Ich lese gerade die Tusculanae disputationes.

S.U., Mensa scriptoria

Meistens mache ich mir bei der Lektüre in den Büchern selbst Notizen am Textrand. In diesem Fall habe ich aber am Ende von Buch 1 festgestellt, dass mir die eine oder andere Beweisführung noch unklar war, weswegen ich noch mal das ganze Buch von Anfang an durchgehen wollte. Dabei sind diese Notizen zu Buch 1 entstanden.

  • 45 v. Chr. in Tusculum verfasst
  • aristotelischer Dialog zwischen magister und discipulus
  • 5 Bücher, je eine schola
  • Im Buch 1 geht es um den Beweis, dass der Tod ist kein Übel ist.

Erstes Buch: Der Tod ist kein Übel.

Nach dem Proömium (1-8), in dem Cicero die Leistungen von Römern und Griechen vergleicht und kurz über den Rahmen des Dialogs schreibt, wird die erste These präsentiert, die es zu verifizieren gilt:

Malum mihi videtur esse mors.

Cic. Tusc. 1.9.

Mit mir nicht immer völlig nachvollziehbaren Syllogismen wird diese Hypothese widerlegt, etwa folgendermaßen:

  • Ist der Tod ein Übel sowohl für den, der stirbt, als auch für die, die bleiben? – Das kann nicht sein, da alle sterben werden und alle Verstorbene kennen; sonst wäre das Leben ein reines Übel. (Vgl. 9.)
  • Die Toten können nicht darüber unglücklich sein, dass sie nicht mehr existieren, gerade weil sie nicht mehr existieren. (Vgl. 13.)

Age, iam concedo non esse miseros, qui mortui sint, quoniam extorsisti, ut faterer, qui omnino non essent, eos ne miseros quidem esse posse.

Cic. Tusc. 1.14.

Sind die, die leben, aufgrund des bevorstehenden Todes jedoch nicht miseri? – Mit einer feinen Aspektunterscheidung lautet die Antwort:

Emori nolo, sed me esse mortuum nihil aestimo.

Cic. Tusc. 1.15.

Da man nach dem Tod nicht mehr miser sein kann, ist das Totsein kein Übel, wohl nur das Absterben. Oder?

Nein, nicht mal das, denn das Sterben bedeutet einen Übergang zu einem Status, von dem bereits festgestellt wurde, er sei kein Übel:

Quia, quoniam post mortem mali nihil est, ne mors quidem est malum, cui proxumum tempus est post mortem, in quo mali nihil esse concedis: ita ne moriendum quidem esse malum est; id est enim perveniendum esse ad id, quod non esse malum confitemur.

Cic. Tusc. 1.16.

Ich verstehe nicht ganz, wem diese Logikspielereien ein Trost sein können, aber gut. Ich bin ja keine Philosophin.

Was IST aber der Tod? Und was passiert, wenn wir sterben? Dazu geben die verschiedenen philosophischen Schulen unterschiedliche Antworten, denn die einen glauben, dass der Tod die Trennung der Seele vom Körper ist, die anderen, dass Seele und Körper gleichzeitig sterben. Die, die an die Trennung von animus und corpus glauben, unterscheiden sich voneinander bezüglich des Zeitpunkts, wann die Trennung passiert:

Qui discedere animum censent, (a) alii statim dissipari, (b) alii diu permanere, (c) alii semper.

Cic. Tusc. 1.18.
  • (a) Epikureer
  • (b) Stoiker
  • (c) Platoniker

Die Lehren, die „spem adferunt“ (24), sind schließlich die, die für die Unsterblichkeit der Seele plädieren, welche dann nach dem Tod ihre Heimat im Himmel wieder erreicht (Platoniker, Pythagoreer):

posse animos, cum corporibus excesserint, in caelum quasi in domicilium suum pervenire.

Cic. Tusc. 1.24.

Wenn die Seele mit dem Körper stirbt, wird sie nicht unglücklich sein können, weil sie nicht mehr existiert; wenn sie weiterlebt, wird sie glücklich sein.

Quae est melior igitur in hominum genere natura quam eorum, qui se natos ad homines iuvandos tutandos conservandos arbitrantur?

Cic. Tusc. 1.32.

Ab 17 geht es um einen Katalog antiker Theorien rund um die Seele, die ich teilweise nicht hundertprozentig verstehe, weil ich nicht genug Platon (geschweige denn andere griechische Philosophen) gelesen habe. Der Kern der Aussage ist jedoch: Die Seele ist unsterblich und daher ist der Tod kein Übel.

Es macht anthropologisch betrachtet Sinn, an Götter und die Unsterblichkeit der Seele zu glauben, nicht jedoch an Schreckensbilder des Jenseits (vgl. auch 9).

