… der wird die folgenden Bücher auch mögen.

Warum liest man Lehrgedichte?

Lehrdichtung ist das, was der Name vermuten lässt, und doch viel mehr.

In einem Lehrgedicht verfolgt der Erzähler eine explizite didaktische Intention: die „Vermittlung von Sach- und Orientierungswissen oder von Verhaltensanweisungen“ (vgl. Metzler Lexikon Literatur s.v. Lehrdichtung). Also wie ein Sachbuch, nur in Reim? Nein.

Denn ein Gedicht ist – möglichst einfach formuliert – ein literarischer Verstext, wobei Verstext bedeutet, dass das Gedicht in gebundener Sprache, also unter Anwendung von metrischen Vorgaben und Einschränkungen, verfasst ist, während Literarizität v.a. auf seine Polysemie bezogen werden kann. Ein Lehrgedicht ist daher nicht nur in einem bestimmten Metrum – in der Antike meist im daktylischen Hexameter – verfasst, sondern bleibt trotz der explizierten didaktischen Intention nach wie vor ein Kunstwerk, das als solches mehrere Bedeutungsebenen hat.

Gerade bei Lehrdichtung ist die Tatsache, dass es neben der lokutiven Vermittlung von Inhalten weitere Interpretationsebenen geben muss, meist offensichtlich: Wollte Vergil wirklich bloß die Bienenzucht erklären, hätte er einen von alexandrinischer Eleganz ausgezeichneten Verstext unter Einbezug von mythologischen Geschichten mühsam verfasst? Es scheint doch wenig zweckführend… außer eben der Text hat weitere Funktionen. Lehrdichtung ist oft an und für sich ein kunstvolles Konstrukt: Wenn der Dichter uns bloß Lehren zu Verhaltensweisen, Göttergenealogien oder Landwirtschaft zu verkaufen scheint, muss man in der Interpretation eine Schicht tiefer gehen.

Es ist für den modernen Leser manchmal schwer zu verdauen, dass etwa Astronomen in der Antike ihre naturwissenschaftlichen Beobachtungen ernsthaft in Versen verfassten, denn bei heutigen Sach- und Fachbüchern erleben wir, dass sie meiner unmaßgeblichen Meinung nach zu einem allzu geringen literarischen Wert im Sinne einer autotelischen Sprachverwendung, wie sie vom russischen Formalismus definiert wird, neigen. Im Streben nach Monosemie (Eindeutigkeit) gehen viele heutzutage davon aus, dass ein Werk, welches ästhetische Kriterien erfüllt, nicht gleichzeitig fachlich-wissenschaftliche Informationen vermitteln könne. Bei Sachtexten für ein breiteres Publikum beschränkt sich die ästhetische Textgestaltung meist auf Elemente des sog. Storytelling. Erhebt der Leser bei gegenwärtigen wissenschaftlichen Fachtexten den leisen Einspruch Muss es so trocken sein?, ertönt der Raum prompt mit der selbstsicheren Antwort: Darum geht es doch gar nicht!

Die Antike hatte mehr Respekt für den Leser.

Die Trennung von Sachtexten und literarischen Texten kennt man da nicht: Zweckhaftigkeit und Unterhaltung (auch mittels der Fiktion) schließen sich nicht gegenseitig aus. Uns wäre es nicht wissenschaftlich genug.

Das (antike sowie spätere) Lehrgedicht vereint also Vieles in sich, wie Vermittlung von spannenden Inhalten (prodesse), Selbstreferenzialität und ästhetische Würde (delectare), vielschichtige Interpretationsmöglichkeiten (Polysemie), retardierende Momente in Form von Ekphrasis, Parabel u.ä. und oft ein konstruiertes Verhältnis zwischen den fingierten Figuren Lehrer-Erzähler und Schüler-Rezipienten.

