Wenn Latein Englisch wäre
The students went to the cinema.
SCHÜLER: The ist der bestimmte Artikel und bezieht sich auf students. Students kenne ich nicht, ist aber ein Substantiv und hat -s am Ende, muss also Plural sein.
LEHRER: STOPP STOPP STOPP!!! Na??? Was machen wir zuerst?!
KLASSE: Wir suchen das Prädikat!
LEHRER: Genau!
SCHÜLER: Mmmh… das Prädikat… ist went?
LEHRER: Was heißt das?
Schüler sucht im Wörterbuch und findet went nicht.
SCHÜLER: Went gibt es nicht im Englischen!
LEHRER: Doch, wo kommt das her?
KLASSE: Von to go – went – gone ‚gehen‘.
LEHRER: Und welche Form ist went?
SCHÜLER: Indikativ Simple Past aktiv, es kann alle Personen und Numeri sein. The students muss das Substantiv sein, also 3. Person Plural.
LEHRER: Super! Aber du meinst doch das Subjekt! Gut, was fragt man jetzt bei gehen?
SCHÜLER: gehen… wohin! … Also… to heißt ‚in, nach, zu, auf, an, bis‘. Welche muss ich denn nehmen?
LEHRER: Wir müssen weiterschauen. Bei to können wir als Arbeitsübersetzung zunächst zu nehmen, weil sie am häufigsten passt.
SCHÜLER: The ist der unbestimmte Artikel und bezieht sich auf cinema. Cinema kenne ich nicht.
Schüler sucht cinema im Wörterbuch.
LEHRER: Gut. Students fehlt uns noch.
SCHÜLER: Es hört sich ähnlich an wie Studium: die Studien?
…
So geht der tapfere Kampf weiter bis zur vollständigen Rekodierung ins Deutsche. Bei der Frage, was sie denn „gelesen“ hätten, weiß jedoch höchstens ein Drittel der Schüler, worum es im Satz eigentlich ging.
Tut das weh?
Würden wir moderne Fremdsprachen so unterrichten, wie wir Latein unterrichten, wäre uns das Ausmaß der Absurdität schnell klar. Wir sind das krampfhafte Elend des lateinischen Dekodierens so gewohnt, dass uns dieser alltägliche Schmerz nicht mehr zu tangieren scheint.
Man bekommt zwar im Lehrerzimmer immer wieder Gespräche mit, wie mühsam dieses Entziffern lateinischer Texte sei und wie wenig Text man in einer Stunde lesen könne, aber Menschen sind anpassungsfähige Wesen. Wird jemand täglich gefoltert, wird er irgendwann, um zu überleben, so stumpf und verfremdet, dass er sogar unfähig ist, Emotionen zu erleben. Mit dem Lateinunterricht ist es auch so: Keiner ist zufrieden, doch wir haben uns daran gewöhnt.
Deswegen bringe ich Ihnen heute dieses Beispiel an: damit wir uns einmal aufrütteln und klar machen, wie absurd es ist, eine Sprache auf diese Weise lernen zu wollen.
Ich bin mir absolut sicher, dass Ihr Unterricht um Welten besser ist als der meines Prototypenlehrers. Und ich sehe auch, wie klug mein Prototypenschüler ist. Er weiß richtig viel über die englische Sprache und über Sprachsysteme allgemein. Er ist ein kleiner Linguist.
ABER!
Kann er Englisch? NEIN!
Wird er auf diese Weise jemals in der Lage sein, einen englischen Text mühelos zu lesen? NEIN!
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Latein ist anders
Latein ist aber anders!, wenden viele ein.
Natürlich ist Latein insofern anders, dass wir es „nur noch“ in der Literatur finden. Aus diesem Grund ist unser Ziel nicht die funktionale Kommunikation, sondern wir haben dabei etwas anderes im Visier.
In meinen Augen ist das höchste unserer Ziele, Zugang zu literarischen Texten zu erhalten und ermöglichen, um die Grundlagen sowie die Geschichte der abendländischen Kultur kennenzulernen. Um das Hier und Jetzt verstehen zu können, müssen wir das antike Gedankengut und seine Rezeption im Laufe der gesamten europäischen Kulturgeschichte kennen.
Sprachliche Reflexion steht ebenfalls hoch im Kurs unserer Ziele, denn das Lateinische scheint sprachsystemisch doch hierfür besonders geeignete Eigenschaften und das richtige Maß an Fremdheit mitzubringen, um zur Reflexionssprache par excellence erhoben zu werden.
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Sprachreflexion darf allerdings nicht dermaßen entarten, dass der eigentliche Spracherwerb nicht mehr funktioniert, sondern muss meines Erachtens primär dabei helfen, die gelernten Phänomene zu systematisieren.
Schüler beweisen uns alltäglich und deutlich, dass viel über eine Sprache zu wissen, etwas ganz anderes ist, als eine Sprache zu beherrschen; dabei zeigen sich in meiner Erfahrung nicht wenige enttäuscht oder frustriert, weil sie nach vielen Unterrichtsjahren im Gegensatz zu anderen Fremdsprachen zu keinerlei Autonomie im Umgang mit dem Lateinischen gelangt sind.
Übersetzung und Spracherwerb
Um das Ziel, lateinische Texte verstehen zu können, zu erreichen, ist das Übersetzen kein geeignetes Mittel.
Wir haben Latein doch auch so gelernt, erwidert nun mancher Lateinlehrer.
Ja, haben wir. Durch mühsame und fleißige Hingabe. Und wann hat sich bei Lehrern ihr Latein tatsächlich verbessert? Bei den meisten im Studium, als sie zum einen plötzlich mit langen Textpassagen oder gar ganzen antiken Büchern klar kommen und zum anderen ins Lateinische übersetzen mussten – also durch extensive Auseinandersetzung mit Texten und produktiven Sprachgebrauch!
Im Studium haben wir alle die Zähne zusammengebissen und uns durchgekämpft, bis wir solidere Kenntnisse und ein gewisses Sprachgefühl entwickelt hatten. Glossare und Phraseologien wurden dafür von A bis Z auswendig gelernt, ganze Werke übersetzt, den Rubenbauer/Hofmann und den Menge solange durchgeblättert, bis sie Seiten abgenutzt waren.
Es hat sich gelohnt, aber wir können unseren Schülern das Leben einfacher machen, wie man auch uns hätte das Leben leichter machen können. Wie in den modernen Fremdsprachen ist auch fürs Lateinische der einsprachige Unterricht der effizienteste Weg, um (1) extensive Lektüre und (2) produktive Kenntnisse anbieten zu können.
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Als Sprachdozentin mit knapp 20 Jahren Erfahrung und als leidenschaftliche Polyglotte weiß ich, was beim Sprachenlernen effizient funktioniert: Der effizienteste Weg, um eine Sprache zu lernen, ist die Sprache in all ihren Teilkompetenzen – hören, sprechen, lesen, schreiben – zu verwenden. Und das gilt auch, wenn unser Ziel bloß das Lesen ist.
Wissen Sie, ich habe als Erstes Übersetzung und Dolmetschen studiert. Der Studiengang hatte einen Numerus Clausus mit Aufnahmeprüfung. Woraus die Aufnahmeprüfung bestand, fragen Sie? Etwa aus einer Übersetzung? Das könnte man meinen, denn gutes Übersetzen war ja das Ziel des Studiums.
MINIME! Die Aufnahmeprüfung war eine reine Sprachprüfung! In der ersten Fremdsprache und in der Muttersprache. Im Studium selbst fingen die Übersetzungskurse erst im zweiten Semester an, weil man zunächst die Sprachkenntnisse konsolidieren musste!
