Erreicht man ein sehr gutes Niveau in einer Fremdsprache oder in der eigenen Sprache, wird es zunehmend schwer, unbekannten Wörtern zu begegnen und den eigenen Wortschatz zu erweitern. Heute möchte ich von einer Methode erzählen, die ich anwende, um in meiner Muttersprache (Italienisch) und in meinen stärkeren Fremdsprachen Fortschritte auf lexikalischer Ebene zu erzielen.

Die Methode sieht eine besondere Art der Dichtungslektüre vor und ich habe sie in einem Literaturkurs an der Università degli Studi di Firenze kennengelernt. Es geht mir hier primär um Wortschatzarbeit und um ein Verständnis der lokutiven Ebenen der Poesie, noch nicht um interpretative Lektüre, aber diese Art des Verstehens ist auch hilfreich für eine tiefere Auseinandersetzung mit Literatur, da sie in eine Paraphrase gipfelt.

Man nehme also einen Dichter, der bekanntermaßen sich eines großen Wortschatzes bedient oder bei dessen Lektüre man das eine oder andere nachschlagen musste, und man befolge die folgenden drei Schritte.

Schritt 1: prosaische Syntax

Im ersten Schritt wird die freiere Syntax des Gedichts in prosaische Reihenfolge gebracht, ohne Wörter zu ändern, erklären oder tauschen. Es geht nur darum, die Satzglieder in eine „normale“ Reihenfolge zu bringen.

Ich zeige, wie es geht, anhand des Gedichts La musica von Giuseppe Parini aus dem Jahre 1761, in dem sich das lyrische Ich gegen die Praxis der Eviration bei Opernsängern ausspricht.

Hier die ersten zwei Strophen:

Aborro in su la scena
un canoro elefante,
che si strascina a pena
sulle adipose piante,
e manda per gran foce
di bocca un fil di voce.

Ahi pera lo spietato
genitor che primiero
tentò di ferro armato
l’esecrabile e fiero
misfatto onde si duole
la mutilata prole.

Parini, La musica Strophe 1f.

Metrisch handelt es sich aus Sestinen (sestine) aus paroxytonen Siebensilbern (settenari piani), aus denen die ersten vier einen Kreuzreim (rima alternata), die letzten zwei einen Paarreim (rima baciata) bilden.

Auf Italienisch: sestine di settenari piani, di cui i primi quattro a rima alternata, gli ultimi due a rima baciata.

Permutieren wir die Konstituenten so, dass der Satz eine prosaische Abfolge aufweist, haben wir etwa folgendes Ergebnis:

Aborro un elefante canoro in su la scena, che si strascina a pena sulle piante adipose e manda di bocca un fil di voce per gran foce. Ahi pera lo genitor spietato che, armato di ferro, tentò primiero il misfatto esecrabile e fiero onde si duole la prole mutilata.

Schritt 2: Synonyme finden

Im zweiten Schritt geht es darum, zu jedem Wort mindestens ein Synonym zu finden. Das ist die eigentliche Wortschatzarbeit, denn das Ziel ist noch nicht, den Text zu paraphrasieren und zu erläutern, sondern bloß auf lexikalischer oder syntagmatischer Ebene zu ändern.

Unser Beispiel könnte folgendermaßen aussehen:

aborro: aborrisco, esecro, detesto, disprezzo, disdegno, odio
elefante: pachiderma
canoro: cantante, canterino
in su la scena: sul palcoscenico, all’opera, a teatro
che: il quale
si strascina: si strascica, si porta avanti, avanza (con difficoltà)
a pena: appena, a fatica, a mala pena, a sento, con difficoltà
sulle: con le
piante: piedi, gambe, estremità
adipose: grasse, pingui, ciccione, corpulente, cicciute
manda: fa fuoriuscire, emette, caccia, lancia
di bocca: dalla gola, dalla cavità orale, dalle labbra
un fil di voce: un vocino, una voce alta, toni alti
per gran foce: attraverso una grande apertura, attraverso una cavità larga

ahi: oh, ah
pera: perisca, muoia, soccomba, spiri, crepi, trapassi, deceda
genitor: padre, madre, procreatore
spietato: crudele, disumano, impietoso, inesorabile, efferato, feroce
che: il quale
armato di ferro: provveduto/fornito di armi contundenti, con armi in pugno
tentò: provò, cercò
primiero: per primo
misfatto: crimine, delitto, nefandezza, sceleratezza, reato
esecrabile: deplorevole, nefando, riprovevole, spregevole, detestabile
fiero: feroce, crudele, spietato, efferato
onde: di cui, per cui
si duole: patisce, si rammarica, lo biasima
la prole: il figlio, la progenie, i discendenti, il lignaggio, la stirpe
mutilata: monco, minorato, gravemente leso

Man könnte die Sätze etwa folgendermaßen umschreiben:

Detesto un pachiderma canterino sul palcoscenico, il quale si strascica a fatica sulle estremità corpulente ed emette dalla gola un vocino attraverso una grande cavità. Oh, muoia il procreatore crudele il quale, con armi in pugno, provò per primo il delitto deplorevole e spietato di cui si rammarica il figlio gravemente leso.

In dieser Phase ist es notwendig, auf Mehrdeutigkeit zu achten. Sollte ein Wort doppeldeutig sein, ist es nötig, für beide Bedeutungen Synonyme zu finden und beide Sinnrichtungen in der Umschreibung zu berücksichtigen.

Um diesen zweiten Schritt zu machen, empfiehlt es sich natürlich, nach einem selbständigen Brainstorming ein Synonymwörterbuch zu benutzen – ich benutze am liebsten das Synonym- und Antonymwörterbuch von Treccani –, um möglichst viele Alternativen aufzulisten und die bestpassende für die Umschreibung zu wählen. Diese Übung hilft zum einen dabei, neuen Wörtern zu begegnen, zum anderen meiner Erfahrung nach auch dabei, das bereits vorhandene passive Vokabular in aktives umzuwandeln, da man die gesuchten Synonyme gleich selber in einem Satz benutzt.


Ein paar Anmerkungen zum mentalen Lexikon

Bei den Kenntnissen auf lexikalischer Ebene unterscheidet man zwischen rezeptivem und produktivem Wortschatz. Der rezeptive Wortschatz – also die Menge an Wörtern, die wir verstehen – ist um Einiges größer als der produktive – d. h. als die Menge an Wörtern, die wir aktiv benutzen, was darauf zurückzuführen ist, dass bei den zwei Formen des Vokabelgedächtnisses tatsächlich unterschiedliche Hirnareale betroffen sind. (Vgl. Marini 2008: 241-265.)

Gesunde Menschen sind lebenslang in der Lage, eine inkommensurable Menge an Informationen – also auch an Wörtern – zu speichern unter der Voraussetzung, dass sich diese in strukturierter Form präsentieren.

Psychologists have shown that human memory is both flexible and extendable, provided that the information is structured. Random facts and figures are extremely difficult to remember, but enormous quantities of data can be remembered and utilized, as long as they are well organized.

Aitchison 2012: 5.

In Bezug auf den „mental organisierten und repräsentierten Wortschatz“ (Bußmann 2008: s. v. mentales Lexikon) spricht man von mentalem Lexikon. Um Vokabeln erfolgreich im Langzeitgedächtnis zu speichern, muss daher insbesondere darauf geachtet werden, dass das zu erlernende Vokabular in Netzwerke gruppiert wird, die den nachgewiesenen Organisationsstrukturen des mentalen Lexikons entsprechen. Die stärksten Verbindungen, die fürs Vokabellernen unbedingt ausgenutzt werden sollten, betreffen die semantische Ebene: das semantische Kategorisieren (vgl. Perleth 1992), das in der Wortschatzarbeit insbesondere durch Gruppierungen nach Sachfeldern umsetzbar ist, und die Vernetzung nach semantischen Relationen wie Synonymie und Antonymie. Aus diesem Grund ist die Arbeit mit Synonymen nicht nur zielführend, da man mehr Wörter benutzt, sondern und vor allem auch weil die Wörter in ein Netzwerk organisiert, das von unserem Gehirn gut verarbeitet und gespeichert werden kann. Das macht diese Methode stark, um den eigenen Wortschatz zu erweitern.

Außerdem sind viele der zu findenden Synonyme keine eins-zu-eins-Entsprechung, sondern partielle Synonyme, sodass diese Art der Übung zu einer Ausdifferenzierung von Sprach- und Sachkenntnissen führen kann.

