Junos Monolog

Nach dem Proömium geht es im ersten Buch der Aeneis folgendermaßen weiter. Juno ist höchst empört und möchte unbedingt Aeneas von den Küsten Latiums fernhalten. Sie weiß nämlich, dass seine Nachfahren, die Römer, eines Tages die ihr geliebte Stadt Karthago zerstören würden. Das will sie unbedingt vermeiden! Schließlich sei doch auch Athene gelungen, den Ajax zu bestrafen. Was soll nun bitte SIE, Königin der Götter und Jupiters Schwester und Ehefrau, nun davon abhalten können, ihren Willen durchzusetzen?!

Über diese Klagen hält die verärgerte Juno diesen Monolog (vv. 34-49):

Vix e conspectu Siculae telluris in altum

vela dabant laeti et spumas salis aere ruebant,                          35

cum Iuno aeternum servans sub pectore vulnus,

haec secum: ‚Mene incepto desistere victam,

nec posse Italia Teucrorum avertere regem?!

Quippe vetor fatis. Pallasne exurere classem

Argivum atque ipsos potuit summergere ponto,               40

unius ob noxam et furias Aiacis Oilei?

Ipsa Iovis rapidum iaculata e nubibus ignem

disiecitque rates evertitque aequora ventis,

illum expirantem transfixo pectore flammas

turbine corripuit scopuloque infixit acuto.               45

Ast ego, quae divum incedo regina Iovisque

et soror et coniunx, una cum gente tot annos

bella gero! Et quisquam numen Iunonis adorat

praeterea, aut supplex aris imponet honorem?‘

Verg., Aen. 1.34-49.

🔈 Hier können Sie sich den vorgetragenen Text anhören. Ich bin leider keine Schauspielerin, aber ich habe mein Bestes gegeben.

Die eigentliche Erzählung der Aeneis setzt also mitten in den Irrfahren an. Wie der Leser – zusammen mit der verliebten Dido – im Buch 2 und und im Buch 3 von Aeneas selbst erfahren wird, haben die Aeneaden die von den Griechen dank des trojanischen Pferds eroberte Stadt mit den Penaten verlassen, um nach Italien zu segeln, wo Aeneas einem Orakel zufolge eine neue Stadt gründen soll. Sie haben bereits die griechische Küste sowie Sizilien hinter sich gelassen, als plötzlich – cum inversum! – Juno, die die alten Wunden, von denen im Proömium die Rede war, noch im Herzen trägt, indigniert nicht einsehen kann, warum sie die Trojaner nicht von Latium fernhalten soll.

Die Anspielung auf Ajax den Lokrer bezieht sich auf die Vergewaltigung der Priesterin Kassandras. Die Schandtat vollzog er, nachdem er die Jungfrau gebunden und an den Haaren gezogen just in den Tempel der Athene geführt hatte. Die im Junomonolog erwähnte Episode ist eine Prolepse, ein intratextueller Bezug auf eine spätere Textstelle, nämlich vv. 2.402ff.

Natürlich springt der Denkfehler Junos schnell ins Auge… Das ist bestimmt schon Hybris, wenn ich das sage, aber trotzdem: Juno vergleicht gerade den größten Frevel eines Ruchlosen, nämlich die Vergewaltigung einer jungfräulichen Priesterin im Heiligtum ihrer Göttin, mit den Taten eines pflichtbewussten Mannes, der sein Schicksal erfüllt und die ganze Zeit als pius charakterisiert ist. Ganz schön schräg!

Phraseologien dieser Passage

Wenn man auf Latein liest, lohnt es sich immer wieder, den Text noch einmal auf der Suche nach mehr oder minder festen Wendungen und Wortverbindungen durchzugehen. Gerade für das Lateinische ist das Auswendiglernen von Phraseologien aus verschiedenen Gründen absolut unentbehrlich, und zwar sowohl für das aktive Sprechen und Schreiben als auch insbesondere für ein gründliches Verständnis der Texte.

Wenn man z. B. in vv. 34f. vela dabant in altum liest, muss einem die eigentliche Wendung vela ventis dare einfallen, um erkennen zu können, wie der Dichter mit den Ausdrücken spielt. Oder: Kennt man die Wendung secum cogitare oder secum considerare, stellt das elliptische haec secum in v. 37 gar kein Problem mehr dar.

ē cōnspectūaus dem Gesichtsfeld weg [auf Deutsch muss man’s je auf den Kontext angepasst anders formulieren]
vēla ventīs dare(ab)segeln
vulnus sub pectore servāreeine Wunde im Herzen tragen
sēcum cōgitāre/cōnsīderāre(bei) sich denken/überlegen
(ab) inceptō dēsisterevon einem Vorhaben absehen
ab [Italiā] āverterevon [Italien] fernhalten
ē [nūbibus] iaculārīvon [den Wolken] aus (herunter)werfen
aequora (poet.) / mare verteredas Meer aufwühlen
(animam) exspīrāreausatmen; auch: seinen Geist aushauchen

Lesen Sie mit mir die Aeneis! Hier finden Sie dazu weitere hilfreiche Artikel:

Die Gliederung vom 1. Buch

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Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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