprache, italienisch-ekklesiastische Aussprache oder eine wilde Mischung, alles ist erlaubt und irgendwo gängig. ABER! Eins darf man sich nicht aussuchen: den Wortakzent.

In den letzten 2,5 JahrTAUSENDEN Lateingebrauch sind Vokalquantitäten stets unangetastet geblieben. Das bedeutet nicht, dass Lateinsprecher die Längen stets ganz korrekt aussprechen… equidem sum in culpa: Zum Beispiel spreche ich Rōmānus eigentlich immer mit kurzem o aus, obwohl es ungefähr so ausgesprochen werden müsste:

Es gibt Lateinsprecher, die tatsächlich alle Längen und Kürzen richtig aussprechen, wie Luke Ranieri von Scorpio Martianus.

Auch für diejenigen, die bei Vokalen nicht mit allerletzter Konsequenz aussprechen, ist es jedoch absolut unentbehrlich, die Folgen der Silbenstärke auf den Wortakzent zu beachten, denn Längen und Kürzen waren, sind und bleiben für alle Aussprachetraditionen gleich!

Die Pänultimaregel

Das Ganze ist denkbar einfach; paradoxerweise liegt die Schwierigkeit darin, die simple Grundregel bis zum bittersten Ende konsequent anzuwenden. Aber eins nach dem anderen.

Bei einsilbigen Wörtern gibt es kein Vertun. Zweisilbige Wörter werden in aller Regel auf der ersten Silbe betont. Bei mehrsilbigen Wörtern zählt die Pänultimaregel:

Ist die vorletzte Silbe eines mehrsilbigen Wortes lang, wird diese akzentuiert; ist die vorletzte Silbe kurz, fällt der Akzent auf die vorvorletzte.

Die Pänultimaregel

Man beachte das Wort Silbe – nicht Vokal! Wann ist eine Silbe lang? Eine Silbe zählt als lang, wenn:

  1. sie einen langen Vokal enthält, sprich einen gedehnten Vokal oder einen Diphthong, und/oder
  2. auf den vokalischen Kern noch zwei oder mehr Konsonanten folgen. Geschlossene Silben, also Silben, die einen Konsonanten nach dem Vokal enthalten, gelten als lang.
  • -ce-re: kurzer Vokal in offener Silbe ➝ kurze Silbe
  • -ci: langer Vokal in offener Silbe ➝ lange Silbe
  • făc-tos: kurzer Vokal in geschlossener Silbe ➝ lange Silbe
  • fac-tōs: langer Vokal in geschlossener Silbe ➝ lange Silbe

Anders herum formuliert wird es also einfacher: Eine Silbe ist kurz, wenn sie offen und mit kurzem Vokal ist, ansonsten ist sie lang.
(Vgl. Traina 1982: 57.)

Daraus ergibt sich zum Beispiel Folgendes:

  1. Wir sprechen indīco (aus indicere ‚ankündigen‘) indíco, aber indĭco (aus indicare ‚anzeigen‘) índico aus;
  2. die Wortform audiúntur ’sie werden gehört‘ wird wegen /nt/ auf der Paenultima betont, obwohl das u kurz ist.

Die Konsonantengruppe einer Muta cum liquida wird nicht in zwei Silben getrennt, sondern bildet zusammen das Onset der Silbe. Aus diesem Grund trennen wir tenebrae ‚Finsternis‘ tĕ.nĕ.brae, nicht tĕ.nĕb.rae. Das bringt die Betonung ténebrae (statt tenébrae) mit sich. Bekannterweise wird diese Konsonantengruppe in der Dichtung gelegentlich auf zwei Silben verteilt, wenn aufgrund der Metrik eine lange Silbe notwendig ist. (Vgl. Traina 1982: 61.)

Häufige Fehler bei Verbformen

Die Endungen -ērunt und -ĕrint

Die Perfektendung der 3. Person Plural -ērunt ist lang und daher immer betont (laudavérunt), während die 3. Person Plural Indikativ Futur II oder Konjuktiv Perfekt auf der Antepänultima betont wird (laudáverint).

Sprechen Sie folgende Formen vom Konjunktiv Perfekt aus

vīderim
vīderis
vīderit
vīderimus
vīderitis
vīderint

und vergleichen Sie:

Die Perfektnebenformen auf -ēre haben wie -ērunt ein langes ē.

