Vor kurzem hatten Deutschland und ich Jahrestag. Seit 14 Jahren wohne ich als gebürtige Italienerin (meist) glücklich in NRW. In Deutschland kann ich Vieles machen, was in Italien deutlich schwieriger gewesen wäre, wie mit Geisteswissenschaften meine Brötchen verdienen, mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren oder 9-stündige Wanderungen unternehmen, ohne für verrückt gehalten zu werden. Doch gibt es immer wieder Dinge, bei deren Erinnerung mir leicht Tränen in die Augen treten und ich ganz doll Heimweh bekomme. Da Vieles davon mit toskanischer Landschaft zu tun hat, werde ich heute über 10 Dinge berichten, die ich an der Toskana vermisse.

Kultur und Schönheit

Ein kulturell interessantes Leben kann man in Deutschland in vielen Städten führen, unter vielen Gesichtspunkten auch leichter als in Italien, wo Theater, Opern und Museen oft so teuer sind, dass sie nur wenige anzusprechen vermögen. Doch Kultur im Sinne einer ästhetisch wertvollen Hinterlassenschaft unserer Geschichte kann man in keinem anderen Land wie in Italien erleben. Auch die Toskana greift in dieser Hinsicht auf ein unerschöpfliches Erbe zurück, das gänzlich zu erfassen ein Leben nicht reichen würde. So hochnäsig es sich anhört: Wer in Italien aufwächst, vermisst im Ausland das Schöne, die schiere Menge und beinahe flächendeckende Verbreitung von wundervollen Denkmälern, Gebäuden, Kunstwerken.

Florenz, Raub der Sabinerinnen von Giambologna und Palazzo Vecchio

Zypressen

Geht man in der Toskana auf dem Land spazieren oder reist man auf einer Landstraße, wird man von atemberaubender Schönheit beglückt. Sich auf Hügeln schlängelnde Reihen tränenförmiger Zypressen gehören zu den faszinierenden Merkmalen meines Herkunftslandes. Oft führen solche Zypressenalleen zu Friedhöfen, sodass man andare ai cipressini als Euphemismus für ’sterben‘ sagt.

Was ich am meisten vermisse, ist deren beißender würzig-harziger Geruch, den ich mit Spielen im Freien und nicht wenigen Rückzugsmomenten in Verbindung bringe. Es wachsen in der Toskana auch sogenannte blaue Zypressenwacholder, die unter anderem gerne als Büsche an Schulzäunen gepflanzt werden. Was man als Kind mit dem wunderschön klebrigen, duftenden Harz (la ragia) und den grünen, halbstacheligen Wacholderbeeren nicht alles spielen kann! Auch Plinius der Ältere erwähnt übrigens den distinktiven Geruch der Zypressen:

incognito genere arborum […] frondes cupressi similes praeterquam gravitate odoris

Plin., nat. 5,14

Sind Sie irgendwann in der Toskana, vergessen Sie nicht, an einer Zypresse zu schnuppern!

Um beim Thema Spielen zu bleiben und mich noch ein bisschen bei uralten Erinnerungen aufzuhalten, möchte ich noch eine Pflanze erwähnen: das aufrechte Glaskraut. Das ist eine Pflanze, die auf Mauern wachsen kann, weswegen sie auf Italienisch (und Latein) parietaria heißt. Sie gehört zur Familie der Brennnesselgewächse – pikst aber nicht – und ihre Blätter haften auf Klamotten und Haut. Daher wurden im Kindergarten damit reichlich Blätterjuwelen für Ohrläppchen und Hände kreiert. Die Pflanze soll es auch in Mitteleuropa geben, aber mein aktuell geringer Bedarf an Blätterohrsteckern hat mich beim Auffinden soweit verhindert.

Mein homonymer Baum

Was wäre das Mittelmeer ohne Olivenbäume? Mir liegt der Ölbaum natürlich besonders am Herzen, weil ich seinen Namen trage. Ulivi ist höchstwahrscheinlich ein erstarrter Genitiv, was meine Familie zu ‚denen vom Olivenbaum‘ macht. Geht es toskanischer als das? Wohl kaum.