Sucht man zum Beispiel Synonyme von prole, wird man Unterschiede zwischen den gefundenen Wörtern erkennen können. Das Substantiv, das semantisch am nächsten kommt, ist wohl progenie. Lignaggio bezeichnet in der Regel eine erhabene Abkommenschaft und passt bei dieser Textstelle nicht gut. Auch stirpe ist in der Regel positiv konnotiert oder bezeichnet eine ganze Ethnie.

Weltwissen und Wortwissen gehen Hand in Hand; bereits Erasmus betont die Doppelseitigkeit aller Kenntnis, bestehend aus verba et res. (Vgl. Kielhöfer 1994: 211 und Kipf 2019: 18.)

[Cognitio] […] verborum prior, rerum potior.

Erasmus 1511: 113.

Durch eine gezielte Auseinandersetzung mit der Wortsemantik kann man entsprechend sowohl den Wortschatz als auch das Weltwissen erweitern.


Schritt 3: Paraphrase

In einem dritten und letzten Schritt wird eine Zusammenfassung der gewählten Passage vorbereitet. Das ist einerseits eine Aufgabe auf sprachlicher Ebene, weil man sich noch mit der Verständnissicherung des Wortlauts beschäftigt, andererseits führt sie insofern zu einer Textanalyse hin, dass man erste Texterläuterungen in den Text einfließen lassen kann. In diesem Fall würde man bei einer Paraphrase etwa darauf eingehen, dass es um Thema der Eviration geht, dass der Sänger als Elefant bezeichnet wird, weil Entmannte zur Wohlbeleibtheit neigen usw.

In unserem Beispiel könnte das so aussehen:

L’io lirico esprime una critica nei confronti della pratica dell’evirazione, affermando di detestare la vista di cantanti pingui sul palcoscenico dei teatri e dell’opera, che si muovono a stento a causa della loro massa notevole ed emettono voci bianche dalle larghe bocche. L’evirazione, infatti, sbilanciando l’equilibrio ormonale causa un palese ingrassamento. L’espressione elefante in questo contesto è evidentemente ironica. L’io lirico prosegue augurandosi la morte dei genitori crudeli che per primi permisero che il delitto deplorevole e spietato della mutilazione fosse commesso sul proprio figlio.

Ob in der Muttersprache oder in fortgeschrittenen Fremdsprachen, wir können uns ein Leben lang verbessern. Mit dieser Aktivität können Sie auf den Weg zu einer interpretierenden Lektüre Ihrer Lieblingsdichtung hin den rezeptiven wie produktiven Wortschatz erweitern.

Kennen Sie schon Parinis Odi? Ich kann eine Lektüre wärmstens empfehlen, vor allem der berühmteren Gedichte L’educazione und Per l’inclita Nice.




Jeden Sonntag erscheint ein neuer Artikel auf der Webseite. Bis der nächste herauskommt, könnten Sie auch diese interessieren:


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Literatur

  • Aitchison, Jean (20124): Words in the Mind. An Introduction to the Mental Lexicon. Hoboken: Wiley-Blackwell.
  • Kielhöfer, Bernd (1994): Wörter lernen, behalten und erinnern. In: Neusprachliche Mitteilungen aus Wissenschaft und Praxis 47, 211-220.
  • Kipf, Stefan (2019): Geschichte des altsprachlichen Literaturunterrichts. In: Lütge, Christian (Hg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft: Literaturdidaktik. Berlin/Boston: de Gruyter, 15–46.
  • Marini, Andrea (2008): Manuale di neurolinguistica. Fondamenti teorici, tecniche di indagine, applicazioni. Roma: Carocci editore.
  • Nation, I.S.P. (20132): Learning Vocabulary in Another Language. Cambridge: Cambridge University Press.
  • Parini, Giuseppe (1984): Il giorno e le odi. A cura di Ettore Bonora. Milano: Mursia.
  • Perleth, Christoph (1992): Strategienutzung, Metagedächtnis und intellektuelle Begabung. Querschnitts- und Interventionsstudien bei Grundschülern. München: LMU.
  • Treccani: www.treccani.it (Stand: 10.08.2021).

Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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