Was antike Philosophen dazu sagen:

  • (39-41) Pythagoras, Platon, Empedokles: u.a. Zahlentheorien
  • (41) Dikaiarchos (Empedokles‘ Schüler) und Aristoxenos: Harmonie von Körper und Seele (zur Harmonietheorie vgl. auch Phaidon)
  • (42) Demokrit: Atomtheorie
  • (42-47) Panaitios: Elementtheorie (animus aus Luft); wundersame „Reise“ der Seele in den Himmel
  • (48f.) Kritik derjenigen, „qui naturae cognitionem admirantur“ (= vita contemplativa), also der Epikureer
  • (50-52) Kritik aller, die daran festhalten, dass die Seele nach dem Tod nicht weiterlebe: Epikureer, Dikiarchos, Aristoxenos
  • (53-55) Lob Platons, Kritik der Epikureer: Selbstbewegung der Seele (vgl. Phaidros) ➢ erster Unsterblichkeitsbeweis
  • (56-77): Göttliches an der Seele ➢ zweiter Unsterblichkeitsbeweis
    • (56): An der Seele ist etwas Göttliches, das bewirkt, dass wir weit mehr tun als nur erstreben und vermeiden (weitere Kritik der Epikureer).
    • (57-58): Gedächtnis nach Platon: Seele erinnert sich – Lernen als Wiedererinnerung (vgl. Menon)
    • (59-61) animus als Gedächtnis: Leistungen des Gedächtnisses; aus welchem Element und in welcher Gestalt?
    • (62-65): Erfindungen und Leistungen des Intellekts (Astronomie, Sprache, Dichtung usw., aber v.a. Philosophie, omnium mater artium) als göttliche Gaben
    • (66): Zitat aus der nicht erhaltenen Consolatio
    • (67-70): Fragen nach der Beschaffenheit und Sitz der Seele
    • (71-73): Tod des Sokrates (vgl. Apologie, Kriton, Phaidon) und zwei Wege der Seelen – je nach dem, ob man gut oder schlecht gelebt hat; Vergleich mit Sehergabe der Schwäne (aus der das sprichwörtliche carmen cygni stammt)
    • (74): römische Exempla
    • (75): tota enim philosophorum vita […] commentatio mortis est; zu lernen, wie man aus dem Körper einen Diener der Seele macht, die Seele aber vom Körper trennt, bedeutet sterben lernen (vgl. Phaidon)
    • (76-78): Rahmendialog; Skeptizismus und Unmöglichkeit sicherer Erkenntnis
    • (79-81): Panaitios vs. Platon bzgl. Unsterblichkeit der Seele

Tota enim philosophorum vita, ut ait idem [Socrates], commentatio mortis est.

Cic. Tusc. 1.75.

Oblitine sumus hoc nunc nobis esse propositum, cum satis de aeternitate dixissemus ne si interirent quidem animi, quicquam mali esse in morte?

Cic. Tusc. 1.81.

Selbst wenn die Seele nicht unsterblich sein sollte, stellt der Tod kein Übel dar (82-92):

  • (82): Mit dem Tod endet die Empfindung.
  • (83-90): Tod und Verlust von Gütern: Endet mit dem Tod die Empfindung, kann man nach dem Tod nichts carēre.

Nec enim potest esse miser quisquam sensu perempto.

Cic. Tusc. 1.89.
  • (91): Notwendigkeit, trotzdem tugendhaft aeterna zu schaffen (die Argumentation scheint mir an dieser Stelle ziemlich wackelig…); der Tod betrifft die Lebenden nicht und ohne Empfindung nach dem Tod auch nicht die Verstorbenen.
  • (92): Schlaf als Bild des Todes: Bewusstlosigkeit ist kein Übel.

Ante tempus mori bedeutet nichts (vgl. Sen. ep. 63) und ist kein Übel. Es gibt keine (ge)rechte Zeit zum Sterben (93-102).

Die Sorge um den Leichnam macht keinen Sinn (102-109):

Durior Diogenes, et si quidem eadem sentiens, sed ut Cynicus asperius: proici se iussit inhumatum. Tum amici: ‚Volucribusne et feris?‘ ‚Minime vero‘ inquit, ’sed bacillum propter me, quo abigam, ponitote.‘ ‚Qui poteris?‘ illi, ’non enim senties.‘ ‚Quid igitur mihi ferarum laniatus oberit nihil sentienti?‘

Cic. Tusc. 1.104. 🙃

Am gelassensten stirbt, wer sich damit trösten kann, dass er ein lobenswertes Leben geführt habe:

Sed profecto mors tum aequissimo animo oppetitur, cum suis se laudibus vita occidens consolari potest.

Cic. Tusc. 1.109.

Nam si supremus ille dies non extinctionem, sed commutationem adfert loci, quid optabilius?

Cic. Tusc. 1.117.

Agamus haec et ea potissimum, quae levationem habeant aegritudinum formidinum cupiditatum, qui omnis philosophiae est fructus uberrimus.

Cic. Tusc. 1.119.

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Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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