Wenn ich auf die Information hin, dass meine Schulfächer Italienisch und Latein seien, den selbstgefällig vorgebrachten Spruch „Ach so, dann Alt- und Neulatein!“ bekomme, kann ich nur mit einem schweigenden Lächeln, das die Augen nicht erreicht, reagieren, denn ich habe offensichtlich einen Stock you know where.

Jedenfalls: Was heißt Alt-, Mittel-, Neulatein wirklich? Und warum sprechen wir auch von klassischem Latein? Die Bezeichnungen sind nämlich für diejenigen die eine Parallele bei Alt-, Mittel- und Neuhochdeutsch suchen, sehr irreführend.

Altlatein

Obwohl eine Beschreibung des Lateinischen als einer zeitlich und räumlich extrem ausgedehnten Sprache immer einen mit Abstraktionen verbundenen Annäherungsversuch darstellt, da sprachliche Entwicklung nie – weder auf dem temporalen noch auf dem lokalen Kontinuum – abrupt stattfinden, können wir anhand von bestimmten Sprachwandeln sprachgeschichtlich zwischen Altlatein und klassischem Latein unterscheiden.

Als Altlatein oder archaisches Latein bezeichnen wir den Sprachstand vor dem 1. Jh. v. Chr. Das ist die Sprache, die etwa durch Livius Andronicus (✝ 207 v. Chr.) und Cato den Censor (✝ 149 v. Chr.) literarisch belegt ist. Obwohl überlieferte Werke, Inschriften und Sekundarbelege aus späteren Autoren zusammen mit sprachvergleichenden Verfahren nur eine unvollständige Beschreibung dieses Sprachstandes ermöglichen, wissen wir, dass sich diese Sprachstufe strukturell, also sprachsystemisch, vom klassischen Latein unterscheidet. Das bedeutet, dass Sprachwandel stattgefunden haben, die im Übergang zur klassischen Zeit die Sprache grundlegend verändert haben.

Schaut man auf die Inschrift der Fibula Praenestina, die als ältestes lateinischsprachiges Zeugnis zählt, finden wir exemplarisch schon einige dieser Unterschiede auf graphemisch-phonologischer und morphologischer Ebene:
MANIOS: MED: FHE:FHAKED: NVMASIOI (CIL 14, 4123,1) ~ ‚Manius me fecit Numerio‘

  • -os, noch nicht -us, im Nominativ Singular
  • med für späteres me
  • Reduplikationsperfekt von facere
  • fehlender Rhotazismus in Numasioi
  • fehlende Monophthongierung von -oi
  • fehlender Umlaut von a vor i in der Folgesilbe: Numasioi

Die Sprachwandel (insbesondere auf phonologischer und morphologischer Ebene) sind so signifikant, dass sie sprachsystemische Veränderungen verursachen, die Sprachwissenschaftler veranlassen, die zwei Systeme als zwei verschiedene Sprachstufen – Altlatein und klassisches Latein – zu analysieren. Wenn wir Altlatein lesen, finden wir also alte Laute und Grammatikregeln vor, die sich stark vom Sprachstand unterscheiden, den wir aus dem Lateinunterricht kennen.

Klassisches Latein

Wenn wir Latein lernen, beschäftigen wir uns mit dem lateinischen Sprachsystem, wie es von gebildeten Muttersprachlern im 1. vor- und nachchristlichen Jahrhundert geschrieben wurde. Dass wir diesen Sprachstand klassisches Latein nennen, hat nicht mit linguistischen Merkmalen, sondern vor allem mit der Literaturgeschichte dieser Zeit zu tun. Das sog. klassische Latein ist der Sprachstand, dessen Gestalt sich in einer Zeit entwickelt hat, in der das allmählich gestiegene literarische Bewusstsein der Römer zur Vervollkommnung von literarischen Formen geführt hat.


Was bedeutet Klassik?

Der Terminus Klassik stammt eben nicht aus der Sprachwissenschaft, sondern aus der Literatur- und Kunstgeschichte, um kulturgeschichtliche Epochen zu kennzeichnen, die von der Nachwelt jeweils „als vorbildhaft, normbildend, kanonisch anerkannt werden“ (Schweickle/Zabka 2007, s.v. Klassik).

Beispiele für als Klassik wahrgenommene Epochen sind:

  • die attische Klassik im 5.-4. Jh. v. Chr. in Griechenland, in der sich ein Instrumentarium und eine forma mentis der Philosophie entwickelt hat, die heute noch weiterlebt;
  • die Wiener Klassik in der Musik mit Beethoven und Mozart, in der u.a. die themisch-motivische Arbeit etabliert wurde;
  • die Weimarer Klassik in der deutschen Literaturgeschichte zur Zeit Goethes und Schillers;
  • der Siglo de Oro 1550-1660 in Spanien.

Auch was die römische Literatur angeht, verwenden wir diese hesiodisch-ovidische Metallmetapher und sprechen für die klassische Epoche von goldener Latinität. Die Latinitas aurea streckt sich von Ciceros Anfängen ca. 80 v. Chr. bis zum Tod des Augustus 14 n. Chr. aus.

Zum einen weil die goldene Latinität besonders stark rezipierte, und daher lernwürdige Autoren (Cicero, Vergil, Ovid, Horaz und andere in dem Kaliber) hervorgebracht hat, zum anderen weil wir nicht den gesamten Sprachstand rekonstruieren können, sondern nur Zugang zur geschriebenen Bildungssprache in Form von tradierten literarischen Werken haben, haben sich bei der Verbreitung des Terminus klassisches Latein die literaturgeschichtliche und die sprachwissenschaftliche Ebene vermengt.

Spätlatein

Die Spätantike (ca. 2.-6. Jh. n. Chr.), in der das Spätlateinische situiert wird, schließt die sog. silberne Latinität des 2. Jh. (Seneca, Tacitus, Plinius, Martial usw.) sowie eben die Zeit bis zum Ende der Antike.

Die Unterschiede zwischen der klassischen und der spätlateinsichen Sprache liegen vor allem auf pragmatischer Ebene, da die früher strikten Grenzen zwischen geschriebener Bildungssprache und gesprochener Umgangssprache in der Spätantike labiler werden.

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Im Laufe der Spätantike und des Mittelalters entwickelt sich die lateinische Sprache in geringem Umfang sicherlich auch auf morphosyntaktischer Ebene weiter, nicht zuletzt unter dem Einfluss der Volkssprachen. Grob gesprochen gehen die Entwicklungen u.a. in Richtung analytische Verbformen, Ersatz des AcI durch quod-Sätze, Übernahme von protoromanischen Formen wie -as für Nominativ Plural Femininum sowie Entstehung von Neologismen.

Dennoch haben wir es nicht mit einem grundlegend anderen Sprachsystem, sondern es handelt sich nach wie vor um lateinische Sprache, die jeder, der des Lateinischen mächtig ist, verstehen kann. Normalerweise sind die Änderungen, die als Grenzen zwischen Sprachstufen fungieren, primär auf der phonologischen Ebene – so „bewirkt“ beispielsweise die erste Lautverschiebung den Anfang des Germanischen, die zweite den Anfang des Althochdeutschen –, dann auch auf der morphologischen, wenn etwa um kombinatorische (also nur in bestimmten lautlichen Umgebung stattfindende) Lautwandel Lautalternanzen innerhalb von Paradigmen verursachen, die analogisch beseitigt werden.

Diese Änderungen beobachtet man synchron bei Zweifelsfällen. Zum Beispiel sagen manche im Neuhochdeutschen Geb! statt Gib! Der Lautwechsel e – i im Paradigma ist das Chaos, das der nordwestgermanische *i-Umlaut überlassen hat und nun per Analogiebildungen beseitigt wird. Den Nostalgikern unter Ihnen muss ich leider sagen: Gib! und Hilf! werden sich nicht mehr lange halten, obwohl wir Geb! und Helf! womöglich als Sprachverfall empfinden.

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Durch die Weiterentwicklung der verschiedenen Volkssprachen spielt innerhalb des lateinischen Sprachsystems die gesprochene Alltagssprache allerdings eine immer kleinere Rolle. Das bedeutet nicht, dass Latein nicht mehr gesprochen worden wäre! Latein wurde aktiv gelernt und selbstverständlich auch gesprochen – wie eben alle Sprachen, die man ordentlich lernen will. Da jedoch die Vorbilder, aus denen man lernte und nach wie vor lernt, in aller Regel der schriftlichen Bildungssprache angehören, können wir die meiste lateinische Produktion – mündlich wie schriftlich – in die Kategorie der konzeptuellen Schriftlichkeit nach Koch/Oesterreicher einstufen.

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Vulgärlatein und Protoromanisch

Obwohl man bei der Betrachtung und Beschreibung aller Sprachen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit unterscheiden muss, spielen die verschiedenen Register, die man im Lateinischen bis zur klassischen Zeit hatte, eine besondere Rolle, weil sich aus literarischer Hochsprache einerseits und alltäglicher Volkssprache andererseits zwei wichtige Entwicklungsstränge ergeben, die man getrennt verfolgen muss: das Proto-Romanische und die lateinische Literatursprache.

Latein schloss selbstverständlich nicht nur literarisch belegte Register, sondern auch den sermo vulgaris, die gesprochene Sprache des Volks, ein. Einblicke in diese Varietät gewährleisten uns verschiedene Quellen: in der Komödie zu beobachtende Aspekte der Mündlichkeit, sprachvergleichende Beobachtungen zur Rekonstruktion etwa der Aussprache sowie Hinweise für Redner auf häufige Fehler der gesprochenen Sprache.

Vulgärlatein bezeichnet einerseits die vom muttersprachlichen Volk gesprochene Sprache. Andererseits wird der Terminus auch im Sinne von ‚Protoromanisch‘ verwendet, um also die nachklassischen Entwicklungen des gesprochenen Lateinischen zu bezeichnen, die zur Entstehung der romanischen Sprachen geführt hat.

Das Lateinische war und blieb zwar die Sprache des Imperium Romanum, zumindest im Westen, aber es war nur natürlich, dass sich in einem so ausgedehnten Sprachraum die Mündlichkeit zunächst und nach und nach auch die Schriftsprache unterschiedlichen Wandeln unterziehen würden – Wandeln, die im Laufe der Zeit zur Entstehung der romanischen Sprachen führten. Diese Sprachen verselbstständigten und entwickeln sich dann offensichtlich so weit, dass sie ebenfalls den Status von Literatursprachen erreichten.

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Mittel- und Neulatein

Während der sermo vulgaris in mutierter Form in den heutigen romanischen Sprachen weiterlebt, ist mit dem geschriebenen Latein etwas ganz Eigenartiges passiert: Es ist einfach geblieben, praktisch unverändert und dadurch ewig, in allen bildungssprachlichen Kontexten!

Jeder, der das klassische Latein beherrscht, kann Mittel- und Neulatein lesen. Natürlich gibt es, vor allem im Mittellateinischen, kleinere Unterschiede auf morphosyntaktischer Ebene, die in deskriptiven Grammatiken festgehalten werden. Eine gute Übersicht bietet auch schon der Wikipedia-Artikel zu Mittellatein. Aus präskriptiver Sicht könnten diese Wandel allerdings auch als Fehler eingestuft werden, da die Verfasser die klassischen Autoren als sprachliche Vorbilder nutzten.

Ganz ganz grob gesprochen hat spätestens die Renaissance dafür gesorgt, dass die morphosyntaktischen Fehler, die auf eine Interferenz der Volkssprachen, wie quod-Satz statt AcI, durch eine philologisch immer raffiniertere Auseinandersetzung mit den Quellen sowie durch entscheidende Impulse in der Sprachdidaktik beseitigt wurden. Dank solcher Studien steht das sprachliche Niveau vieler Humanisten einem Cicero bewundernswerterweise in nichts nach.

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Sprachliche Änderungen, die tatsächlich bie heute geblieben sind, betrafen die phonologische Ebene. Die italienisch-ekklesiastische Aussprache, die deutsche Schulsprache usw. haben aufgrund dieser Tradition meines Erachtens nach wie vor ihre Berechtigung. Was sich jedoch nie geändert hat, sind die Wortakzente.

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Zusammengefasst

Wenn wir nur Latein sagen, meinen wir den Sprachstand des klassischen Lateins (1. Jh. v. und n. Chr.). Dieser hat sich allerdings im Rahmen der sog. konzeptuellen Schriftlichkeit unverändert erhalten. Vom Sprachstand her unterscheiden sich Spätlatein (in der Spätantike), Mittellatein (im Mittelalter) und Neulatein (danach) nicht vom klassischen Latein. Dieses wurde sozusagen eingefroren und konnte sich so zu der lingua franca schlechthin entwickeln, nämlich zu einer, die die Grenzen von Raum und Zeit bricht. Das sind die wunderbaren Umstände, die das Lateinische zu einem einzigartigen und unentbehrlichen Kulturgut machen.

Man sollte sich vom Vergleich mit den Termini Alt-, Mittel- und Neuhochdeutsch nicht irritieren lassen. In diesem Fall bezeichnen die Zeitgrenzen ebenfalls Sprachgrenzen, nämlich ungefähr: Althochdeutsch (750-1050), Mittelhochdeutsch (1050-1350), Frühneuhochdeutsch (1350-1650), Neuhochdeutsch (1650-heute). Das trifft fürs Lateinische nicht zu.

Latein ist ewig. Alle, die sprachsystemisch anders schreiben als die Schriftsteller der goldenen Latinität, tun dies entweder aus Unwissenheit oder – wie etwa Tacitus – zwecks absichtlicher stilistischer Umbrüche. Beides zeugt dafür, dass das Sprachsystem unverändert ist.

Literatur

Metzler Lexikon Literatur (20073): Metzler Lexikon Literatur, s.v. Klassik.

Norberg, D. (1943/1990): Syntaktische Forschungen auf dem Gebiet des Spätlateinischen und des frühen Mittellateins. Hildesheim/Zürich/New York: Georg Olms.

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Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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