Der Aspekt ist eine grammatische Kategorie, ohne die kein Lateinlerner auskommt.

Faciēbam und fē. Beides heißt ‚ich habe gemacht‘ – doch jeweils anders.

Es gibt aber auch versteckte Bereiche der lateinischen Grammatik, in denen der Aspekt zum Tragen kommt.

Welche?

Schauen wir uns mal den Aspekt in seiner Gesamtheit an.


Das Lateinische kennt im Indikativ neben dem Plusquamperfekt zwei weitere Vergangenheitstempora – Imperfekt und Perfekt –, die sich nicht hinsichtlich der Zeit, sondern der Zeitdarstellung voneinander unterscheiden:

Perfekt: perfektiv (‚abgeschlossen‘), resultativ (‚das Ergebnis ausdrückend‘)
Imperfekt: durativ (‚andauernd‘), iterativ (‚wiederholend‘), konativ (‚den Versuch ausdrückend‘)

Diese morphologisch markierte Verbalkategorie nennt man Aspekt.

Vom Aspekt zu unterscheiden, sind inhärente Eigenschaften der Verbalsemantik, die man in Abgrenzung zum Aspekt Aktionsart nennt – so etwas wie inkohativ, egressiv usw. Nachdem ich letzte Woche alles, was man über Aktionsart wissen sollte, und mehr geschrieben habe, geht es heute weiter mit dem Aspekt.

Jeder deutschsprachige Lateinlerner kommt früher oder später an den Punkt, an dem er sich mit dem Unterschied zwischen den zwei Vergangenheitsformen Imperfekt und Perfekt anfreunden muss. Zwar hat auch das Deutsche neben dem Plusquamperfekt zwei weitere Vergangenheitstempora – Präteritum und Perfekt –, doch diese unterscheiden sich fast ausschließlich im Register voneinander: Das Präteritum ist das Erzähltempus der formelleren geschriebenen Sprache, während in der sog. konzeptionellen Mündlichkeit das Perfekt bevorzugt wird.

Anders funktioniert das Lateinische. Da ist die Unterscheidung zwischen Perfekt und Imperfekt keine Frage des Registers, sondern des Aspekts.

Der Aspekt ist eine flexionsmorphologisch markierte Kategorie des Verbs. Im Gegensatz zur Aktionsart, die eine semantische Kategorie ist, ist der Aspekt grammatikalisiert.

In manchen Grammatiken (so etwa auch in RH §209,2) wird der Aspekt als Unterkategorie der Aktionsart dargestellt. Das ist ungünstig, weil Aktionsart auch anderen grammatischen Kategorien (etwa Wortbildung) gegenübergestellt wird. Wenn Sie mehr über die Aktionsart wissen wollen, klicken Sie hier.

Diese Kategorie, die zur Beschreibung von slavischen Sprachen entstanden ist, spielt auch in vielen anderen eine mehr oder weniger große Rolle – im Deutschen eine sehr marginale, im Lateinischen jedoch eine größere.

Die zwei wichtigsten Bereiche im Bezug auf den Aspekt sind die Unterscheidungen

  • zwischen Perfektiv und Imperfektiv und
  • zwischen Progressiv und Nicht-Progressiv.

Fürs Lateinische ist Ersteres zentral.

Perfektiv und Imperfektiv

Die Regeln

Im Lateinischen kommt wird der Aspekt insbesondere durch die Tempora Imperfekt und Perfekt des Indikativs zum Ausdruck. Beide Tempora drücken Handlungen und Zustände in der Vergangenheit aus. Das Perfekt (< perficere ‚vollenden‘) wirkt dabei perfektiv, drückt also ein abgeschlossenes Ereignis der Vergangenheit aus, oder resultativ und kennzeichnet ein Ergebnis oder einen Ausgang, während das Imperfekt (‚unvollendet‘) den durativen (‚andauernd‘), iterativen (‚wiederholend‘) oder konativen (‚einen Versuch wiedergebend‘) Aspekt ausdrückt.

Ich finde das Beispiel im RH §207 richtig gut gewählt, weil es den unterschiedlichen Aspekt des Lateinischen durch die Aktionsart zweier deutscher Verben deutlich kennzeichnet:

  • Imperfekt: ferēbam ‚ich trug‘ (andauernd)
  • Perfekt: tulī ‚ich brachte‘ (abgeschlossen, punktuell)

Das Perfekt

Das historische Perfekt ist das Tempus der Erzählung und wird verwendet, um punktuelle Ereignisse in der Vergangenheit darzustellen (perfektiver Aspekt):

His rebus cognitis Caesar Gallorum animos verbis confirmavit pollicitusque est sibi eam rem curae futuram.

Caes. B.G. 1.33.

In dieser Verwendung konkurriert das Perfekt mit dem historischen Präsens und dem historischen Infinitiv, wobei feine Unterschiede in der Erzählweise zwischen den drei Tempora festgestellt werden können:

  • Das historische Perfekt ist dabei das unmarkierte Erzähltempus, sprich das „normale“.
  • Das historische Präsens bewirkt, dass die Erzählung gegenwärtiger und dadurch lebhafter wird – ähnlich wie im Deutschen: Ich machte gerade unbesorgt einen Spaziergang, da kommt mir ein schreiender Mann entgegen.
  • Auch der historische Infinitiv lässt die Erzählung der Ereignisse oder die Darstellung von Zuständen eindringlicher wirken. Er wird nicht einzeln verwendet, sondern fast immer in einer Reihe von Sätzen, und auch nur im Hauptsatz. Im Gegensatz zum Perfekt kann er auch iterativen Charakter haben.

Alternativ kann das Perfekt den resultativen Aspekt zum Ausdruck bringen:

  • nōscō ‚ich lerne kennen‘; nōvī ‚ich habe (etwas) kennengelernt‘, Resultat: ‚ich weiß‘ es nun
  • cōnsuēscō ‚ich gewöhne mich‘; cōnsuē ‚ich habe mich (daran) gewöhnt‘, etwas zu tun, Resultat: ‚ich pflege‘, es zu tun
  • pereō ‚ich gehe verloren‘, ‚ich gehe zugrunde‘; periī ‚ich bin zugrundegegangen‘, Resultat: ‚ich bin verloren‘
  • vincō ‚ich besiege‘; vīcī ‚ich habe gesiegt‘, Resultat: ‚ich bin Sieger‘
  • senēscō ‚ich werde alt‘; senuī ‚ich bin alt geworden‘, Resultat: ‚ich bin alt‘

Von ein paar wenigen Verben ist die Präsensform geschwunden, sodass nur das Perfekt in resultativer (also präsentischer) Bedeutung bleibt. Das sind sog. verba defectiva, d.h. Verben, bei denen einige Formen synchron komplett fehlen – in diesem Fall Präsens und Imperfekt:

  • ōdī ‚ich hasse‘
  • meminī ‚ich erinnere mich‘

(Dass die Präsensformen geschwunden sind, erkennen wir synchron an Ableitungen wie reminīscī und an vereinzelten Belegen von ?odiāre.)

Wie an den obigen Beispielen schon deutlich zu sehen ist, verlieren fientive Verben im Perfekt das Infix -sc-. Das geschieht bei allen Verben mit -sc-, weil der resultative Aspekt des Perfekts inhaltlich inkompatibel ist mit der fientiven Bedeutung dieser Verben: Was noch im Werden ist, kann nicht das Ergebnis des Werdens sein! Zum Beispiel: Wenn ich gerade alt werde (senēscō), kann ich nicht schon alt (geworden) sein (senuī). Da -sc- den Prozess des Werdens ausdrückt, kann es im Perfekt nicht mehr vorhanden sein, weil man damit das Resultat des Werdens meint. An dieser Stelle verketten sich aufgrund des Aspekts flexions- und wortbildungsmorphologische Merkmale.

Das Imperfekt

Das Imperfekt hat durativen Aspekt und drückt daher Zustände und Geschehen in der Vergangenheit so aus, dass weder Anfang noch Ende ins Auge gefasst werden (imperfektiv):

Caesar, quod memoria tenebat L. Cassium consulem occisum exercitumque eius ab Helvetiis pulsum et sub iugum missum, concedendum non putabat; neque homines inimico animo, data facultate per provinciam itineris faciundi, temperaturos ab iniuria et maleficio existimabat.

Caes. B.G. 1.7.

Iterativ bedeutet, dass man ein punkutelles Ereignis als sich in der Vergangenheit wiederholend darstellt:

Helvetii iam per angustias et fines Sequanorum suas copias traduxerant et in Haeduorum fines pervenerant eorumque agros populabantur.

Caes. B.G. 1.11.

Zwischen dem durativen und iterativen Aspekt kann man im Kontext oft gar nicht unterscheiden.

Schließlich kann das Imperfekt konativen Charakter haben, wenn er einen Versuch in der Vergangenheit ausdrückt:

Num dubitas id imperante me facere, quod iam tua sponte faciebas?

Cic. Catil. 1.13.

Wie man schon am obigen Beispiel sieht – und im folgenden vielleicht noch besser –, ist das imperfectum de conatu vom Sinn her sehr nah an einem Irrealis:

Mirabor te iis armis uti, quae tibi lex dabat, noluisse.