Homographe PPPs

Noch größere Vorsicht ist bei PPPs geboten, denn der Akzent kann mit bedeutungsunterscheidend wirken, wie in oblītus vs. oblĭtus.

https://www.instagram.com/p/CUCDtzvKUZi/?utm_source=ig_web_copy_link

Man kann streng genommen in solchen Fällen nicht von Minimalpaaren sprechen, da sich Wortakzent, Vokalqualität und Vokalquantität ändern.

Eine weitere Falle stellen uns condere ‚gründen‘ (PPP: condĭtum) und condire ‚würzen‘ (PPP: condītum):

https://www.instagram.com/p/CUrUFUzqAmV/

Anmerkungen zur e-Konjugation

Ein Fehler, den man schnell im Umgang mit Verben vergeht, betrifft die Länge des Thema-e in der e-Konjugation. Bekanntermaßen ist dabei das e im Infinitiv ja lang: habēre ‚haben‘, vidēre ’sehen‘, censēre ‚meinen‘; ‚beschließen‘, manēre ‚bleiben‘. Dennoch sind Vokale, die einem anderen Vokal unmittelbar vorangehen, bis auf eine Handvoll Ausnahmen im pronominalen Bereich immer kurz. Daher spricht man hábeo, nie habéo aus.

Im Grunde funktioniert die e-Konjugation unter diesem Gesichtspunkt genau so wie die i-Konjugation. Niemand würde doch audío sagen, warum dann aber censéo?

Es lohnt sich auch für Fortgeschrittene, sich ein paar Konjugationstabellen vor Augen zu führen. Man beachte auch, dass das -e- in der 2. P. Sg. lang, in der 3. P. Sg. kurz ist, obwohl der Unterschied keine Folgen für den Wortakzent hat.

Nehmen wir den Indikativ Präsens von mŏnērĕ ‚erinnern, mahnen‘ und ădmŏnērĕ ‚ermahnen‘ und wenden wir die Regel, wie man soll, nämlich knallhart an, müssen wir z. B. ádmones aussprechen.

mŏnĕō
mŏnēs
mŏnĕt
mŏnēmŭs
mŏnētĭs
mŏnĕnt

ădmŏnĕō
ădmŏnēs
ădmŏnĕt
ădmŏnēmŭs
ădmŏnētĭs
ădmŏnĕnt

Komposita von Verben mit langem Wurzelvokal wie ăccēnsērĕ ‚hinzurechnen‘ bereiten naturgemäß weniger Schwierigkeiten:

Anmerkungen zu lang- vs. kurzvokalischen Konjugationen

Die Längen- und Kürzenverteilung des thematischen -a-, -e- bzw. -i- folgt in den drei langvokalischen Konjugationen (ā-, ē- und ī-Konjugation, vgl. RH §72) denselben Regelmäßigkeiten, z. B.:

laudō (< *)
laudās
laudat
laudāmus
laudātis
laudant

moneō
monēs
monet
monēmus
monētis
monent

audiō
audīs
audit
audīmus
audītis
audiunt

Im Gegesatz zur i-Konjugation ist der Bindevokal -i- in der konsonantischen und in der gemischten Konjugation immer kurz. Das ergibt beispielsweise im Indikativ Präsens Passiv folgende Unterschiede zu der i-Konjugation:

audior
audīris
audíris
audītur
audítur
audīmur
audímur
audīminī
audiuntur

agor
ageris
ágeris
agitur
ágitur
agimur
ágimur
agiminī
aguntur

Wie wir oben bereits im Falle der 3. P. Pl. Ind. Perf. akt. bereits gesehen haben, behalten die Endungen der Nebenformen die gleiche Länge wie Hauptformen. Das ist auch bei den Nebenformen der 2. P. Sg. im Passiv.

Beispiel: 2. P. Sg. Ind. Präs. pass.:

  • laudāris = laudāre
  • audīris = audīre
  • condĕris = condĕre
  • usw.

Präfixverben

Wir haben oben mit admonere schon Präfixverben angesprochen; bei diesen reicht es offensichtlich nicht, die Länge der paenultima zu kennen, sondern es ist auch notwendig, die Länge der Wurzelsilbe zu kennen, um die verschiedenen Wortformen richtig zu akzentuieren. Erfreulicherweise müssen wir aber nicht Willkürliches auswendig lernen, sondern das Ganze hat System. Ist ja schließlich Latein.