Top 5: Lehrdichtung

Lehrdichtung: eine Gattung mit langer Tradition

Die Tradition der Lehrdichtung, die ihre Anfänge mit Hesiods Theogonie und Erga (8. Jh. v. Chr.) in der Wiege der abendländischen Literatur hat, wird im 18. Jahrhundert noch aktiv und gewinnbringend weitergeführt. Aus dieser beinahe grenzenlos vorkommenden Zeitspanne fünf Werke auszusuchen, basiert notgedrungen auf der Arbitrarität meiner ausgewählten Lektüren und dem daraus resultierenden persönlichen Amüsement. Da mir alle fünf der folgenden Werke am Herzen liegen, präsentiere ich sie auf eine Rangliste verzichtend in chronologischer Reihenfolge.

Vergil, Georgica

Zeit: 37-30 v. Chr. verfasst; Metrum: daktylischer Hexameter

Ich liebe Vergil wie kaum einen anderen Dichter. Seine Eleganz, die absolute Vollkommenheit der Darstellung, sein Menschenverständnis und seine Fähigkeit, menschliche Gemüter empathieerregend zu gestalten, sind einfach unbeschreiblich. Man kann Vergils Werke hundertmal lesen und jedes Mal etwas Neues entdecken, das einem das Herz erwärmt. Ich stelle mir gerne vor, Vergil sei ein INFP gewesen.

Das Lehrgedicht Georgica besteht aus vier Büchern, die Ackerbau, Baumzucht, Viehzucht und Imkerei jeweils behandeln sowie reizende Abschweifungen zu anderen Themen, wie Bürgerkrieg, Lob Italiens, Orpheus-Mythos, enthalten.

Die Hauptthemen und ihre Anordnung bieten einen ersten Interpretationsschlüssel. Zum einen stellt man eine Bewegung von groß zu klein fest, denn das Ehrenvolle zeigt sich in den kleinen Dingen und in der Arbeit:

Hic labor, hinc laudem fortes sperate coloni.
Nec sum animi dubius verbis ea vincere magnum
quam sit et angustis hunc addere rebus honorem.

Verg. Georg. 3.287ff.

Außerdem nimmt die Beteiligung des Menschen an der beschriebenen Arbeit progressiv ab: Von der unaufhaltsamen Mühe der Feldarbeit, über die pflegeleichtere Baumzucht, über die Zucht von Vieh bis hin zur zurückhaltender Kontemplation der Bienen, die ihre Arbeit zum einzigen Lebensziel haben. Paradoxerweise ähneln die behandelten Aspekte der Landarbeit in dieser Progression immer mehr dem Menschen selbst. Der Mensch ist nämlich zur Arbeit bestimmt, wie in der Theodizee der labores im ersten Buch festgestellt:

pater ipse colendi
haud facilem esse viam voluit, primusque per artem
movit agros, curis acuens mortalia corda
nec torpere gravi passus sua regna veterno.

Verg. Georg. 1.121ff.

Wie Lukrez im De rerum natura schafft es Vergil, die Büchern eigenen, voneinander abgetrennten Themen zu widmen und sie dennoch einer Gesamtintention unterzuordnen.

(Vgl. Conte 1980, XVf.)

In den Georgica wird mit alexandrinischer Eleganz und Gelehrsamkeit und unter Einbezug von zahlreichen intertextuellen Bezügen eine Weltsicht zum Ausdruck gebracht, in der zwar keine aurea aetas mehr möglich ist, sondern dem Menschen labor improbus (1.145f) auferlegt wird, dieser aber ihn gleichzeitig dazu zwingt, beim notwendigen Eingreifen in die Natur seine eigenen Kräfte zu entfalten. (Vgl. Gall 2013, 51.)

O fortunatos nimium, sua si bona norint,
agricolas!

Verg. Georg. 2.458f.

Wenn Sie auch Vergil lieben und mit mir die Aeneis lesen wollen, geht es hier zu den entsprechenden Artikeln.