Cic. Planc. 45.

Wenn ich mir diese funktionale Nähe vor Augen führe, wird mir deutlicher, wie es zu den Umschreibungen für den Irrealis der Vergangenheit im Italienischen – mit Indikativ Imperfekt statt condizionale composto und congiuntivo passato – kommt: se c’era, era meglio pro se ci fosse stato, sarebbe stato meglio.

Cum inversum

Den Unterschied zwischen Perfekt und Imperfekt kann man sehr gut in Sätzen mit dem sog. cum inversum sehen, in denen oft Beides vorkommt: Imperfekt (oder Plusquamperfekt) im übergeordneten Satz und Perfekt im cum-Satz.

Warum ist dem so?

In his eramus laetitiis, cum ipse Trimalchio ad symphoniam allatus est […].

Petron. 32.

In diesem Beispiel aus der Cena Trimalchionis sitzen die Gäste schon beim ersten Gang im triclinium und werden mit zur Schau gestelltem Prunk beglückt. Das ist die durative Handlung im Hintergrund, das als Zustand dargestellte Geschehen, daher im Imperfekt: eramus in his laetitiis. Vor diesem Hintergrund geschieht punktuell (also im historischen Perfekt), dass der Gastgeber hineingetragen wird: allatus est.

Insbesondere wenn im übergeordneten Satz Plusquamperfekt mit vix o.ä. verwendet wird, wird mit dem cum-Satz eine deutliche Unterbrechung der Hintergrundshandlung ausgedrückt:

Vix agmen novissimum extra munitiones processerat, cum Galli […] flumen transire et iniquo loco committere proelium non dubitant.

Caes. B.G. 6.8.

Wenn wir die Erzählweise „umdrehen“, indem wir ein cum narrativum verwenden, haben wir einen weniger markierten Satz und die gedachte Unterbrechung geht verloren:

Cum in his essemus laetitiis, ipse Trimalchio ad symphoniam allatus est.

Cum agmen novissimum extra munitiones processisset, Galli flumen transire et iniquo loco commitere proelium non dubitaverunt.

Übrigens kommt das cum inversum auch durchaus in der Dichtung (naturgemäß vor allem in längeren, erzählenden Dichtungsformen) vor:

Talibus orabat dictis arasque tenebat [Aeneas],
cum sic orsa [sc.: est] loqui vates: …

Verg. Aen. 6.124f.

Aktionsart und Aspekt

Manche Aktionsarten scheinen mit bestimmten Aspekten nicht kompatibel zu sein: Warum darf z.B. ein duratives Verb wie manēre überhaupt im Perfekt erscheinen? Schließt das eine das andere nicht aus?

Die Antwort lautet, wie so oft bei natürlichen Sprachen: Es kommt darauf an.

Tatsächlich gibt es Fälle, in denen die Aktionsart bestimmte aspektkennzeichnende Tempora ausschließt. So kann man etwa im Englischen keine progressiven Formen von Zustandsverben bilden (I am knowing).

Doch meistens sind auch scheinbar widersprüchliche Kombinationen von Aktionsart und Aspekt möglich – je nach dem, wie der Vorgang dargestellt werden soll. Entsprechend kann z.B. ein von der Aktionsart her duratives Verb wie manēre perfektiven Aspekt haben: Sage ich mānsī, bleibt das Verb in seiner Aktionsart zwar durativ, der Vorgang wird aber als einmalig und abgeschlossen dargestellt: ‚Dieses eine Mal damals blieb ich‘.

Man vergleiche:

Hunc cum reliquis rebus locum probabat, tum quod superioris anni munitiones integrae manebant, ut militum laborem sublevaret.

Caes. B.G. 6.32.

Manebat: integrae manēre wird als Zustand in Vergangenheit dargestellt (durativ).

Hi centum pagos habere dicuntur, ex quibus quotannis singula milia armatorum bellandi causa ex finibus educunt. Reliqui, qui domi manserunt, se atque illos alunt. Hi rursus in vicem anno post in armis sunt, illi domi remanent.

Caes. B.G. 4.1.

Mansērunt: als punktuelles Ereignis dargestellt (perfektiv). Die Soldaten wechseln sich jährlich ab und bleiben je ein Jahr im Dorf, ein Jahr ziehen sie in den Krieg. Reliqui, qui domi manserunt meint die, die punktuell in einem bestimmten Jahr im Dorf geblieben sind.

Der Aspekt, wo man ihn nicht erwartet

Denkt man an den Aspekt, ist die Unterscheidung zwischen Indikativ Perfekt und Imperfekt das Erste und sicherlich das Zentralste, das einem einfällt.

In anderen Bereichen der lateinischen Grammatik spielt der Aspekt jedoch ebenfalls eine Rolle.

Aspekt vom Konjunktiv Imperfekt

Trotzdem ist in manchen Kontexten unbestreitbar, dass das Imperfekt des Konjunktivs einen Aspekt ausdrückt:

Cum aliquamdiu summa contentione dimicaretur, Dumnacus instruit aciem quae suis esset equitibus in vicem praesidio, cum repente confertae legiones in conspectum hostium veniunt.

Caes. B.G. 8.29.

Der erste Nebensatz mit cum narrativum hat entsprechend der Consecutio Konjunktiv Imperfekt, um Gleichzeitigkeit in der Vergangenheit auszudrücken. Dennoch kann man der Verbform dīmicārētur nicht abschreiben, dass sie gleichzeitig die durative Handlung ausdrückt, in die das cum inversum sozusagen einschlägt.

Zugegebenermaßen ist dieser bei weitem nicht der eleganteste Satz ever – mit den zwei cum-Sätzen sowie dem cum inversum, das sich aspektuell nicht auf seinen übergeordneten Satz, sondern auf einen Nebensatz gleichen Rangs bezieht… ist ja schließlich aus Buch 8!

Aspekt im Konsekutivsatz

Wie ich im Artikel Lateinische Grammatik – diese Regeln darf man brechen! erwähnt habe, wird auch im Konsekutivsatz der Aspekt ausgedrückt. Dementsprechend wählt man bei resultativem oder punktuellem Aspekt den Konjunktiv Perfekt, bei durativem oder iterativem Aspekt den Konjunktiv Imperfekt.

Tantum aberat a bello, ut, cum cupiditate libertatis Italia arderet, defuerit civium studiis potius quam eos in armorum discrimen adduceret.

Cic. Phil. 10.14

Ein Beispiel aus Ørbergs Roma Aeterna:

tot et tanta nova opera marmorea aedificavit ut iure gloriatus sit marmoream se relinquere urbem quam latericiam accepisset.

Ørberg, Roma Aeterna, S. 17.

Im Begriff sein

Einen bestimmten Aspekt, für den mir ehrlich gestanden kein Terminus aus der Fachliteratur bekannt ist, kann man im Deutschen mit Formulierungen wie im Begriff sein, sich anschicken u.ä. ausdrücken. Im Lateinischen verwendet man dazu die coniugatio periphrastica mit PFA und esse:

Quid tandem estis acturi?

Rab. Post. 14.

bedeutet also so etwas wie ‚Was habt ihr eigentlich vor zu tun?‘ und bezieht sich auf die unmittelbar bevorstehende Zukunft, aber auch auf den Willen des handelnden Subjekts.

Schauen wir uns noch ein Beispiel an:

Me ipsum ames oportet, non mea, si veri amici futuri sumus.

Cic. fin. 2.85.

Si veri amici futuri sumus kann nicht bloß auf eine die nahe Zukunft hindeuten, sondern auch auf einen Willen des Subjekt: ‚wenn wir Freunde sein sollen‘. (Vgl. nM §140.) Terminologisch könnte ich mir entsprechend für diesen Aspekt ingressiv-volitiv ausdenken.

Das vermisse ich, wenn ich Latein spreche

Mir fehlt die Aspektunterscheidung in der indirekten Rede – sei es im AcI oder im indirekten Fragesatz. Auf Italienisch behalten Imperfekt und zusammengesetzte Vergangenheitsform im Konjunktiv den Aspekt:

  1. Dubito che lo facesse. (durativ) vs. Dubito che lo abbia fatto. (punkuell)
  2. Non dubito che lo facesse. (durativ) vs. Non dubito che lo abbia fatto. (punktuell)
  1. Dubitō eum fēcisse.
  2. Nōn dubitō quīn fēcerit.

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Bibliographie

  • Bußmann, H. (20083): Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart: Kröner.
  • Kühner, R./Holzweissig, F. (19122/2021): Ausführliche Grammatik der lateinischen Sprache. Teil I. Elementar-, Formen- und Wortlehre. Darmstadt: wbg Academic.
  • Menge, H. (20125): Lehrbuch der lateinischen Syntax und Semantik. Neubearbeitet von Burkard, Th. und Schauer M. Darmstadt: WBG.
  • Forcellini, Lexikon totius Latinitatis.
  • Ruberbauer, H. / Hofmann, J.B. (199512): Lateinische Grammatik. Bamberg: C.C. Buchner.

Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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