Präfigierung ändert nie die Länge der Wurzel!

  • Ist mehr als Konsonant nach dem Wurzelvokal, ist die Silbe ohnehin schwer (s. o.) und wird als Pänultima akzentuiert.
    Bsp.: cŏndĕre ‚gründen‘: còndo, còndis, còndis …; recondĕre ‚verheben‘; ‚verstecken‘: recòndo, recòndis, recòndit
  • Ist nach dem Wurzelvokal nur ein Konsonant oder gar kein Konsonant, müssen wir über die Länge des Vokals Bescheid wissen.
    Bsp. (Kürze): mĕtĕre ‚ernten‘: mèto, mètis, mètit …; ēmĕtĕre ‚ernten (und von den Feldern wegtragen)‘: émeto, émetis, émetit
    Bsp. (Länge): pōnĕre ’stellen, legen, setzen‘: póno, pónis, pónit …; oppōnĕre ‚entgegenstellen‘: oppóno, oppónis, oppónit

Wie gesagt gilt bei Präfixverben: Lang bleibt lang, kurz bleibt kurz. Es lohnt sich aber, um das Maximum aus dieser Regel herauszuholen, zwei Fälle zu unterscheiden je nach dem, ob sich die Vokalqualität ändert oder nicht.

Fall 1: Auch die Vokalqualität bleibt gleich

Simplex mit langem Monophthong: cēnsēre ‚zählen‘; ‚meinen‘; ‚beschließen‘; Präfixverben: accēnsēre ‚hinzurechnen‘, recēnsēre ‚durchzählen‘
Simplex mit Diphthong: aequāre ‚ebnen‘; Präfixverben: adaequāre ‚gleichmachen‘, peraequāre ‚völlig gleichen‘
Simplex mit kurzem Vokal: mănēre ‚bleiben‘; Präfixverben: permănēre ‚ausharren‘, intermănēre ‚dazwischen bleiben‘

Kleiner Test: Wie lautet die 3. Pers. Sg. Ind. Präs. Akt. von intermănēre?

So wie mănēre ist der Wurzelvokal auch bei dăre immer kurz. Aufgrund der zahlreichen Derivata von dare sollte man sich das merken, denn es heißt entsprechend der Pänultimaregel z. B. circùmdare.

Fall 2: Die Vokalqualität ändert sich

Bleiben wir bei dare als Präfixverb: addĕre, prōdĕre, reddĕre enthalten alle dare. Auch hier sieht man, dass bei Präfigierung die Regel „kurz bleibt kurz“ gilt. Wie erklärt sich aber, dass wir statt ă ein ĕ im Stamm haben?

Dieser Wechsel ist die sogenannte lateinische Apophonie. Im Bereich der Verben möchte ich insbesondere auf den Wechsel ĕĭ (legere ‚lesen‘ – colligere ’sammeln‘) ăĭ (facere ‚machen‘ – conficere ‚anfertigen‘) und aeī (caedere ‚fällen‘ – occīdere ‚erschlagen‘) aufmerksam machen. (Vgl. Traina 1982: 88ff.)

Dieser Lautwechsel heißt lateinische Apophonie, zum einen weil sie nur in der lateinischen Sprache vorkommt, zum anderen weil sie nicht mit der im Lateinischen ebenfalls vorzufindenden indogermanischen Apophonie – dem Ablaut – verwechselt werden darf.


Exkurs: Ablaut

Den Ablaut ist ein Vokalwechsel, der seit indogermanischer Zeit als Wortbildungs- und Flexionsmittel existiert und im Lateinischen etwa bei tĕgere, tēgi, tŏga zu erkennen ist.

In der folgenden Tabelle haben Sie eine Übersicht der im Rahmen des Ablauts wechselnden Vokale. Um diese geht es gerade nicht!


Beispiele für den Wechsel ĕĭ
  • premere ‚drücken‘ in opprimere ’niederdrücken‘, imprimere ‚einprägen‘, exprimere ‚ausdrücken‘ …
    òpprĭmo, ìmprĭmo, èxprĭmo (Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht; für mich als Italienerin ist dieser Akzent nach Jahren noch gewöhnungsbedürftig.)
  • specere ’schauen‘ in inspicere ‚hineinschauen‘, aspicere ‚erblicken‘, circumspicere ’sich umschauen‘ …
    inspìcĭō, ìnspĭcis, ìnspĭcit, inspìcimus, inspìcitis, inspìciunt
    aspìcio, àspicis
    circumspìcio, circùmspicis
  • legere ‚lesen‘ in colligere ’sammeln‘, deligere ‚auswählen‘, eligere ‚aussuchen‘ …
    còlligo
  • regere ‚lenken‘ in dirigere ‚gerade richten‘, porrigere ‚ausstrecken‘, erigere ‚aufrichten‘ …
Beispiele für den Wechsel ăĭ
  • capere ‚ergreifen‘ in incipere ‚anfangen‘, accipere ‚annehmen‘, percipere ‚wahrnehmen‘ …
    incìpio, ìncipis, ìncipt
  • facere ‚machen‘ in conficere ‚anfertigen‘, proficere ‚Fortschritte machen‘, perficere ‚verfertigen‘ …
    confìcio, cònficis
  • rapere ‚raffen‘ in corripere ‚an sich raffen‘, eripere ‚wegreißen‘, surripere ‚entwenden‘ …
    corrìpio, còrripis
  • habēre ‚haben‘ in inhibēre ‚hindern‘, adhibēre ‚anwenden‘ …
Beispiele für den Wechsel ae ī
  • aestimare ‚abschätzen‘ in exīstimare ‚veranschlagen‘; ‚halten für‘ …
  • laedere ‚verletzen‘ in illīdere ‚anschlagen‘, collīdere ‚zusammenschlagen‘, allīdere ‚anstoßen‘ …
    illído, illídis, illídit
Homographe mit cadere und caedere

Die oben erwähnten Wechsel ergeben höchstfrequente Pärchen von homographen Verben, bei denen man im Hinblick sowohl auf die Bedeutung als auch auf den Wortakzent besonders aufpassen muss: die Präfigierungen von cadere bzw. caedere.

Zur Wiederholung:

  • cadō, cécidī, -, cadĕre ‚fallen‘
  • caedō, cecīdī, caesum, caedĕre ‚fällen‘

Diese Grundbedeutungen spielen auch bei den Präfigierungen mit und mit den genannten Regeln zur Apophonie kann das Erlernen der Vokabeln um ein Vielfaches vereinfacht werden. Schauen wir uns ein paar Beispiele an:

  • incidere
    ìncĭdo ‚hineinfallen‘; ‚geraten‘
    incī́do ‚einschneiden‘
  • accidere
    àccĭdo ‚hinfallen‘; ‚geschehen‘
    accī́do ‚anhauen‘; ’schwächen‘
  • concidere
    còncĭdo ‚zusammenbrechen‘
    concī́do ’niederhauden‘
  • occidere
    òccĭdo ’niederfallen‘; ‚untergehen‘; ‚umkommen‘
    occī́do ‚erschlagen‘, ‚umbringen‘

Wie man leicht sehen kann, lohnt es sich bei den Präfixverben zu erkennen, welches Simplex jeweils zugrundliegt. Bei cadere und caedere ist es dann nicht nur einfacher, die Verbformen korrekt auszusprechen, sondern auch die Bedeutungen werden gleich transparent und ihre Erschließung dementsprechend leichter.

Meine persönlichen Sorgenkinder

Ich habe ja schon erwähnt, dass ich bei òpprimo, èxprimo und Konsorten meine Schwierigkeiten habe. Es ist sooo verlockend, die Wörter und Wortformen, die es auch im Italienischen gibt, auch so wie in meiner Muttersprache (it. opprímo usw.) zu akzentuieren. Genau so wie dìscutit (it. discúte) oder die Präfigierungen von movere oder manere. Manchmal ist die Pänultima im Lateinischen auch lang und betont, wo das Italienische die Antepänultima betont, wie bei lat. evīto – it. èvito.

In vielen Fällen sind die Akzentverhältnisse genau so geblieben wie im Lateinischen und Italienischkenntnisse sind unheimlich hilfreich, wie bei indīco (von indicere) und indĭco (von indicare). In anderen muss man ganz schön aufpassen.

Und wie läuft es bei Ihnen? Bei welchen Verbformen müssen Sie besonders aufpassen?

Hier geht es zu den Besonderheit des Wortakzents bei deklinierbaren Wörtern!




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Bibliographie


Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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