Dieser Artikel ist Teil einer Serie, in der ich Hilfsmittel zur Originallektüre erstelle, während ich die Aeneis lese. Die Hilfsmittel sind vor allem für Studierende und andere fortgeschrittenere Lerner gedacht, und zwar vor allem solche, die wie ich auch am Ausbau ihrer aktiven Lateinkenntnisse interessiert sind.

Lassen Sie uns die Aeneis zusammen lesen!

Der erste Vers der Passage, die wir heute zusammen lesen, fängt mit einem Rückverweis auf den Monolog der verärgerten Juno (vv. 34-49), die nun nach Aeolia aufbricht, um dort Aeolus, den König der Winde, aufzusuchen (vv. 50-63). Ihn bittet sie, einen verheerenden Sturm gegen Aeneas‘ Flotte zu entfachen. Als Gegenleistung bietet ihm Juno, die aus der bitteren Enttäuschung des Parisurteils offensichtlich gelernt hat, eine wunderschöne Nymphe. Once again, this does the trick: Aeolus stimmt zu.

Aeolus, König der Winde (vv. 50-63)

Talia flammato secum dea corde volutans
nimborum in patriam, loca feta furentibus austris,
Aeoliam venit. Hic vasto rex Aeolus antro
luctantes ventos tempestatesque sonoras
imperio premit ac vinclis et carcere frenat.
Illi indignantes magno cum murmure montis
circum claustra fremunt; celsa sedet Aeolus arce
sceptra tenens mollitque animos et temperat iras.
Ni faciat, maria ac terras caelumque profundum
quippe ferant rapidi secum verrantque per auras.
Sed pater omnipotens speluncis abdidit atris, 
hoc metuens, molemque et montes insuper altos
imposuit, regemque dedit, qui foedere certo
et premere et laxas sciret dare iussus habenas.

Virg., Aen. 1.50-63

🔈 Hier können Sie sich den vorgetragenen Text anhören:

Hilfen und Anmerkungen zum Text

  • Die Winde werden als tobende Kräfte dargestellt, die untereinander kämpfen, da sie ja aus verschiedenen Himmelsrichtungen wehen.
  • Der Auster ist eigentlich der Südwind; in v. 51 steht es aber allgemein für ‚Wind‘, wahrscheinlich um Wiederholungen zu vermeiden, denn ventis hätte metrisch schließlich auch gepasst.
  • Lokale Präpositionen fehlen in der Dichtung sehr oft auch dort, wo sie in der Prosa obligatorisch sind:
    • Aeoliam (v. 52) muss hier als Apposition keine Präposition haben, man könnte aber auch in Aeoliam hinzufügen;
    • vāstō antrō (v. 52): lies vāstō in atrō;
    • celsā arce: lies celsā in arce;
    • entweder abdidit spēluncīs ātrīs (Abl. instr.) oder wahrscheinlicher in spēluncīs ātrīs (Abl. loci).
  • Da Aeolus die wilden Winde bändigt, finden wir in der Passage
    • Wörter aus dem Sachfeld ‚Gefangenschaft‘: carcer, vinculum, claustra, premere, imperium;
    • Metaphern aus der Reiterei: claustra, frēnāre (< frēnum ‚Zaum‘), habēnās premere, habēnās dare;
    • Wörter und Wendungen, die Affekte betreffen: flammātō corde (Junos), furere, luctārī, indignārī, animōs mollīre (wobei hier bei animus auch die ursprüngliche Bedeutung ‚Wind‘ mitschwingt), īrās temperāre, metuere (Jupiter).
  • Ich finde die Alliteration in v. 55 – magnō cum murmure montis – wunderschön gelungen: Man kann regelrecht hören, wie die Winde empört vor sich hin murmeln (fremunt indīgnantēs)!
  • Aeolus ist der König, daher aus dem Sachfeld ‚Königtum‘: rēx (2x), imperium, premere, celsus, sceptrum (im poet. Pl.), foedus, iubēre.
  • In vv. 58f. bezeichnet der Konjuktiv Präsens einen Potentialis.
  • Verrere per aurās heißt zwar ‚durch die Lüfte fegen‘; da aber aura spezifisch die ‚bewegte Luft‘ bezeichnet, bedeutet es ebenfalls ‚mittels der Winde fegen‘.
  • Die Verbindung caelum profundum ist poetisch.
  • Der von regem abhängigen Relativsatz quī scīret + Inf. ist ein charakterisierender Relativsatz und steht daher im Konjunktiv: ‚einen König von der Art, dass …‘, ‚einen König, der wissen soll…‘.
  • Iussus steht hier m. E. aus metrischen Gründen für iubēns. Möglich wäre auch die Interpretation als Passiv ‚quotiēns ā Iove iuberētur‘, wie etwa in der Edition in usum Delphini angegeben.

Paraphrase auf Latein

De his secum cogitans Iuno graviter permota iter facit in Aeoliam, terram patriam ventorum, quae ventis saevis plena est. Hoc loco rex Aeolus et tempestates sonantes et ventos inter se rixantes in suam potestatem redigit; quos in carcerem coniectos catenis coercet. Illi autem haec moleste ferentes circa ostia strepunt, ut mons interior magno tumulto resonet. In summo monte sedet rex Aeolus manu sceptrum gerens, qui pectora ventorum irata mulcet. Nisi regnet, venti rapaces procerto mare, terram caelum vastum misceant trahantque per aera. Quod ne fieret verens Juppiter Optimus Maximus ventos in antris obscuris abscondit collocavitque insuper montes altos atque ingentes. Deinde iis regem praeposuit, qui pacto haud dubio, prout res postularet, aut coercens aut indulgens gubernare quiret.

(Sorry, ich habe aus Zeitgründen verzichtet, bei den Texten und der Paraphrase Längenstriche anzugeben.)

Iunctūrae discendae

Wenn ich Originaltexte lese, versuche ich regelmäßig, idiomatische Wendungen und schöne Wortverbindungen herauszuarbeiten, die ich auswendig lernen möchte. Das hilft sowohl beim aktiven Sprachgebrauch als auch unheimlich beim Textverständnis. Phraseologismen zu lernen, darf auf keinen Fall vernachlässigt werden!

  • flammāto corde aliquid sēcum vōlutāre
  • magnō cum murmure fremere
  • animōs mollīre
  • īrās temperāre (cfr. mulcēre (v. 66))
  • habēnās premere (vel addūcere) ↔︎ habēnās dare (vel immittere)

Junos Bitte (vv. 64-75)

Ad quem tum Iuno supplex his vocibus usa est:
‚Aeole, namque tibi divum pater atque hominum rex
et mulcere dedit fluctus et tollere vento,
gens inimica mihi Tyrrhenum navigat aequor,
Ilium in Italiam portans victosque Penates:
incute vim ventis submersasque obrue puppes,
aut age diversos et disiice corpora ponto.
Sunt mihi bis septem praestanti corpore nymphae,
quarum quae forma pulcherrima Deiopea,
conubio iungam stabili propriamque dicabo,
omnes ut tecum meritis pro talibus annos
exigat, et pulchra faciat te prole parentem.‘

Verg., Aen. 1.64-75

🔈 Hier können Sie sich den vorgetragenen Text anhören:

Übersetzung

An diesen wandte Juno dann flehend folgende Worte: „Aeolus, dir gewährte ja der Vater der Götter und der Menschen, die Wogen sowohl zu besänftigen als auch mit dem Wind emporzuheben. Ein mir feindliches Volk besegelt das Tyrrhenische Meer und führt dabei Troja und dessen besiegte Penaten nach Italien. Verleih den Winden Kraft und übergib den Fluten die versenkten Schiffe. Oder treib Winde aus unterschiedlichen Richtungen an und zerstreu die Männer im Meer.

Ich habe vierzehn Nymphen vorzüglichen Körpers, von denen eine gewisse Deiopea die schönste an Gestalt ist. Ich werde sie mit dir in fester Ehe binden und als deine eigene erklären, sodass für derartige Verdienste sie alle Jahre mit dir verbringen und dich zum Vater einer hübschen Nachkommenschaft machen wird.

Aeolus‘ Zustimmung (vv. 76-80)

Aeolus haec contra: ‚Tuus, o regina, quid optes
explorare labor; mihi iussa capessere fas est.
Tu mihi, quodcumque hoc regni, tu sceptra Iovemque
concilias, tu das epulis accumbere divom,
nimborumque facis tempestatumque potentem.‘

Verg., Aen. 1.76-80

🔈 Hier können Sie sich den vorgetragenen Text anhören:

Das Sachfeld ’natura‘

Da wir in der gesamten Passage Vokabeln aus dem Bereich der Erdkunde finden, möchte ich die Gelegenheit nutzen, sie zu wiederholen.

  • Aeolus, ī m. Gott der Winde
  • Aeolia, ae f. Region Kleinasiens
  • mare Tyrrhenum n. ‚Tyrrhenisches Meer‘
  • Īlium/Īlion, ī n. ‚Troja‘
  • Italia, ae f. ‚Italien‘
  • loca, ōrum n. Pl. ‚Gegend‘
  • nimbus, ī m. ‚Wolke‘, ‚Gewölk‘
  • ventus, ī m. ‚Wind‘
  • aura, ae f. ‚Luftzug‘; poet.: ‚Wind‘
  • Auster, trī m. ‚Südwind‘, hier: ‚Wind‘
  • tempestās, ātis f. ‚Sturm‘, ‚Gewitter‘ (auch: ‚Zeitumstände‘; ‚Wetter‘)
  • antrum, ī n. ‚Grotte‘, ‚Höhle‘
  • spelunca, ae f. ‚Grotte‘, ‚Höhle‘
  • mōns, ntis m. ‚Berg‘
  • arx, cis f. hier: ‚Höhepunkt‘, ‚Berggipfel‘
  • terra, ae f. ‚Erde‘, ‚Land‘ (↔︎ ‚Meer‘)
  • caelum, ī n. ‚Himmel‘
  • mare, is n. ‚Meer‘
  • aequor, is n. ‚Meer‘ (poet.)
  • pontus, ī m. ‚Meer‘ (poet.)
  • flūctus, ūs m. ‚Woge‘, ‚Flut‘

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Die Gliederung vom 1. Buch

Jeden Sonntag veröffentliche ich einen neuen Artikel auf meiner Webseite. Bis der nächste herauskommt, könnten Sie auch diese interessieren:




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Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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