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Um gut zu übersetzen, braucht man vertiefte und differenzierte Kenntnisse beider Sprachen. Die Übersetzung ist – mit Ausnahme von höchstfortgeschrittenen Übungen des Stils – keine geeignete Methode, um Sprachkenntnisse zu sammeln.
Deswegen übersetzt man in den modernen Fremdsprachen, in denen die funktionale Anwendung höchste Priorität ist, nur selten und gezielt.
Deswegen kann beinahe keiner unserer Schüler lateinische Texte auf passendem Niveau lesen und auf Anhieb grob verstehen.
Deswegen kann man als Lehrer jubeln, wenn man in einer Übersetzungsstunde 10 Verse schafft.
Deswegen muss man sich den Kopf um tausendundeine Erschließungsmethoden zerbrechen, um den Text irgendwie gangbar zu machen. Übersetzen ist eben keine geeignete Verstehensmethode. Ich habe selbstverständlich nichts gegen Erschließung und Kontextualisierung. Ich glaube aber, dass wir uns und den Schülern etwas vormachen, wenn wir so tun, als ob Erschließungsmethoden fehlende Sprachkenntnisse ersetzen könnten.
Lateinunterricht zum Deutschlernen?
Ja, aber durch die Übersetzung lernt man besser Deutsch!
Klar! Die gezielte Transposition funktionaler Äquivalente (1) oder die Modulation lexikalischer oder phraseologischer Einheiten (2) stellen bekanntermaßen ein äußerst wirksames Training zur Erweiterung von Sprachkompetenz dar.
Ein Beispiel zur Transposition beim ablativus absolutus:
Caesare necato
- temporaler NS: Nachdem / Sobald Caesar getötet worden ist/war
- kausaler NS: Da / Weil Caesar getötet worden ist/war
- konzessiver NS: Obwohl Caesar getötet worden ist/war
- konditionaler NS: Falls / Wenn Caesar getötet worden wäre …
- Nominal (verschiedene Sinnrichtungen): nach/wegen/trotz dem/des Mord(es) Caesars
- parataktisch: Caesar wurde/wird getötet und …
- …
Natürlich fördert die gezielte und durch die morphosyntaktisch-funktionalen Vorgaben des lateinischen Ausgangstexts geführte Übung verschiedener Formulierungsäquivalente den Ausbau der deutschen Sprache!
Wenn diese Übung zum Hauptziel des Lateinunterrichts wird, ist der lateinische Text jedoch nur noch ein Vorwand. Man kann nämlich (und sollte) solche Übungen auch im einsprachigen Unterricht anwenden. Das wussten Sprachdidaktiker schon in der Renaissance und haben unzählige Bücher zur Erweiterung der sog. copia verborum veröffentlicht. Ich erwähne als Beispiel Erasmus‘ De duplici copia verborum atque rerum.
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Da die gezielte Übung funktional äquivalenter Strukturen sehr effektiv ist, um Sprachkenntnisse zu erweitern, frage ich mich, warum sie nicht gezielter zur Erweiterung der lateinischen Sprachkompetenz eingesetzt wird.
Gerade für die Vertiefung lateinischer Sprachkenntnisse sind die sog. differentiae verborum von zentraler Bedeutung. Warum gibt es verschiedene Wörter für ‚Kummer‘? Luctus, maeror, dolor, sollicitudo, molestia … Wenn dem Lerner bei allen einfach die deutsche Entsprechung angegeben wird, stellt er sich rechtens die Frage: Machen die Römer das extra, um uns zu quälen? Lernen wir Latein durch extensiven Umgang mit Texten und ohne den Zwang einer Übersetzung, hat man bequeme und kontinuierliche Möglichkeiten, Nuancen zu verstehen und in Originaltexten schätzen zu lernen.
Eine feine semantische Differenzierung von Kummer und anderen Affekten nimmt Cicero im 4. Buch der Tusculanae disputationes vor.
Außerdem: Was büßen wir ein, wenn wir im Lateinunterricht Deutsch statt Latein lernen?
Latein als Puzzle
Durch die Grammatik-Übersetzungs-Methode verpassen wir die Chance auf einen möglichst natürlichen Zugang zum lateinischen Text, bei welchem Verständnis im Zuge der Lektüre ohne unnötige Verzögerung aufgebaut wird. Auf diese Weise degeneriert Textverständnis schnell zum phrastischen Puzzlespiel.
Wir verlieren eben auch jeden Sinn für die Nuancen unserer geliebten Sprache und machen sie platt. Nach der Ermordung Caesars und nachdem Caesar ermordet worden war sind zwar funktionale Äquivalente, aber aus pragmatischer Sicht unterscheiden sie sich sehr wohl. Solche Nuancen machen auch lateinische Texte sprachlich lesenswert, wenn wir sie nicht bloß durchs Übersetzen wahrnehmen. Denn ein knackiger Caesare necato am Anfang des Satzes hat eine ganz andere Wirkung als ein postquam Caesar necatus est. Ein cum-Satz kann dem Ablativus absolutus auch inhaltlich entsprechen, wirkt am Anfang des Satzes oft eher als thematisches und narratives cum historicum, nachgestellt aber öfter als rhematisches cum causale. Solche Feinheiten und Unterschiede, die sich nicht nur bei morphosyntaktischen Phänomenen, sondern auch auf anderen sprachlichen Ebenen finden lassen, gehen bei einem Zugang durch die Übersetzung und insbesondere beim Konstruieren schnell verloren.
Wenn Cicero, als großer Meister der Rhetorik und einer der besten Prosaschriftsteller aller Zeiten, entschieden hat, die Möglichkeiten der lateinischen Topologie auszunutzen, um einen möglichst wirksamen Satz zu formulieren, warum bitteschön sollten wir ihn auf der Suche nach einem Prädikat oder sonst was auseinandernehmen?
Quod erat optandum maxime, iudices, et quod unum ad invidiam vestri ordinis infamiamque iudiciorum sedandam maxime pertinebat, id non humano consilio, sed prope divinitus datum atque oblatum vobis summo rei publicae tempore videtur.
Cic. Verr. 1.1.
Wenn Cicero ein Prädikat ganz ans Ende stellt (videtur), ist das kein Zufall. Wenn sich Satzglieder korrelierend wiederholen (quod …, id), ist das kein Zufall. Wenn Hyperbata im Satz sind (invidiam … sedandam), ist das kein Zufall. Wenn Ausdrücke scheinbar pleonastisch sind, ist das kein Zufall (datum atque oblatum). Und so weiter. Das wissen wir ja alle. Der Text ist so konzipiert, dass er in dieser Reihenfolge wahrgenommen werden soll, um seine Intention spüren zu können.
Jeder kann Latein so lernen, dass ihm möglich wird, lateinische Texte so zu rezipieren, wie vom Autor intendiert und sonst auch völlig normal ist, nämlich von links nach rechts!
Professor Miraglia von der Accademia Vivarium Novum hat diese Woche in einer Weiterbildung für Lehrer namens Vestibulum linguae, in der es um die sog. „Naturmethode“ im fortgeschrittenen Lateinunterricht mit dem Textbuch Roma Aeterna ging, ein sehr schönes Beispiel angebracht, bei dem klar wird, was wir verpassen, wenn wir den Text nicht in seiner vorgesehenen Reihenfolge wahrnehmen. Es handelt sich um den Satz, der auf Cäsars berühmtes καὶ σὺ τέκνον bei Sueton folgt:
Exanimis diffugientibus cunctis aliquamdiu iacuit, donec lecticae impositum, dependente bracchio, tres servoli domum rettulerunt.
Suet. Vitae I,82.
Das Ganze fängt mit exanimis an. In dieser sorgfältig orchestrierten Szene sehen wir zunächst nur den Sterbenden im Vordergrund. Wie in einer kinematographischen Szene erfolgt dann mit diffugientibus cunctis aliquamdiu iacuit ein Dolly-Zoom: Wir sehen jetzt auch, wie alle um Cäsar herum fliehen. Wir sehen auch genau, dass sie sich in verschiedene Richtungen entfernen (diffugientibus), während der noch sichtbare Cäsar da liegt. Dann kommt eine weitere Handlung: donec lecticae impositum. Das Partizip steht im Passiv: In unserer Filmszene sehen wir also bloß, wie Cäser von Armen auf eine Sänfte gelegt wird, während die Handlungsträger für uns Betrachter noch gesichtslos bleiben. Dabei wird bedeutungsvoll auf Cäsers herabhängenden Arm (dependente bracchio) eingezoomt, bis die Handlungsträger (tres servoli) schließlich eingeblendet werden. In der Totale-Einstellung folgen wir diesen schließlich, während sie Cäsars Leiche nach Hause zurückbringen.
Fangen wir an zu konstruieren, wird das Kunstvolle dieser Prosa vollkommen zerstört.
Noch schlimmer: Wir vermitteln den Schülern den Eindruck, dass die lateinische Syntax völlig frei sei. Ja, dank der ausgeprägten Flexionsmorphologie hat man im Lateinischen syntaktische Differenzierungsmöglichkeiten; diese werden allerdings gerade bei den wertvollen Autoren, die wir in unserem Fach lesen dürfen, zu stilistisch-rhetorischen Zwecken brauchbar gemacht und sollten nicht durch das Herauspicken, Weglassen, späteres Hinzufügen und Hin- und Herbewegen einzelner Konstituenten platt gedrückt werden.
Falscher Eindruck beim Übersetzen
Eine letzte Gefahr, auf die ich heute eingehen möchte, die mit der Grammatik-Übersetzungsmethode immer entsteht, ist das, was der Schüler in meiner anfänglichen Satire beim Übersetzen von to zum Ausdruck bringt: „Also… to heißt ‚in, nach, zu, auf, an, bis‘. Welche muss ich denn nehmen?“
Wie oft hört man solche Fragen im lateinischen Klassenzimmer? In der Lehrbuchphase sind es die dem Schüler oft ganz komisch vorkommenden Äquivalente, die er aus dem Glossar jeder Lektion auswendig lernen soll. In der Lektürephase wird durch die Wörterbuchbenutzung potenziell alles noch konfuser.
Tja. Welche Bedeutung ist denn gemeint? Das ist eine berechtigte Frage, wenn man Bedeutungen so präsentiert, dass einem lateinischen Wort bestimmte deutsche Wörter entsprechen.
In der Zeit, als ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität tätig war, habe ich im Rahmen eines lexikographischen Projekts gearbeitet. Meine Aufgabe war es also, ausgehend von den Korpus-Belegen eines bestimmten Lemmas den entsprechenden Artikel für das Wörterbuch zu verfassen. Dabei wurde mir eins klar: So funktionieren Bedeutungen nicht! Sie kennen ja Bedeutungsgliederungen aus Wörterbüchern: Beim polysemischen Lemma stehen dann die Bedeutungen 1, 2, 3 usw. Wenn der Lexikograph einmal die Bedeutungsgliederung vorbereitet hat, muss er dann jeweils Belege aus dem Korpus auswählen, die im Artikel erscheinen werden. Es gibt je nach Projekt verschiedene Herangehensweisen. Ich kann Ihnen aber versichern, dass es verdammt schwer ist, für eine bestimmte Bedeutung einen semantisch eindeutigen Beleg zu finden. Bei den allermeisten Belegen können eben verschiedene Aspekte der Lemmabedeutung gleichzeitig eine Rolle spielen. Wortsemantik ist vage. Wir verstehen, was das Wort bedeutet. Wir sehen auch, dass es in verschiedenen Kontexten Unterschiedliches bedeuten kann. Aber im eigentlichen Sprachgebrauch sind diese Bedeutungsaspekte nicht diskret unterscheidbar. Diese Vagheit betrifft nicht nur Lexeme, sondern alle Einheiten, die eine Funktion aufweisen, also auch morphosyntaktische Strukturen. Der oben bereits erwähnte Abl. Abs. ist eben auch hinsichtlich seiner Sinnrichtung interpretierbar.
Warum verlangen wir von unseren Schülern täglich etwas, was für den Sprachwissenschaftler eine Herausforderung ist, und vermitteln dabei auch noch einen ganz falschen Eindruck von Sprachsystemen?
Gerade im Lateinischen kann die Polysemie bestimmter Vokabeln geradezu verwirren und irritieren, wenn wir sie durch deutsche Äquivalente aufzeigen.
Wenn wir sagen, gloria heißt ‚Ruhm‘, ‚Ehre‘, ‚Stolz‘, ‚Prahlerei‘, ‚Ehrgeiz‘ oder ‚Ruhmestaten‘, hat der Schüler den Eindruck, dass er sich mehr oder minder willkürlich gewählte Entsprechungen merken muss. Dabei geht es uns doch gar nicht um die einzelnen Äquivalente, die durchaus mit anderen austauschbar wären. Es geht darum, dass der Schüler versteht, was gloria im Grunde ist: der ‚Ruhm‘. Im Laufe der Auseinandersetzung mit lateinischen Texten, die im einsprachigen Unterricht durchaus extensiv ausfällt, wird er gloria nach und nach in immer mehr Kontexten sehen. Wer Ruhm erlangt, wird in Ehren gehalten. Er hat etwas, wodurch er den Ruhm erreicht hat und das Gegenstand seines Stolzes ist. Hält jemand zu viel von seinem Ruhm, prahlt er. Wie es bei anderen Abstrakta auch passiert (z.B. urbanitates, aemulationes), bezeichnet der Plural gloriae etwas Konkretes, nämlich die eigentlichen Ruhmestaten. Besteht man nicht krampfhaft auf eine kontextuelle Monosemierung, die durch den Zwang der Übersetzung zwar notwendig wird, aber nicht sprachsystemisch bedingt ist, können wir entspannter und effizienter ein Gefühl für ein solches semantische Spektrum bekommen.
Das wird insbesondere notwendig bei Wörtern, die scheinbar Gegenteiliges bedeuten. Wenn speciosus (+) ‚herrlich‘, (0) ‚wohlgestaltet‘ und (-) ‚täuschend‘ bedeutet, kann der Lateinlernen bei einer bloßen Aneinanderreihung von Äquivalenten doch nur verzweifeln. „So viel zur logischsten Sprache der Welt!“, spottete ein Schüler im Angesicht einer solchen Angabe.
Es gibt valide Alternativen mit viel längerer und fruchtbarerer Tradition als die Grammatik-Übersetzungsmethode.
Wenn Sie mehr über einsprachigen Lateinunterricht und den Ausbau produktiver Lateinkenntnisse wissen wollen, würde ich Ihnen empfehlen, mit der Lektüre von Familia Romana anzufangen und selber einen lateinsprachigen Kurs zu besuchen, damit Sie einmal selbst erleben, was möglich ist, und sich mit Ihren eigenen Augen überzeugen können. Das wird Ihnen Spaß machen, versprochen!
Über den erleichterten und vertieften Zugang zu lateinischen Texten hinaus verspreche ich Ihnen, dass Sie viele Überlappungen mit den guten Entwicklungen der heutigen Lateindidaktik vorfinden werden, wie die fruchtbare Auseinandersetzung mit besonders produktiven Wortbildungsmustern (etwa Präfixverben oder Substantivierungen durch Suffigierung), die metasprachliche Reflexion, die textanalytischen Elemente.
Es geht nichts verloren außer der Übersetzung. Und die steht dem Spracherwerb eh im Weg.
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