Horaz, Ars poetica

Zeit: frühestens 19 v. Chr.; Metrum: daktylischer Hexameter

Aut prodesse volunt aut delectare poetae.

Hor. ars 333.

Die Epistula ad Pisones, die durch Quintilian den Sondertitel De arte poetica erhalten hat, ist eine poetologische Schrift. Trotz Thema, Metrum und Anwesenheit von expliziten Vorschriften –

Sumite materiam vestris, qui scribitis, aequam
viribus.

Hor. ars 38f.

–, ist sie kein reines Lehrgedicht, „sondern – in der Gattung der satura – als freundschaftliche Plauderei konzipiert“ (Gall 2013, 69).

Heutzutage wird im Bildungsdiskurs mehr von abstrahierten Kompetenzen als von konkreten Inhalten gesprochen, sodass die Festlegung eines notwendigen Lektürekanons nicht mehr bloß ein Ding der Unmöglichkeit ist, sondern vielerseits schlichtweg unerwünscht. Dennoch behaupte ich, dass Horaz‘ Ars poetica (wie Aristoteles‘ Poetik) ein Werk ist, das aufgrund seiner unermesslich starken Rezeption im Laufe unserer gesamten abendländischen Literaturgeschichte gelesen werden muss.

Inhaltlich geht es zunächst um die τέχνη im engeren Sinne – etwa die Themenwahl, den vorsichtigen Wortgebrauch, die Metrik –, weiter um die verschiedenen Gattungen mit Schwerpunkt auf Drama, schließlich um den Dichter.

Scribendi recte sapere est et principium et fons.

Hor. ars 309.

Zentral sind ethische Überlegung darüber, was sich geziemt, was jeweils passt, was angemessen ist. Das decorum steht stets im Mittelpunkt, z.B.:

Versibus exponi tragicis res comica non vult.

Hor. ars 89.

Besonders deutlich tritt auch der Aspekt der Mimesis hervor, die zum Verständnis der antiken Literatur unentbehrlich ist:

Aut famam sequere aut sibi convenientia finge,
scriptor. Honoratum si forte reponis Achillem,
impiger, iracundus, inexorabilis, acer
iura neget sibi nata, nihil non arroget armis.

Hor. ars. 119ff.

Nachahmung ist ein notwendiges, –

Vos exemplaria Graeca
nocturna versate manu, versate diurna.

Hor. ars 268f.

– doch schwieriges Unterfangen, denn

difficile es proprie cummunia dicere.

Hor. ars 128.

Was braucht man, um ein guter Dichter zu werden? Talent oder Kunstfertigkeit? Für Horaz ist der Fall klar: Man braucht Beides. Zum einen ist es nötig, die eigene Naturanlage zu kennen und ihr gemäß zu schreiben, zum anderen können die Wahl des passenden Metrums und des angemessenen Sprachstils und der Balanceakt zwischen Tradition und Innovation nicht ohne technisches Verständnis erfolgen. Technik und Genie gehen Hand in Hand. (Vgl. Gall 2013, 90.)

Natura fieret laudabile carmen an arte,
quaesitum est; ego nec studium sine divite vena
nec rude quid possit video ingenium; alterius sic
altera poscit opem res et coniurat amice.

Hor. ars 408ff.

Anderer Meinung war wohl unser nächster Autor, Ovid, der in Ponto die Unvermeidlichkeit seiner Dichtkunst so darstellt:

totoque Helicone relicto
scribere temptabam verba soluta modis.
sponte sua carmen numeros veniebat ad aptos,
et quod temptabam scribere versus erat.

Ov. trist. 4.10.

Lesen Sie auch Von Fläschchen und Redeschwulst zu Horaz und dem Wort ampulla.

Ovid, Ars amatoria

Zeit: ca. 1 v. Chr. veröffentlicht; Metrum: elegisches Distichon

Die Ars amatoria besteht aus 3 Büchern voller praecepta für Mann und Frau in Sachen Liebe. Wo soll der junge Mann hingehen, um eine Frau anzubaggern? Wie soll er sein Erscheinungsbild pflegen? Wie soll er sich mit Geschenken anstellen? Wann soll sich die Frau hingeben? Was soll sie können, um reizend zu sein? usw. usf.

Ovid spricht also ein sehr modern erscheinendes Thema an, und zwar auf seine elegante, einfallsreiche und unterhaltsame Weise.

Der Erzähler gibt als praeceptor aus und damit ist die didaktische Inszenierung des Lehrgedichts explizit.

Si quis in hoc artem populo non novit amandi,
hoc legat et lecto carmine doctus amet.

Ov. ars 1.1f.

Aeacidae Chiron, ego sum praeceptor Amoris.

Ov. ars 1.17.

Außerdem enthält auch die Ars amandi schöne mythologische und historische Abschweifungen, wie zu Dädalus und Ikarus (2.21ff.) oder dem Triumph im Partherfeldzug 1 v. Chr.

Trotzdem weist das Werk hinsichtlich Metrum, Thema und Stil der Liebeselegie sehr nahe. „Ovid erhebt den Anspruch eines Lehrdichters, strebt dabei aber die Leichtigkeit und Intimität der Elegie an.“ (Gall 2013, 136.)

Eine meiner Lieblingsstellen ist die Erzählung des Liebesdreiecks Vulkan-Venus-Mars in 2.561ff., v.a. wenn man die absichtlichen Unterschiede zum homerischen Gegenstück im 8. Buch der Odyssee (Hom. Od. 8.266ff.) berücksichtigt. Die moralisierende Geschichte vom Sänger Demodokos wird bei Ovid zu einer Bloßstellung von Eifersucht und zwanghaftem Beharren auf Monogamie.

Von Demodokos im 8. Buch der Odyssee habe ich auch in diesem Artikel gesprochen: Ein Hoch auf den Lehrervortrag.

Alexander Pope, An Essay on Man

1734 erschienen; Metrum: paargereimte fünfhebige Jamben (engl. couplets in iambic pentameter or heroic couplets)

Ich bin nicht der größte Aufklärungsfan, doch Pope und Voltaire haben es mir angetan. Besonderer Genuss hat mir die Lektüre des Lehrgedichts An Essey on Man bereitet.

Die Parole

The proper study of Mankind is Man.

PE 2.1.

ist bei der schnellen Verbreitung des Gedichts durch Europa rasch zum Motto der Aufklärung geworden (vgl. Willems 2012, 45): Der Mensch selbst ist der Gegenstand, womit man sich auseinandersetzen soll. Die Leitfragen lauten u.a.:

  • Was ist dem Menschen eigen?
  • Was ist sein Verhältnis zur Natur?
  • Inwiefern muss er seine natürlichen Triebe der Vernunft unterordnen?
  • Was macht das Genie eines einzelnen Individuums aus?
  • Wie wirkt sich das Naturrecht auf soziale Strukturen aus?

Es geht aber nicht um bloße Spekulationen, sondern um proper study, das zu überprüfbaren Ergebnissen führen soll, wie sie in einem wenn noch nicht modernisierungsfreudigen, doch schon traditionskritischen Alter erwartet werden.

Formell reiht sich der Essay in die Tradition der ars poetica von Horaz ein: Es handelt sich um eine lockere, unterhaltsame Wissensvermittlung zum Thema „science of Human Nature“ (PE) in Form von Episteln in Versen. Die „Briefe“, vier an der Zahl, behandeln die Stellung des Menschen im Universum, das Individuum (v.a. bezüglich des Zusammenspiels von self-love und reason), den Menschen als Teil der Gesellschaft, die Glückseligkeit.

Im 2. Brief wird betont, dass weder Selbstliebe noch Vernunft an sich gut oder schlecht sind, sondern beide Aspekte das Leben des Menschen beeinflussen. Aus ihrem Zusammenspiel entstehen Tugenden oder Laster:

Two principles in human nature reign;
Self-love to urge, and reason to restrain;
Nor this a good, nor that a bad we call,
Each works its end, to move or govern all
And to their proper operation still,
Ascribe all good; to their improper, ill.

PE 2.2.

Der Mensch ist selbst für seine Glückseligkeit verantwortlich:

Oh, happiness, our being’s end and aim!
Good, pleasure, ease, content! whate’er thy name
[…]
Twined with the wreaths Parnassian laurels yield,
Or reaped in iron harvests of the field?
Where grows? – where grows it not? If vain our toil,
We ought to blame the culture, not the soil
:
Fixed to no spot is happiness sincere,
‚Tis nowhere to be found, or everywhere;
‚Tis never to be bought, but always free,
And fled from monarchs, St. John! dwells with thee.

PE 4.

Know, all the good that individuals find,
Or God and Nature meant to mere mankind,
Reason’s whole pleasure, all the joys of sense,
Lie in three words, health, peace, and competence.

PE 4.

Das ergibt die Notwendigkeit einer philosophischen Haltung zum Leben, denn – Horaz lässt noch mal grüßen – health kommt von Mäßigung (health consists with temperance alone PE 4); peace ist natürlich ein ruhiges Gewissen, das jeder Mensch selbst mit einer tugendhaften Lebensführung verantwortet (And peace, oh, virtue! peace is all thy own. PE 4); competence schließlich ist notwendig, um zwischen Gut und Übel unterscheiden zu können.

Dieses Zitat schreibe ich abschließend als mahnende Erinnerung für alle einsamen Wölfe wie mich auf:

Man, like the generous vine, supported lives;
The strength he gains is from the embrace he gives.

PE 3.

Giuseppe Parini, Il giorno

1763 bis in die 90er verfasst; Metrum: ungereimte, monostichische Elfsilbler (it. endecasillabi sciolti)

Scheinbar ist dieses Gedicht eine Lehre guter Manieren für einen cicisbeo, einen jungen adligen Mann (giovin signore), dessen Aufgabe im Norditalien des 18. Jahrhunderts es war, einer verheirateten Dame durch den Tag Gesellschaft zu leisten. Was er morgens, mittags, abends und nachts tun soll, um sich möglichst würdevoll und elegant der bequemen Muße seiner Kondition widmen zu können, wird ihm mit übertriebener Reverenz vom wortgewandten Lehrer-Erzähler (il precettor d’amabil rito) vorgetragen.

Schon die ersten Verse entpuppen sich jedoch als beißende Satire:

Giovin Signore, o a te scenda per lungo
di magnanimi lombi ordine il sangue
purissimo celeste, o in te del sangue
emendino il difetto i compri onori
e le adunate in terra o in mar ricchezze
dal genitor frugale in pochi lustri,
me Precettor d’amabil rito ascolta.

Parini, MT 1ff.

Genial!

Das ganze poemetto – insbesondere Il mattino und Il mezzogiorno – ist antiphrastisch zu lesen. Je übertriebener das Lob und die Reverenz, desto schärfer die Kritik an den Sittenverfall dieser Zeit.

Leider ist das Lehrgedicht unvollendet; gerade La notte ist größtenteils fragmentarisch. Da Parini (1729-1799) sehr lange Zeit daran gearbeitet hat, kann man deutliche Stilunterschiede im Laufe der Lektüre erkennen, die aber den Genuss der Lektüre keineswegs beeinträchtigen. Immo!

Die Lehren zum Morgen, Il mattino also, ist eins der lustigsten Bücher, die ich je gelesen habe. Nach dem Prooemium lässt der Erzähler bei Tagesanbruch das gemeine Volk im Idyll der familiären und naturnahen Einfachheit aufwachen:

Sorge il Mattino in compagnia dell’Alba
[…].
Allora il buon villan sorge dal caro
letto cui la fedel sposa, e i minori
suoi figlioletti intepidìr la notte;
poi sul collo recando i sacri arnesi
che prima ritrovàr Cerere e Pale
va col bue lento innanzi al campo, e scuote
lungo il picciol sentier da‘ curvi rami
il rugiadoso umor che, quasi gemma,
i nascendi del Sol raggi rifrange.

Parini, MT 33ff.

Oh Schreck! Sonnenaufgang?! Arbeit?! Nichts für den giovin signore, dem vor lauter Konsternation und wegen der vergangenen wilden Nacht die Haare zu Berge stehen:

Ma che? Tu inorridisci, e mostri in capo,
qual istrice pungente, irti i capegli
al suon di mie parole?

Parini, MT 53ff.

Das ist nicht das Schicksal des Adles, himmlischen Nachwuchses, bloß nicht! Für Heroen hat Juppiter andere Pläne, die primär aus Faulenzen, Schein und Trivialitäten bestehen werden. Um durch diese neu erfundene Lebensweise zu navigieren, die andere Kunstfertigkeiten und Gesetze vorsieht, steht der Sittenlehrer dem giovin signore nun treu zur Seite.

A voi celeste prole, voi concilio
di Semidei terreni altro concesse
Giove benigno: e con altr’arti e leggi
per novo calle a me convien guidarvi.

Der antiphrastische Spott erreicht neue Höhen beim eigentlichen Aufwachen des jungen Mannes und bei der Wahl eines geeigneten Frühstücksgetränks.

Unvergesslich ist die in Italien sehr berühmte Episode der vergine cuccia im Mezzogiorno: Eine zutiefst bestürzte Dame erzählt vom schrecklichen Tag (ahi, fero giorno! MG65 518), an dem ein Diener der Hündin der Hausherrin einen Tritt verpasste. Ich kann in Worten nicht fassen, wie dick aufgetragen und witzig die Episode ist. Das muss man gelesen haben.

Ganz anders ist die Nacht, die Parini in höherem Alter verfasst hat. Elegant und vollkommen nutzt der Dichter in der Gegenüberstellung der notte medievale und notte moderna (N 4-60) alle lautlichen Ressourcen der italienischen Metrik und schafft ein Meisterstück für sich. Die Länge der Wörter, die Rundung der Vokale, die Abwechslung von Asyndeta und Polysyndeta, die Verwendung von Anaphern: Alles sorgt dafür, dass die notte medievale langsam, düster und bedrückend, die notte moderna schnell, funkelnd und emsig wirkt.

Wenn Sie mehr von Parini mitbekommen wollen, lesen Sie auch Italienischen Wortschatz mit Dichtung erweitern.

Ich hoffe, ich konnte Sie zu der einen oder anderen Lektüre animieren, und bin selber immer offen für Buchempfehlungen.

Jeden Sonntag erscheint auf der Webseite ein neuer Artikel. Bis der nächste herauskommt, könnten Sie diese interessieren:




Abonnieren Sie meinen Newsletter!

Bibliographie

  • Burdorf/Fasbender/Moennighoff (Hgg.) (20073): Metzler Lexikon Literatur. Begründet von G. und I. Schweikle. Stuttgart: J. B. Metzler Verlag.
  • Conte, G.B. (1980). Introduzione, in: Barchiesi, A. (Hg.) (1980): Virgilio. Georgiche. Milano: Mondadori.
  • Gall, D. (20132): Die Literatur in der Zeit des Augustus. Darmstadt: WBG.
  • Willems, G. (2012): Geschichte der deutschen Literatur. Band 2. Aufklärung. Wien/Köln/Weimar: Böhlau UTB.

Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

0 Kommentare

Schreiben Sie einen Kommentar

Avatar placeholder

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert