Satz für Satz übersetzen

Im Lateinunterricht werden Texte nicht „normal“ gelesen, sondern fast ausschließlich mittelbar durch eine Übersetzung ins Deutsche rezipiert. Nun, was passiert, wenn man sich nur mit dem Zweck einer Wort-für-Wort-Übersetzung an einen Text heranwagt, ohne ein Gesamtverständnis anzustreben? Wie Lateinlehrer allzu gut wissen und Keip in ihrer Fachdidaktik auch zeigt:

Accipiat hoc malum pulcherrima deorum.
wird zu:
Es steht fest, dass dieser Apfel der schönste der Götter ist.
(Beispiel aus Keip, in Doepner/Keip, Interaktive Fachdidaktik Latein, S. 97.)

Das grundsätzliche Problem beim Zugang zu Texten durch Übersetzungen ist der schimärische Glaube, dass man durchs Übersetzen Textverständnis aufbauen könne, während eine Übersetzung de facto erst dann möglich und sinnvoll ist, wenn man den Text schon bei der Lektüre zu dekodieren vermochte.

Wer nicht in der Lage ist, einen lateinischen Text zu lesen und auf Anhieb im Großen und Ganzen zu verstehen – und das ist leider sowohl in Schulen als auch an Universitäten kaum der Fall –, muss genauer und mehrfach hinschauen. Beschränkt man sich bei diesem genaueren Hinschauen auf die phrastische Ebene (Satz für Satz) durch Ansätze wie die Konstruktions- oder Pendelmethode, kommt man mit dem Leseverstehen nicht weit genug, was zu sinnlosen Übersetzung wie der oben genannten führt.

Transphrastische Erschließung als Alternative

Aus diesem Grund wurden in der Fachdidaktik transphrastische Erschließungsmethoden (über die Satzebene hinaus) für den Lateinunterricht erarbeitet – Ansätze also, bei denen der Lernende zunächst eine längere Textpassage in ihrem Kontext analysiert, anstatt einzelne Wörter direkt zu übersetzen. Der Fokus liegt auf dem Verständnis der Gesamtbedeutung und der Erschließung von Sinnzusammenhängen, ohne sich detailliert mit der Wort-für-Wort-Übersetzung auseinanderzusetzen. Ziel ist es, einerseits semantisch vorzugehen, indem man im Sinne des hermeneutischen Zirkels inhaltliche Erwartungen an den Text stellt; andererseits morphosyntaktische Stolpersteine aus dem Weg zu räumen, indem komplexe Strukturen erfasst werden.

Wenn Lerner mit einem Text wie diesem konfrontiert werden, ist es hilfreich, dass sie sich zunächst die ganze Passage anschauen und erst dann übersetzen, wenn sie zumindest eine fundierte Erwartung an den Inhalt haben.

C. Plinius Cornelio Tacito suo s.
1 Ridebis, et licet rideas. Ego, ille quem nosti, apros tres et quidem pulcherrimos cepi. ‚Ipse?‘ inquis. Ipse; non tamen ut omnino ab inertia mea et quiete discederem. Ad retia sedebam; erat in proximo non venabulum aut lancea, sed stilus et pugillares; meditabar aliquid enotabamque, ut si manus vacuas, plenas tamen ceras reportarem. 2 Non est quod contemnas hoc studendi genus; mirum est ut animus agitatione motuque corporis excitetur; iam undique silvae et solitudo ipsumque illud silentium quod venationi datur, magna cogitationis incitamenta sunt. 3 Proinde cum venabere, licebit auctore me ut panarium et lagunculam sic etiam pugillares feras: experieris non Dianam magis montibus quam Minervam inerrare. Vale.

Plin. 1.6.

Bevor man den Text ins Deutsche rekodiert, sollte man z.B. erkennen, dass es sich um einen Brief handelt und wer ihn an wen adressiert hat. Vielleicht weiß man schon etwas über das freundschaftliche Verhältnis zwischen Plinius und Tacitus. Dann kann man sich fragen, was man im Text bereits versteht, also sogenannte Verstehensinseln identifizieren. Weiter wird man die Namen von zwei Göttinnen entdecken und in Erinnerung rufen, wofür sie jeweils stehen. Das gibt uns auch einen klaren Hinweis auf zwei Sachfelder, die im Text vertreten sind: Jagd und Schriftstellerei. Wenn man die entsprechenden Vokabeln vor dem Übersetzen klärt, ist man schon ein gutes Stück weiter. Man sollte auch unbedingt den ersten Satz genauer lesen: Ridebis, et licet rideas. Wie sind also Ton und Intention im Brief?

So viel zum semantischen Part.

Auch morphosyntaktisch kann man den Text erschließen. Man kann etwa auf den Unterschied zwischen dem Perfekt der einmaligen (aber wirklich einmaligen!) Handlung cepi und den folgenden durativen Imperfektformen eingehen. Man kann Proformen analysieren und festlegen, worauf sie sich jeweils beziehen (etwa hoc studendi genus; illud silentium, quod). Außerdem lassen sich Konnektoren unter die Lupe nehmen, z.B.: non … aut …, sed … et …; ut … sic etiam. Weiter können auch erste rhetorische Mittel identifiziert werden, was im Fall von Gegenüberstellungen und Antithesen mit der Konnektorenanalyse oft gut Hand in Hand geht.

