Während der Aeneis-Lektüre erstelle ich ein paar Materialien, die Ihnen entweder beim Textverständnis hilfreich sein oder hier und da als Inspiration dienen können, die eigenen aktiven Lateinkenntnisse auszubauen. Der heutige Artikel ist ziemlich „deutschlastig“, aber es sind mittlerweile schon einige Beiträge mit mehr lateinischsprachigen Anteilen auf der Webseite erschienen. Schauen Sie sich auch die anderen Artikel an!

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Was vorher geschah…

Dass die von Aeolus angetriebenen Winde einen verheerenden Sturm gegen die Aeneaden entfacht haben, regt den Gott des Meeres sehr auf. Empört, dass jemand ohne seine Zustimmung in seinem Reich für Unruhe sorgt, schilt Neptun die Winde mit heftigen Worten und schickt sie zu ihrem König zurück.

In der nächsten Textstelle (vv. 1.142-156) beschwichtigt Neptun den Sturm.

Neptūnum mōtōs flūctūs sēdāre

Sīc ait, et dictō citius tumida aequora plācat,
collēctāsque fugat nūbēs sōlemque redūcit.
Cȳmothoē simul et Trītōn adnīxus acūtō
dētrūdunt nāvēs scopulō; levat ipse tridentī;               145
et vāstās aperit sȳrtēs et temperat aequor
atque rotīs summās levibus perlābitur undās.
Ac velutī māgnō in populō – cum saepe coorta est
sēditiō saevitque animīs īgnōbile vulgus
iamque facēs et saxa volant – furor arma ministrat;               150
tum, pietāte gravem ac meritīs sī forte virum quem
cōnspexēre, silent arrēctīsque auribus adstant;
ille regit dictīs animōs et pectora mulcet:
sīc cūnctus pelagī cecidit fragor, aequora postquam
prōspiciēns genitor caelōque invectus apertō               155
flectit equōs currūque volāns dat lōra secundō.

Verg., Aen. 1.142-156.

🔈 Hier können Sie sich den vorgetragenen Text anhören:

Hilfen

vv. 142-143

Neptun beschwichtigt den Sturm, vertreibt die Wolken und holt die Sonne zurück. Man spiele dazu 🎶 Edvard Griegs Morgenstimmung 🎶.

Schon in zwei Versen kann man einige Phrasen finden, die man durchaus lernen kann:

dictō citius’schneller, als man es sagen kann‘
tumida aequora placāre (poet.)‚die aufschwellenden Meere glätten‘
nūbēs colligere‚Wolken zusammentreiben‘
nūbēs fugāre‚Wolken vertreiben‘
sōlem redūcere‚die Sonne zurückholen‘

vv. 144-147

Cymothoe ist eine der Nereiden, Töchter von Neptun; Triton ist dessen Sohn. Sie treiben die Schiffe von den Felsen fort, während Neptun mit dem Dreizack nachhilft, die Syrten (Untiefen) öffnet, das Meer beruhigt und über die Wellen hingleitet.

vv. 148-156

Diese Verse enthalten ein sog. homerisches (oder episches) Gleichnis. Ein homerisches Gleichnis ist ein ausführlicherer Vergleich, der u. a. verwendet werden kann, um Figuren näher zu charakterisieren. Es ist – zusammen etwa mit der Ekphrasis und dem Katalog – eins der retardierenden Mittel der epischen Dichtung.

Vergil nutzt dieses Mittel in der Aeneis an vielen Stellen und schafft es immer wieder wunderschön, der Beschreibung der Charaktere eine besondere Nuance zu verleihen. Ich persönlich mag diese Gleichnisse sehr. Besonders gut gelungen scheint mir der Vergleich Didos mit der Göttin Diana (vv. 1.498-504), die in Buch 4.68ff. nochmals dadurch aufgegriffen wird, dass die Königin nun nicht mehr als Jagdgöttin, sondern als gejagtes Tier charakterisiert wird, und zwar ausgerechnet als cerva, nachdem doch Aeneas an der lybischen Küste angekommen – welch Zufall! – Hirsche getötet hatte (1.184-193).

Aber kehren wir zum Meeresgott zurück!

Neptun wird mit einem tugendhaften Mann verglichen, durch dessen charismatische Präsenz allein sogar wilde Aufrührer stehen bleiben und gewaltige Kämpfe unterbrechen, um ihn erwartungsvoll mit gespitzten Ohren anzuschauen. Eine solche Ausstrahlung hat der Gott Neptun, als er an der Meeresoberfläche angekommen die Winde beschwichtigt.

(Für mehr Ausstrahlung, bei der man nur gelähmt verstummen kann, schauen Sie sich diese schöne Livius-Stelle an.)

Da die zwei Vergleichsinstanzen, die mit den Konnektoren velutī (v. 148) bzw. sīc (v. 154) ausdrücklich markiert werden, aus zwei verschiedenen Bereichen – Menschen vs. Götter – stammen, kann man hier von einem heterogenen Vergleich sprechen. Ein Beispiel für ein homogenes Vergleich wäre dagegen Neptun ist so mächtig wie Iuno.

Es lohnt sich die Argumentationsstruktur dieser Passage näher anzusehen, denn nichts ist dem Zufall überlassen. Die Konnektoren geben uns dabei schon eine gute Vorstellung.

Ac ‚und dazu‘ führt das gesamte Gleichnis ein, denn so weit wurde das Handeln Neptuns erzählt, jedoch noch nicht die Reaktion der Winde. Mit dieser Konjunktion wechseln wir also die Perspektive: Ein neuer Aspekt wird angekündigt.

Velutī bzw. sīc leiten jeweils die erste und die zweite Vergleichsinstanz.

Struktur der ersten Vergleichsinstanz

velutī furor arma ministratcum saepe coorta est sēditiō … volant quem virum gravem cōnspexērunttum silent arrēctīsque auribus adstant
erstes VergleichsobjektEinschubwenn: Bedingungdann: Wirkung
Aufruhr des Volksmöglicherweise Bezug auf Bürgerkriege zu Vergils LebenszeitAnblick eines würdigen Menschentobende Masse beruhigt sich

Übersetzung und Anmerkungen

So, wie wenn in einem großen Volk Raserei Waffen vorsetzt – wie so oft wenn ein Aufruhr entsteht und die niedere Masse im Geiste tobt und bereits Fackeln und Steine fliegen, sie dann aber, wenn sie zufällig irgendeinen pflichtbewussten und verdienstvollen Mann erblicken, verstummen und mit gespitzten Ohren dastehen; jener lenkt die Gemüter mit seinen Worten und besänftigt die Herzen: So hat sich das ganze Getöse im Meer gelegt, da der Vater weit über die Meeresfläche schauend und gen heiteren Himmel losgeritten die Pferde wendet und, während er auf dem ihnen folgenden Wagen fliegt, die Zügeln schwingen lässt.

  • Ich habe die Vorzeitigkeit von coorta est und cōnspexēre nicht berücksichtigt, weil mir das Präsens dem deutschen Sprachgebrauch besser zu entsprechen scheint. Bei den meisten Lehrern/Dozenten muss man solche Formen mir Perfekt übersetzen.
  • Īgnōbilis heißt einfach nur ’nōn nōbilis‘, also ’nōn nōbilī genere nātus‘, ‚von niederer Herkunft‘. Leiten Sie die Übersetzung nicht von den modernen Sprachen ab, denn die entsprechenden Wörter auf Italienisch, Spanisch, Französisch, Englisch u. a. haben eine moralische Bedeutung (’niederträchtig‘) erhalten, die das klassische Latein nicht kennt.
  • Ministrāre heißt wörtlich (am Tisch) ’servieren‘, wird aber oft als Synonym von praebēre, suppeditāre verwendet; ich habe mit vorsetzen versucht, die ursprüngliche Bedeutung mit zu berücksichtigen. Eher safe wäre bereitstellen o. ä.
  • Pietāte gravem ac meritīs sī forte virum quem cōnspexēre = sī forte quem (: aliquem) virum pietāte ac meritīs gravem cōnspexēre
  • Man beachte die Verbform cōnspexēre. Nicht nur bezeichnet das Perfekt ohnehin vom Aspekt her ein punktuelles Ereignis, sondern die Präfigierung mit con- drückt auch von der Aktionsart her die Instantaneität der Handlung aus. Man vergleiche im Deutschen blicken vs. erblicken, wobei das deutsche Präfix er- wie in diesem Fall oft auch zur Folge hat, dass intransitive Verben transitiv werden. Den Unterschied, den wir bei specere (sehr selten belegt) ’schauen‘ und cōnspicere ‚erblicken‘ vorfinden, sehen wir beispielsweise auch bei rapere – corripere (‚ūnō ictū rapere‘) oder tacēre – conticēscere (‚verstummen‘).
  • Ich möchte auf ein paar Antithesen aufmerksam machen: Auf der einen Seite haben wir das gemeine Volk, das ohne Leitung und Führung zum von übermäßigen Affekten gekennzeichneten Aufruhr neigt, auf der anderen einen einzigen Mann, der durch sein Pflichtbewusstsein und seine Verdienste die nötige Ausstrahlung mitbringt, um eine wütende Masse durch seine Präsenz zu besänftigen und mittels seiner Eloquenz (dictīs) auf den richtigen Weg zu lenken:
    • māgnus populus, īgnōbile vulgus vs. vir pietāte ac meritīs gravis
    • furor, animīs saevit vs. animōs regit, pectora mulcet
    • sēditiō, saevit, furor vs. silent, arrēctis auribus adstant, fragor cecidit
  • Oft spielt Vergil auf seine Lebenszeit an. Und wenn in augusteischer Zeit die Rede von einem friedenstiftenden Mann, der das Volk lenkt und als vir bonus dicendi peritus charakterisiert ist, fangen natürlich alle Glocken an zu läuten.
  • Prō-spicere ‚procul vidēre‘; übertragen auch ‚prōvidēre‘, ‚cōnsulere‘. Hier schwingt Beides mit: sowohl die konkrete Bedeutung als auch, gerade in der Verbindung mit genitor, die übertragene.
  • Präfigierte Bewegungsverben wie in-vehere können mit einer Präpositionalphrase oder einer Nominalphrase im Dativ erweitert werden. Entsprechend habe ich caelō apertō als Dativ übersetzt, gleichzusetzen mit ‚in caelum apertum‘. Möglich wäre es auch, (in) caelō apertō als lokalen Ablativ zu übersetzen.

Jeden Sonntag veröffentliche ich einen neuen Artikel auf meiner Webseite. Bis der nächste herauskommt, könnten Sie auch diese zum Thema Vokabellernen interessieren:

Die Gliederung vom 1. Buch

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Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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