Was ich sehr vermisse, sind insbesondere Olivenbäume an windigen Tagen, wenn die nachgiebigen Zweige ganz einzigartig im Wind rauschen und die länglichen Blätter, die oben dunkel und unten hell sind, unermüdlich grün-silbrig flirren.

Optimale Bedingungen, um ein schönes Buch in Ruhe zu genießen oder gar zu schreiben. Probieren Sie es aus, ohne die Oliven direkt aus dem Baum zu probieren: viel zu bitter.

Pinien

La macchia mediterranea, die typische Mittelmeervegetation, machen unter anderem Pinien aus. Nicht wenige private Gärten oder öffentliche Plätze werden von diesen Kiefern beschattet, weil ihre hochwüchsigen Stämme zweigarm bleiben und die Baumkrone hoch anfängt und horizontal ausladend ist. Mit steigendem Alter nehmen sie immer mehr die Form eines Sonnenschirms an und bieten einen angenehmen Schutz an heißen Sommertagen. In Städten und Dörfern am Meer ist es nicht selten, kleine Pinienwälder – le pinete – zu finden, in denen sich der schöne Geruch der Bäume mit dem salmastro, der salzigen Meeresluft, herrlich mischt.

Wenn die Zapfen im Sommer aufgehen, sind die Pinienkerne reif. Da brauch man nur Ausschau nach einem größeren Stein zu halten und schon kann es mit dem Knacken und Naschen losgehen, bis die Fingerspitzen ganz schwarz vom hartnäckigen Staub der Schalen werden.

Sommertiere

Während man der Erde Früchte genießt, sollte man sich immer wieder umschauen, um die kleinen süßen Tierchen der Region zu entdecken: die giftgrüne Eidechse, die auf warmen Backsteinen ein Sonnenbad nimmt, den freundlichen, mückenfressenden Mauergecko, der sich unter der Dachrinne versteckt, und abends tanzende Glühwürmchen.

Wenn übrigens bei Toskanern von tarantole die Rede ist, brauchen Sie sich keine Sorgen um giftige Spinnen zu machen: Gemeint sind die erwähnten, völlig harmlosen Mauergeckos, deren offizielle lateinische Name tarentola mauritanica lautet.

Sonnenblumenfelder

Ebenfalls im Sommer zu sehen sind die wunderschönen Sonnenblumenfelder. Obwohl ich lange das unermessliche Glück hatte, sie jeden Sommer täglich zu sehen, war das schon damals ein Spektakel, bei dem mir jedes Mal ganz warm ums Herz wurde.

Ehemalige Tabakfabriken

Neben entzückenden Sonnenblumenmeeren und goldenen Gerstenfeldern, an von traumhaften Hügeln umgebenen Straßen sind immer wieder ehemalige Tabakfabriken zu sehen, in denen die weltweit berühmten toskanischen Zigarren traditionell hergestellt wurden und die aus der Landschaft um San Miniato nicht wegzudenken sind. Es waren in der Nachkriegszeit insbesondere Frauen, die als saisonale Arbeiterinnen hier tätig waren. Ihnen wurde durch diese Form der landwirtschaftlichen Industrie zum ersten Mal die Chance gegeben, sich etwas zu emanzipieren, indem sie sich ausnahmsweise untereinander außerhalb der Familie aufhalten durften. Die mittlerweile verstorbene Norma Guerri gedenkt in ihrer Autobiographie Quando ero contadina…, die ich nach ihrer Erscheinung 1997 von der Autorin geschenkt bekam, der Arbeit in den tabaccaie:

Anche quell’inverno fui assunta alla fabbrica del tabacco, era un lavoro stagionale ma io ero contenta di andarci per più motivi, potevo guadagnare un po‘ di soldi per aiutare la mia famiglia e potevo stare in compagnia delle mie amiche, eravamo tante donne, tutte giovani, facevamo tante risate, e in quelle ore dimenticavo la mia situazione.

Guerri, Norma (1997): Quando ero contadina… Milano: Jaca Book, S. 87.

Der steigende Nebel im Winter

La nebbia a gl’irti colli
Piovigginando sale,
E sotto il maestrale
Urla e biancheggia il mar;

San Martino von Giosuè Carducci (1883 verfasst)
Carducci, Giosuè (1942): Giambi ed epodi e rime nuove. Bologna: Zanichelli, S. 39.

Wenn die winterliche Luft in den Tälern kalt und feucht ist, entsteht dort ein Nebel, der morgens bei steigender Temperatur die Hügel regelrecht emporklettert. Nostalgisch muss ich das berühmte Gedicht San Martino von Giosuè Carducci zitieren, in dessen erster Strophe just dieses herrlich triste Phänomen Erwähnung findet.

Lustige Menschen

Ich weiß nicht, ob ich es mir einbilde, aber ich finde, dass es in der Toskana überdurchschnittlich viele witzige Menschen gibt. Das kann zwar schnell ins Anstrengende ausarten, wenn jeder immer einen (vermeintlich) lustigen Spruch parat hat, aber es trägt in der richtigen Dosis zur gewissen Unbeschwertheit bei, die Deutsche an Italienern als dolce vita oft bewundern.

Fettunta

Nach neun aufgelisteten Punkten war noch nichts Kulinarisches dabei. Das klingt schon verdächtig und unglaubwürdig, wenn es um Italien geht. Was ich an Essen vermisse, ist la fettunta. Über toskanisches Brot werde ich an anderer Stelle sicherlich noch einmal zu sprechen kommen; es sei hier nur erläutert, dass toskanisches Brot kein Salz enthält, was innerhalb der toskanischen Küche Sinn ergibt, denn dieses Brot wird entweder zur Zubereitung verschiedener Gerichte benutzt oder als Begleitung zu toskanischem Schinken oder anderem extrem salzigem Aufschnitt gegessen. Nehmen Sie toskanisches Brot etwa zum deutschen Frühstück mit Butter und Lyoner – sacrilegio! –, können Sie nur bitterst enttäuscht werden, zumal sich toskanisches Brot von der Konsistenz her gar nicht mit Butter bestreichen lässt. When in Rom, do what Romans do. Und was man da zum Beispiel macht, ist die fettunta, wörtlich die ‚ölige Scheibe‘: Eine Scheibe toskanisches Brot wird geröstet – vorzugsweise im Kamin –, beidseitig mit frischem Knoblauch bestrichen und mit Salz sowie reichlich toskanischem Öl angemacht. Fertig! So einfach und doch nur an einem Ort auf der ganzen Welt zu finden und so unfassbar lecker.


Das sind 10 Dinge, die ich an meiner Herkunftsregion vermisse. Die Toskana ist so wunderbar, dass jeder sie mindestens einmal im Leben gesehen haben sollte. Wann immer ich Heimweh bekomme und an den wunderbaren Duft der Zypressen oder an das unendliche Gelbe der Sonnenblumenfelder mit Sehnsucht zurückdenken muss, ertappe ich mich jedoch bei der Frage: Vermisse den Ort oder die Zeit?

Gib ungebändigt jene Triebe,
das tiefe schmerzenvolle Glück
des Hasses Kraft, die Macht der Liebe,
gib meine Jugend mir zurück!

Der Dichter in Goethes Faust
Schöne, Albrecht (Hg.) (1994): Johann Wolfgang Goethe, Faust. Texte. Frankfurt a/M: Deutscher Klassiker Verlag, vv. 194-197.



Jeden Sonntag erscheint ein neuer Artikel auf der Webseite. Bis der nächste herauskommt, könnten Sie auch diese interessieren:


Abonnieren Sie meinen Newsletter.


Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

2 Kommentare

Mazze · 3. Oktober 2021 um 14:39

Sehr schön geschrieben!

Schreiben Sie einen Kommentar

Avatar placeholder

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert