Das sind meine Notizen zu den Tusculanae disputationes. Heute geht es ums dritte Buch, in dem die Frage beantwortet wird, ob Kummer einen Weisen befallen kann, kurzum: Werden Philosophen depressiv?

  • 45 v. Chr. in Tusculum verfasst
  • Brutus gewidmet
  • aristotelischer Dialog zwischen magister und discipulus
  • 5 Bücher, je eine schola
  • Buch 1: Der Tod ist kein Übel ist
  • Buch 2: Wie man Schmerz erträgt
  • Buch 3: Kann Kummer einen Weisen befallen?

Drittes Buch de sapientis aegritudine

Proömium (1-6)

In diesen Vorreden geht es Cicero immer um die Philosophie allgemein. Diesmal spricht er von der Philosophie als animi medicina (3.6).

Wenn wir doch aus corpus und animus bestehen, warum gibt es für den Körper eine sogar von Gottheiten (Apoll und Asklepius) geschützte Heilkunst, während die Krankheiten der Seele, wie aegritudo und cupiditas, vernachlässigt werden.

Die Heilmittel der Seele kommen nicht von außen, sondern müssen in uns selber gesucht werden.

est profecto animi medicina philosophia; cuius auxilium non ut in corporis morbis petendum est foris, omnibusque opibus et viribus, ut nosmet ipsi nobis mederipossimus, elaborandum est.

Cic. Tusc. 3.6.

Die These der heutigen Lektion (7-13)

Videtur mihi cadere in sapientem aegritudo.

Cic. Tusc. 3.7.

Cicero, dessen ausgesprochenes Ziel ist es, die griechische Philosophie nach Rom zu übertragen, steht vor nicht wenigen lexikalischen Schwierigkeiten, sodass es im Buch 3 u. a. um terminologische Fragen geht:

  • Es würde nicht funktionieren, πάθη mit morbus wiederzugeben, weil das griechische Wort alle Gemütsbewegungen bezeichnen kann. Er entscheidet sich daher für animi perturbatio als Hyperonym aller Gemütsbewegungen, die der Vernunft nicht gehorchen. (7)
  • insaniamentis aegrotatio et morbus‚, ‚aegrotus animus‚ (8)
    Für den Stoiker gilt: Omnes insipientes insaniunt. Sanitatem enim animorum positam in tranquillitate quadam constantiaque censebant. (9)
  • amentia: ‚adfectio lumine mentis carentem‚; es ist Synonym von dementia (10)
    Man muss jedoch anmerken, dass viele trotz Ciceros Worte einen semantischen Unterschied zwischen amentia und dementia feststellen, dem zufolge amentia ‚den Zustand eines Menschen, der seines Verstandes beraubt wurde‘ (also dem furor nahe), dementia ‚den Zustand eines unvernünftig handelnden Menschen‘. Siehe dazu Forcellini, s. v. amentia.
  • sapientia: ‚sanitas animi‚; insipientia: ‚insanitas quaedam‚ (10)
  • Nam die mens der sani ist nicht betrübt; verliert man jedoch die Gewalt über sie, ist man effrenatus (e. g. libidine oder iracundia). Iracundia als ‚ulciscendi libido‚ ist ein Hyponym von libido.
  • Während die Griechen für einen solchen Gewaltverlust die Wörter μανία und μελαγχολία haben, unterscheidet das Lateinische zwischen insania, die sich gerne der stultitia gesellt, und furor. Stultitia macht es unmöglich, die Pflichten nachzugehen, die die Stoiker officia media (↔︎ officia perfecta) nannten (vgl. Cic. off. 3.14); furor macht blind allem gegenüber. Gegen insania und stultitia ist der Weise immun. (11)

… tamen eius modi est, ut furor in sapientem cadere possit, non possit insania.

Cic. Tusc. 3.11.

Obwohl es menschlich ist, dass der Schüler glaubt, Weise könnten von Kummer befallen werden – humanum id quidem, quod ita existumas (12) –, wird er nun – auf ziemlich umständliche und mir nicht immer völlig nachvollziehbare Art und Weise – eines Besseren belehrt.

Aegritudo ist eine Krankheit der Seele, die darauf zurückzuführen ist, dass wir Zartes und Weiches (tenerum quiddam atque molle) in uns haben, das erschüttert werden kann – non enim silice nati sumus. (12) Um diese Krankheit zu heilen, ist es nötig, alles loszuwerden, was uns weich macht, und nur das Allernötigste zurückzulassen, um nicht vollkommen stumpf und roh zu sein. Wir können heilen, wenn wir es wollen:

Nos autem audeamus non solum ramos amputare miseriarum, sed omnes radicum fibras evellere. Tamen aliquid relinquetur fortasse; ita sunt altae stirpes stultitiae; sed relinquetur id solum quod erit necessarium. […] Sanabimur, si volemus.