Man kann sich leicht vorstellen, dass das Übersetzen nach einer solchen Erschließung des Textes deutlich einfacher wird, denn der Schüler weiß mehr oder weniger vorab, was im Text steht.

Wie im Beispiel schon angedeutet, eignen sich diese textanalytischen Verfahren nicht nur hervorragend als Erschließungsmethoden, sondern (sogar mehr) als Basis für die Textinterpretation.

Für eine Textanalyse als Basis für die Textinterpretation lesen Sie Livius 5.41: eine transphrastische Textanalyse und Livius 5.41: eine Textinterpretation.

Wunderbar, oder?

Leider nicht!

Die eigentliche Schwierigkeit

Die meisten Schüler (und teilweise auch Studierenden) können nicht genug Vokabeln, um transphrastischen Erschließungsmethoden eigenständig anzuwenden. Selbst wenn die Grammatik richtig erkennen, kommen sie bloß mit Endungen nicht besonders weit.

Das Verstehen und Übersetzen eines lateinischen Textes […] ist für die Schüler ohne gesicherte Kenntnis der Bedeutung von Wörtern zum Scheitern verurteilt.

Schirok, in Interaktive Fachdidaktik Latein, S. 15.

Wie absurd wäre der Englischunterricht, wenn wir die Methoden der lateinischen Fachdidaktik dort anwenden würden? Das finden Sie in diesem Artikel: Vom Übersetzungsdiktat im Lateinunterricht.

Lerner verstehen vielleicht einige Vokabeln, aber in der Regel nicht genug, um selbstständig eine extensive Erschließung durchzuführen, die die Übersetzungsarbeit nennenswert erleichtert. Die Erschließung vor der Übersetzung ist daher zwar viel sinnvoller und sinnstiftender als das Darauflosübersetzen, ersetzt und kompensiert jedoch keinesfalls solide Sprachkenntnisse – vor allem im lexikalischen Bereich.

Dass dies der Fall ist, erkennen wir an den Arbeitsblättern, mit denen Schülern Texte präsentiert werden. Die meisten sind mit so vielen Vokabelangaben und Übersetzungshilfen versehen, dass sich die Frage stellt, ob wir uns nicht bloß vormachen, dass der Lerner mit lateinischen Originaltexten konfrontiert wird. Wenn jede dritte Vokabeln angegeben ist, Hilfen zu schwierigeren grammatischen Phänomenen nötig sind und vereinzelt sogar ganze Phrasen bereits übersetzt wurden, kann man überhaupt noch behaupten, dass sich die Schüler befähigt werden, sich mit einem Originaltext auseinanderzusetzen?! Wohl kaum.

Was tun, wenn nichts mehr hilft? Ist Latein etwa unerlernbar?

Texterschließungsmethoden sind notwendig, denn lateinische Texte sind zu komplex, als dass sie beim Lesen ad hoc detailliert verstanden werden könnten.

Keip, in Interaktive Fachdidaktik Latein, S. 97.

Wenn wir von einer tiefgreifenden Originallektüre ausgehen, stimme ich Frau Keip hundertprozentig zu! Ein detailliertes Verständnis von einem hochkomplexen literarischen Denkmal mit kunstvoller Sprache und intertextuellen Hinweisen, das nicht ohne Kenntnis über Entstehungskontext oder über historische und mythologische Referenzen auskommt, kann man nicht mit einer einmaligen Lektüre erreichen. Jedoch sollte der Sprachunterricht doch den Lerner dazu befähigen, mit einem Text, der seinem Lernniveau entspricht, ohne Hilfsmittel klarzukommen! Dies ist im Lateinunterricht fast nie der Fall, nicht einmal in der Textbuchphase.

Lesen Sie auch: Werde ich jemals Originaltext mühelos lesen können?

Schlimme Folgen

Was machen dann diejenigen, die anders als Frau Keip das Tuch geworfen zu haben scheinen und so handeln, als sei Latein unerlernbar?

Sie machen das:

Aus: Lehrerinnenfortbildungen Baden-Württemberg.

Auf der Webseite „Lehrerinnenfortbildungen Baden-Württemberg finden Sie mehrere „Anekdoten“ – Textpassagen, für die jeweils Aufgaben vorgeschlagen werden. Auf den lateinischen Text folgt die deutsche Übersetzung. Dann kommen drei Aufgaben, von denen die erste immer „Erschließe diesen Text mit Hilfe der Übersetzung.“ lautet.

Hallo?!

Die Auseinandersetzung mit dem Originaltext beschränkt sich darauf, dass man irgendwie sich anguckt, wie ein deutscher Text ursprünglich auf Latein formuliert war, und anhand der vorgefertigten Übersetzung die grammatikalischen Strukturen des Lateinischen nachzuvollziehen versucht. Der Fokus liegt dabei eben auf der Morphosyntax; Wortschatzarbeit wird nicht geleistet. Die zweite Übung bei diesen Anekdoten zielt jeweils auf ein grammatikalisches Phänomen ab. In der dritten Aufgabe wird schließlich über Inhalte nachgedacht.

Traurig.

Einfach nur traurig, wenn man den eigentlichen Sinn des Lateinlernens – nämlich die fundierte Auseinandersetzung mit Originaltexten – so untergräbt.

Dass und warum das Übersetzungsdiktat im Lateinunterricht problematisch ist, können Sie hier nachlesen:


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Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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