Cic. Tusc. 3.13.

Ich habe die Tage ein Buch über positive Psychologie von Shawn Achor gelesen (The Happiness Advantage: The Seven Principles of Positive Psychology That Fuel Success and Performance at Work), in dem Untersuchungen vorgestellt werden, die genau den Wert dieses Willens unterstreichen: Wer denkt, dass er Kontrolle über die eigene Zukunft hat, sprich wer sich auch in schwierigen Situationen auf die Aspekte konzentrieren kann, die er ändern und verbessern kann, wird glücklicher, zufriedener, erfolgreicher. Sanabimur, si volemus.

Kardinaltugenden und Syllogismen der Stoiker (14-21)

Cicero unterscheidet zwischen fidens ’selbstbewusst‘ und confidens ‚zuversichtlich‘. Wer fidens ist, fürchtet sich nicht.

Fortitudo (14)

  • Wen Kummer befällt, fürchtet sich und ist betrübt.
  • Fortitudo hält Kummer fern.
  • Weise (sapiens) kann nur sein, wer auch tapfer (fortis) ist.
  • Den Weisen kann also kein Kummer befallen.

Sapientia (15)

  • Wer fortis ist, ist auch magni animi.
  • Wer magni animi ist, ist invictus.
  • Wer invictus ist, verachtet menschliche Angelegenheiten als unter seinem Niveau.
  • Menschliche Angelegenheiten zu verachten, ist unmöglich, wenn wir depri sind.
  • Entsprechend sind fortes nicht depri.
  • Alle Weisen sind fortes.
  • Also: keine agritudo für den Weisen.

(Hier habe ich ein paar Tipps zusammengetragen, wie man mehr Mut im Alltag finden kann.)

Conturbatus animus non est aptus ad exequendum munus suum. Munus autem animi est ratione bene uti; et sapientis animus ita semper adfectus est, ut ratione optime utatur; numquam igitur est perturbatus.

Cic. Tusc. 3.15.

Temperantia (16ff.)

Etwas Ähnliches bezeichnen die Termini temperantia, moderatio, modestia, frugalitas, σωφροσύνη.

Das lateinische Wort, das am besten σωφροσύνη wiedergibt, ist frugalitas. Das Adjektiv zu frugalitas ist frugi und ist indeklinabel.

Frugi bzw. frugalitas beschreibt hier einen Menschen als aufrecht, klug, selbstbeherrscht, unbestechlich und uneigennützig sowie maßvoll in all seinen Handlungen. Vgl. IV 36. Frugalitas entspricht also weigehend dem griechischen σωφροσύνη.“ Siehe auch Forcellini.

(Kirfel, E.A. (Hg.) (1997): Cicero, Tusculanae diputationes. Gespräche in Tusculum. Stuttgart: Reclam, S. 510.)

  • Frugi ist weitreichender als χρήσιμος ‚utilis‘; frugalitas ist auch mehr als ἀβλάβεια, was eher ‚innocentia‘ bedeutet. Frugalitas schließt beide Vorzüge ein.
  • Frugalitas bedingt außerdem die anderen drei Kardinaltugenden, fortitudo, iustitia, prudentia:
    • Wenn man besonnen ist, verfällt nicht aus Furcht in Feigheit und Trieblosigkeit: fortitudo ↔︎ ignavia.
    • Wenn man besonnen und maßvoll ist, verfällt man nicht in habgierige Verhalten, die ungerecht wären: iustitia ↔︎ iniustitia.
    • Wenn man besonnen ist, lebt man bewusst und nicht planlos: prudentia ↔︎ stultitia.
  • Frugalitas bedingt auch Beständigkeit: „adversantem libidini moderata constantiam„: constantia ↔︎ nequitia.
  • Wer frugi ist, ist moderatus et temperans, also auch constans.
  • Wer constans ist, ist quietus.
  • Wer quietus, ist perturbatione omni vacuus, also auch aegritudine.

Der wahre Weise kennt außerdem:

  • keine Wut (19);
  • kein Neid (den Cicero invidentia statt invidia nennen will) und kein Mitleid (misericordia), denn ersterer wäre aegritudo ex alterius rebus secundis, zweiteres aegritudo ex alterius rebus adversis (20f.).

Es geht hier also um die Leidenschaftslosigkeit als stoisches Ziel: ἀπάθεια.

Peripatetiker (22-23)

omne enim malum, etiam mediocre malum est.

Cic. Tusc. 3.22.

Der Weise sieht aber zu, dass er gar keinem Übel ausgesetzt ist; er vermeidet molestiam sollicitudinem angorem, kurzum aegritudinem (3.22).

Nun frage ich mich: Steht das nicht in Widerspruch zu dem, was in 2.17 gesagt wird: Si fortis est in perferendo, officio satis est? Wenn es reicht, den Schmerz mit Würde auszuhalten, heißt es doch, dass man ihn durchaus spüren kann und sich dessen bewusst sein soll. Warum sagt er nun: nos autem id agimus, ut id [= malum] in sapiente nullum sit omnino?! Warum spielt Cicero hier den Stoiker?

Für diese Krankheiten der Seele hat das Griechische das Wort πάθος, während man im Lateinischen besser unterscheiden kann zwischen animi aegritudo, libido, immoderata laetitia. Auch metus steht der aegritudo nah.

Da dies alles mit Schmerz verbunden ist, gilt es, die Ursachen dieses Schmerzes zu ergründen.

Die Ursachen des Kummers (24-31)

Vier Typen von Ursachen aus den möglichen Kombinationen zwischen: Gut und Übel einerseits und gegenwärtig und bevorstehend andererseits.

  1. ex opinione boni
    1. voluptas gestiens: praeter modum elata laetitia, opinione praesentis magni alicuius boni
    2. cupiditas/libido: inmoderata adpetitio opinati magni boni rationi non obtemperans
  2. ex opinione mali
    1. metus: opinio magni mali inpendentis
    2. aegritudo: opinio magni mali praesentis

His autem perturbationibus […] omnibus viribus atque opibus repugnandum est, si volumus hoc, quod datum est vitae, tranquille placideque traducere.

Cic. Tusc. 3.25.

Spätestens jetzt weiß ich, warum ich nicht Philosophin bin. Wie dem auch sei: Was ist eigentlich mit der Vergangenheit? Die kann ja auch zur Qual werden und die tranquillitas animi aus dem Fenster werfen. Die Liste ist definitiv unvollständig.

Schaut man auf den Kummer: Der kann den wahren Weisen nicht befallen. Jeder übermäßige Affekt sei miseria, aegritudo jedoch carnificina!

Nam cum omnis perturbatio miseria est, tum carneficina est aegritudo. Habet ardorem libido, levitatem laetitia gestiens, humilitatem metus, sed aegritudo maiora quaedam, tabem cruciatum adflictationem foeditatem, lacerat exest animum planeque conficit. Haec nisi exuimus sic ut abiciamus, miseria carere non possumus.

Cic. Tusc. 3.27.

Ich bin offensichtlich ein böser Mensch: Wie kann jemand, der frei von Depression ist, sie so akkurat beschreiben? 🤔

Epikur: Kummer ist opinio mali.

vs.

Kyrenaiker: Kummer ist opinio mali insperati et necopinati.

Haec igitur praemeditatio futurorum malorum lenit eorum adventum, quae venientia longe ante videris.

Cic. Tusc. 3.29.

Auch hier bin ich nur bedingt einverstanden: Über ein bevorstehendes Übel Bescheid zu wissen, kann zwar helfen, damit Frieden zu schließen, führt jedoch meistens zum Grübeln und vergrößert somit den Kummer. Zumindest der Fürst Lew Myschkin, Dostojewkis Idiot, würde mir Recht geben 😅:

[Es geht um die Guillotine.] »Es ist wenigstens noch gut, daß nicht viel Quälerei dabei ist, wenn der Kopf abfliegt«, bemerkte er.

»Wissen Sie was?« erwiderte der Fürst lebhaft. »Da sagen Sie das nun, und alle Leute sagen es ebenso wie Sie, und die Maschine, die Guillotine, ist ja auch zu diesem Zweck erfunden. Aber mir ging gleich damals ein gewisser Gedanke durch den Kopf: wie, wenn das sogar noch schlimmer wäre? Das scheint Ihnen lächerlich und seltsam; aber wenn man etwas Einbildungskraft besitzt, so kann einem wohl auch ein solcher Gedanke in den Kopf kommen. Überlegen Sie nur: nehmen wir zum Beispiel die Folter; dabei gibt es Schmerzen und Verwundungen, das heißt körperliche Qualen, und daher lenkt dies alles den Gefolterten von dem seelischen Leiden ab, so daß er nur von den Wunden Qualen empfindet bis zu dem Augenblick, wo er stirbt. Aber der ärgste, stärkste Schmerz wird vielleicht nicht durch Verwundungen hervorgerufen, sondern dadurch, daß man mit Sicherheit weiß: nach einer Stunde, dann: nach zehn Minuten, dann: nach einer halben Minute, dann: jetzt in diesem Augenblick wird die Seele aus dem Körper hinausfliegen, und man wird aufhören, ein Mensch zu sein, und daß das sicher ist; die Hauptsache ist, daß das sicher ist.

https://www.projekt-gutenberg.org/dostojew/idiot/chap002.html

Da also, fährt Cicero fort, die Vorbereitung das Übel verkleinert, sollen wir immer vorausschauen und überlegt handeln. Unser Cicero war offensichtlich kein besonders spontaner Mensch. Ich frage mich bei der Lektüre der Autoren, die ich besser kenne, immer wieder, welche Persönlichkeit sie nach Myers-Briggs wohl gehabt haben, und bei Cicero vermute ich ESTJ.

Marcus Crassus soll immer den gleichen heiteren Gesichtsausdruck gehabt haben, nicht einmal gelacht habe er, denn sein Geist habe nie eine Veränderung erlebt. (31)

Epikurs Standpunkt und Widerlegung (32-51)

Das Gegenargument, an das wohl jeder Leser nun denkt und den es zu widerlegen gilt, stammt von Epikur und lautet: Lebt nicht in ewigem Unglück, wer sich immer darüber nachdenkt, was alles schief laufen kann?

qui autem semper cogitavisset accidere posse aliquid adversi, ei fieri illud sempiternum malum

Cic. Tusc. 2.32.

Wie vermeidet man also Epikur zufolge Unglück?

  1. durch Vermeidung unglücklichen Gedankens (avocatione a cogitanda molestia)
  2. durch Hinwendung zur Betrachtung von Genüssen (revocatione ad contemplandas voluptates)

(Cic. Tusc. 2.33)

Jene Ablenkung ist aber in Anbetracht des Übels nicht möglich!

(36): Kardinaltugenden

Vita beata nach Epikur, von Zeno gehört:

eum esse beatum, qui praesentibus voluptatibus frueretur confideretque se fruiturum aut in omni aut in magna parte vitae dolore non interveniente, aut si interveniret, si summus foret, futurum brevem, sin productior, plus habiturum iucundi quam mali; haec cogitantem fore beatum, praesertim cum et ante perceptis bonis contentum esse et nec mortem nec deos extimesceret.

Cic. Tusc. 3.38.

Voluptates lindern den Schmerz aber nicht, weil sinnlich wahrnehmbare Lust nicht gegen den Kummer hilft. Cicero stimmt mit Epikur überein, dass man die Gedanken vom malum ablenken und zum bonum hinwenden soll, aber nicht darüber, was Gut und Übel jeweils sind. Auch Epikur unterstreicht ja, wie zentral Tugendhaftigkeit sei, um glücklich leben zu können.

Negat Epicurus iucunde posse vivi, nisi cum virtute vivatur, negat ullam in sapientem vim esse fortunae, tenuem victum antefert copioso, negat ullum esse tempus, quo sapiens non beatus sit. Omnia philosopho digna, sed cum voluptate pugnantia.

Cic. Tusc. 3.49.

Nur diese voluptas, Mann oh Mann, mit dieser voluptas kann sich Cicero partout nicht anfreunden. Das höchste Gut sei für Cicero in der Tugend, also im Geist, zu suchen, für Epikur in der Lust und daher im Körper (50).

Kyrenaiker (52-60)

qui tum aegritudinem censent existere, si necopinato quid evenerit.

Cic. Tusc. 3.52.

Alles Plötzliche erscheint schlimmer, weil (1) die Zeit fehlt, um die Bedeutung der Ereignisse zu betrachten und (2) man sich Vorwürfe macht, wenn man das Übel hätte kommen sehen können.

Philosophie als animi medicina heilt alle Wunden, frische wie alte, ja sogar Narben. Unabhängig davon, wie groß uns ein (auch frisches oder plötzliches) Übel erscheint, sollte es darum gehen, das Wahre zu untersuchen. Diese ratio veri reperiendi sollte man zur Identifizierung vom Bösen wie vom Guten anwenden.

saepe est etiam sub palliolo sordido sapientia.

Cic. Tusc. 3.56.

An dieser Stelle gibt Cicero als Beispiel die Unterscheidung zwischen paupertas und egestas an. Lesen Sie dazu den Artikel Wie sagt man ARMUT auf Latein? für einen ausführlichen Überblick der Teilsynonyme.

Umgang mit Trauer und Trost (57-79)

Mit manchen plakativen Aussagen Ciceros bin ich überhaupt nicht einverstanden, z.B. mit der folgenden zu Trauer und unerfülltem Kinderwunsch:

commemorandis exemplis orbitates quoque liberum praedicantur, eorumque, qui gravius ferunt, luctus aliorum exemplis leniuntur. sic perpessio ceterorum facit, ut ea quae acciderint multo minora quam quanta sint existimata, videantur.

Cic. Tusc. 3.58.

Ich erlebe bei meinen Mitmenschen leider oft auch den gegenteiligen Effekt: einen Wettbewerb des Leidens, bei dem jeder behauptet, ihm selber habe es ja am schlimmsten erwischt. Auch in der Trauer kann man hochmutig werden.

Lesen Sie Wie Weise trauern zu Senecas 63. Brief, in dem eine sehr ähnliche Sicht der Trauer und der Fehler beim Trauern erklärt werden.

Schmerz aber ist, woran Cicero mit Euripides erinnert, eine sehr gerechte Angelegenheit, denn:

mortalis nemo est quem non attingat dolor
morbusque

Cic. Tusc. 3.59.

Beim Versterben eines nahen Menschen fühlt man sich zur Trauer verpflichtet, was zu übermäßiger Schau besagter Trauer führt. Teilweise zwingt man sich regelrecht zum Schmerz, weil er sich gehört, und verbietet sich absichtlich Freude, wenn diese zwischendurch aufkommt. Weist man aber Freude zurück, gewinnt man nichts. Was für Vorteile hat der ἑαθτὸν τιμωρούμενος?

So weit so gut. Das kann man noch nachvollziehen, wobei es bei Seneca meines Erachtens besser formuliert ist. Die Argumentation wird an dieser Stelle aber sehr dünn und nicht nachvollziehbar:

Es gehört sich nicht in der Trauer zu lachen, scherzen oder sonst Spaß haben, sodass Mütter Kinder, die dann Quatsch machen, bestrafen und zum Weinen zwingen. Okay. Cicero schließt dann die Frage an: ipsa remissio luctus cum est consecuta intellectumque est nihil profici maerendo, nonne res declarat fuisse totum illud voluntarium? Nein, gar nicht. Das ist kein logischer Schluss. Nur weil sich ein Zustand mit der Zeit ändert und man nicht auf ewig trauern muss, heißt nicht, dass eine anfängliche Verzweiflung vermeidbar oder gar willentlich wäre.

Natürlich gibt es Situationen, in denen man reagieren muss und sich nicht lange erlauben kann zu trauern, wie Cicero in (65) erwähnt, aber es scheint mir sehr ungesund, wenn man sich nicht die Zeit zum Trauern nimmt, weil in potestate est abicere dolorem (66). Erstens ist es nur sehr bedingt in potestate und zweitens ist die Verdrängungsgefahr zu groß.

Quid est autem quod plus valeat ad ponendum dolorem, quam cum est intellectum nil profici et frustra esse susceptum?

Cic. Tusc. 3.66.

Genau hier sehe ich Ciceros größten Fehler, denn Schmerz hilft. Er zwingt uns nämlich dazu, innezuhalten und für uns zu sorgen. Er vergeht nur, wenn man ihn erkennt, anerkennt und zulässt. Die Alternative ist Verdrängung durch Beschäftigung, Ablehnung, Alkohol oder sonstiges Verhalten, das definitiv keines Moralphilosophen würdig wäre.

Ein wiederholter Schmerz wird kleiner, wir stumpfen mit der Gewöhnung ab. Daraus schließt Cicero:

defetigatio igitur miseriarum aegritudines cum faciat leniores, intellegi necesse est non rem ipsam causam atque fontem esse maeroris.

Cic. Tusc. 3.67.

Der Schmerz ist eine Wahl und ist von unserer Sicht der Dinge bedingt. Sehen wir ein, dass er nichts nützt, können wir ihn ablegen.

Sich dem Kummer hinzugeben, ist nicht naturgegeben, sondern liegt im falschen Urteil des Betrachters. Wir seien nicht zur Trauer verpflichtet, da diese nichts bringe.

(72) Warum nehmen wir also Schmerz auf uns? Es gibt drei Gründe:

  1. die falsche Vorstellung, dass Kummer unausweichlich sei;
  2. die falsche Vorstellung, Trauer könne dem Toten einen Gefallen erweisen;
  3. den weibischen Aberglauben, die Götter würden uns nicht zürnen, wenn wir uns niedergeschlagen zeigten.

(73) Wie sieht es mit Trost aus? Wenn der Schmerz nicht in der Sache, sondern im Fehlverhalten des Empfindenden liegt, macht Trost folgerichtig nicht viel Sinn. Wenn außerdem der Tröstende noch vom eigenen Unglück zu sprechen komme, gebe man bloß eine eigene Schuld zu.

(74) Was lindert den Schmerz wirklich? Die Zeit. Jedoch nicht im naiven Sinne von „“Die Zeit heilt alle Wunden“, sondern durchs lange Nachdenken darüber, dass in der Sache kein Übel liege und Kummer nichts bringe:

cum constet aegritudinem vetustate tolli, hanc vim non esse in die positam, sed in cogitatione diuturna. […] cogitatio igitur diuturna nihil esse in re mali dolori medetur, non ipsa diuturnitas.

Cic. Tusc. 3.74.

Weiter kritisiert Cicero die Peripatetiker und die μεσότης-Theorie – Hic mihi adferunt mediocritates. (3.74) – folgendermaßen: Ist der Kummer naturgegeben, wird sein Ausmaß von der Sache selbst festgelegt; ist er dagegen von der Einstellung des Menschen gegeben, muss das falsche Urteil komplett beseitigt werden.

Welche sind die Aufgaben des Tröstenden? Naja… ich bin überhaupt nicht einverstanden, aber diese sind es Cicero zufolge (75):

  1. den Kummer von Grund auf beseitigen oder
  2. den Kummer lindern oder
  3. den Kummer möglichst gründlich wegnehmen oder
  4. den Kummer unterdrücken und nicht zulassen, dass er sich ausbreitet, oder
  5. vom Kummer ablenken.

Die Aufgabe des Tröstenden in der Philosophie – ein kleiner Katalog:

sunt qui unum officium consolantis putent <docere> malum illud omnino non esse, ut Cleanthi placet; sunt qui non magnum malum, ut Peripatetici; sunt qui abducant a malis ad bona, ut Epicurus; sunt qui satis putent ostendere nihil inopinati accidisse, nihil mali. Chrysippus autem caput esse censet in consolando detrahere illam opinionem maerentis, qua se officio fungi putet iusto atque debito.

Cic. Tusc. 3.76.

Und hier wenig überraschend die Trostmittel:

Erit igitur in consolationibus prima medicina docere aut nullum malum esse aut admodum parvum, altera et de communi condicione vitae et proprie, si quid sit de ipsius qui maereat disputandum, tertia summam esse stultitiam frustra confici maerore, cum intellegas nihil posse profici.

Cic. Tusc. 3.77.

Dass ich nicht lache! Was ist denn das für ein Trost?! Erstens: Du hast nichts. Zweitens: Du bist nichts Besonderes. Drittens: Wenn du immer noch leidest, bist du auch noch dumm. Cicero, der Empathiemeister! 🤦🏻‍♀️

Schluss (80-84)

Zusammenfassend: Kann den Weisen Kummer überfallen? Der Weise leidet entweder gar nicht oder nur ein bisschen, was er aber durch die Weisheit und das Wissen, dass Schmerz nichts bringt, schnell überdeckt. Kummer ist nicht naturgegeben, sondern ein „Angebot“ der Natur, das man mithilfe der Philosophie ablehnen kann – eine zwar schwierige Aufgabe, aber alles, was sich im Leben lohnt, ist schwierig.

magnum opus et difficile, quis negat? quid autem praeclarum non idem arduum?

Cic. Tusc. 3.84.

Jeden Sonntag erscheint ein neuer Artikel. Bis der nächste herauskommt, könnten Sie diese auch interessieren:




Abonnieren Sie meinen Newsletter!

Bibliographie

Kirfel, E.A. (Hg.) (1997): Cicero. Tusculanae disputationes. Lateinisch / Deutsch. Stuttgart: Reclam.


Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

0 Kommentare

Schreiben Sie einen Kommentar

Avatar placeholder

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert