Auswendiglernen gilt oft als verpönt. Ich finde es alles andere als doof. Hier ist meine Meinung zum Auswendiglernen in 5 Maximen.
1) Auswendiglernen ist das Ziel.
Education is not the filling of a pail, but the lighting of a fire.
Quelle: unbekannt
Dieses Zitat wird oft als inspiring quote verkauft und dem irischen Dichter Yeats in den Mund gelegt.
Wer das gesagt hat, ist mir schnuppe: Ich finde das richtig blöd!
Ja, wir wollen begeistern! Ja, wir wollen, dass den Lernenden ein Feuer in der Brust entflammt und sie sich in ein Gebiet voller Inbrunst und intrinsischer Motivation hineinstürzen und Großartiges hervorbringen.
Nett gemeint. Aber wofür er sich begeistern, wenn er bloß einen leeren Eimer hat?
Wir geben gut klingende Zitate selbstgefällig von uns in der Hoffnung, die Bildungskrise mit dem nächsten schlauen 5 Hacks zu überwinden. Solange alles in iPad-kompatiblen Formaten gespeichert ist, wird das schon klappen. Das ist schließlich die Zukunft.
So ein Quatsch!
Wir brauchen vor allem eins: VOLLE EIMER! Wir brauchen Inhalte. Nur Inhalte können begeistern.
Nur Inhalte können begeistern!
Nur das, was wir so gelernt haben, dass es ein Teil von uns geworden ist, kann unser Leben wirklich prägen. Wir können nur neue Ideen schöpfen, wenn wir Kenntnisse haben. Wir können nur neue, kreative Wege finden, wenn wir Altes kennen.
2) Es reicht nicht, Zusammenhänge zu verstehen.
Wir besitzen die Fähigkeit, uns unzählige Dinge zu merken. Ist das nicht wunderbar? Wir können uns wahnsinnig viel merken, unter einer Bedingung:
Psychologists have shown that human memory is both flexible and extendable, provided that the information is structured. Random facts and figures are extremely difficult to remember, but enormous quantities of data can be remembered and utilized, as long as they are well organized.
Aitchison (20124): Words in the Mind. Wiley-Blackwell, S. 5.
Aus diesem Grund ist es unentbehrlich, beim Lernen Zusammenhänge zu verstehen. Wir können nur langfristig lernen, wenn wir etwa kausale Verhältnisse und logische Schlüsse berücksichtigen.
Wir können uns A, B und C einerseits besser merken, wenn sie in einem logischen Verhältnis zueinander stehen, das wir verstanden haben. Wunderbar.
Andererseits können wir aus der Kenntnis von A, B und C als vernünftig denkende Wesen die logischen Zusammenhänge selber wiederherstellen oder gar neue finden.
Haben wir jedoch die Zusammenhänge verstanden, ohne A, B und C als deklaratives Wissen zu memorieren, bleibt uns eine inhaltslose Verbindung zwischen nichts, nichts und wieder nichts. Wir stehen mit unserem leeren Eimer blöd da!
Das Wesentliche ist nicht, die Zusammenhänge zu verstehen. Das Wesentliche ist, so viele Inhalte zu eigen gemacht zu haben, dass man Zusammenhänge erstellen kann.
3) Auswendiglernen ist schwer.
„Warum soll ich das auswendig lernen? Ist doch blöd.“
„Was soll das? Ich kann das doch jederzeit googlen.“
Manchmal habe ich den Eindruck, dass Menschen glauben, sie seien zu gut zum Auswendiglernen. Das ist irgendwie unter ihrem Niveau.
Die unangenehme Wahrheit ist, dass Memorieren schwer ist und wie jede andere Kompetenz geübt werden muss. Wie ich öfter mal erwähne, habe ich u.a. Übersetzung und Dolmetschen studiert. Gerade für die Dolmetschenskurse war es unentbehrlich, das Gedächtnis zu üben.
Ja, es war anstrengend, jeden Tag minutenweise Nachrichten zu hören und dann zu versuchen, alle Einzelheiten in derselben oder in einer anderen Sprache wiederzugeben.
Ja, es war anstrengend, kauderwelsche Aussagen zu hören und eins-zu-eins zu wiederholen.
Ja, es war anstrengend, mündliche Prüfungen zu haben, für die man ganze Bücher und unzählige Blätter mit eigenen Notizen auswendig lernen musste.
Doch die Fortschritte für Kurz- und Langzeitgedächtnis waren beim regelmäßigen Üben so massiv und die Vorteile so groß, dass ich einen großen Respekt vor dem officium der memoria entwickelt habe.
Die Antike, gerade zu republikanischen Zeiten der Republik, zu denen die Redekunst eine Hochblüte zu erleben pflegt, wusste das Memorieren selbstverständlich zu schätzen. Schon Cicero wusste natürlich, dass Menschen die Fähigkeit haben, sich unendlich viel zu merken:
Habet [homo] primum memoriam, et eam infinitam rerum innumerabilium.
Cic. Tusc. 1.56f.
Doch so eine Fähigkeit bedarf der regelmäßigen Übung, selbst für diejenigen, denen es relativ leicht fällt. Gerade diese können nämlich durchs Üben exzellent werden.
Cum in omni disciplina infirma est artis praeceptio sine simma adsiduitate exercitationis, tum vero in nemonicis minimum valet doctrina, nisi industria, studio, labore, diligentia comprobatur.
Rhetorica ad Herennium 3,40.
4) Auswendiglernen ist in allen Disziplinen notwendig.
Wenn ich über das Auswendiglernen nachdenke – was ich zugegebenermaßen öfter mache, als gesund wäre –, fällt mir immer die Geschichte des empörendsten Vorlesung meines Lebens ein. Die gute Frau, Privatdozentin für Bildungswissenschaften, die selbst Mathe und Physik auf Lehramt studiert hatte, gab in ihrer Vorlesung für angehende Lehrer immer wieder folgende Argumentation zum Besten:
- Geisteswissenschaften sind hermeneutische Wissenschaften.
- ἑρμενέυω (hermenéuo) heißt ‚auslegen‘.
- Also sind die Inhalte der Geisteswissenschaften Auslegungssache und der Lehrer muss jedwede Meinung des Schülers akzeptieren.
Ich habe in dieser Vorlesung ein Semester lang nur gekocht und mich kaum beherrschen können!
Hat der Schüler eine Meinung zu der Genitiv-Plural-Endung der a-Deklination? Danke, kann er für sich behalten.
Hat der Schüler eine Meinung zu einem der vielen Fachtermini, die er beherrschen soll? Danke, kann er für sich behalten.
Hat der Schüler eine Meinung zu soziopolitischen Gegenbenheiten, die man kennen muss, um das Werk eines Autors zu verstehen? Danke, selbst das kann er für sich behalten, solange er nicht ausreichend gelernt hat.
Es gibt Dinge, die man wissen muss, um in einem bestimmten Bereich agieren zu können. Wir können das anhand von Sprachen einfach deutlich machen; das schließt aber jeden Wissensbereich ein. Darunter sind manche Dinge erklärbar und durch Vernetzung von Zusammenhängen wie Ursache und Konsequenz leichter zu merken. Andere dagegen sind naturgemäß willkürlich und müssen „stumpf“ auswendig gelernt werden.
Bei Sprachen ist zum Beispiel bei allen Angelegenheiten, in denen Rektion eine Rolle spielt, auswendig zu lernen. Das Genus von Substantiven ist mit Ausnahme von Suffigierungen nicht erklärbar und arbiträr. Muss man stumpf lernen. Die Rektion von Verben und Präposition: stumpf auswendig lernen! Da helfen keine Meinung und keine Auslegung.
Selbst in den Bereichen, bei denen es tatsächlich auf eine Auslegung ankommt, heißt es ja lange nicht, dass jedem alles frei gestellt sei. Ganz im Gegenteil. Man muss in den Geisteswissenschaften zwischen Meinung und Auslegung unterscheiden!
Nehmen wir die Auslegung par excellence: die literarische Interpretation. Warum ist „Ich mag den Faust nicht.“ eine valide Meinung, aber keine Interpretation? Es ist (1) nicht kriterienorientiert, (2) nicht belegt und daher (3) nicht intersubjektiv nachvollziehbar.
Wenn sich Akademiker verlieben…
– Schatz, gehen wir aus?
– Wovon?
Man muss auch bei Auslegungen des ästhetischen Werts insofern wissenschaftlichen Prinzipien genügen, dass wir (uns) klarmachen, (1) auf welches Kriterium hin ein Werk analysiert wird. Wir folgen also oft einer Leitfrage und wenden explizit einen oder mehrere Ansätze an. Wir können etwa auf textimmanente Merkmale achten oder die Autobiographie des Autors mit einbeziehen oder historische Elemente berücksichtigen oder intertextuelle Bezüge analysieren oder oder oder. Offensichtlich eröffnen wir desto mehr Möglichkeiten über ein Werk zu urteilen, je mehr Kenntnisse der Interpretierende „auswendig“ kann, aus denen er schöpfen kann. Werden diese Elemente in eine logisch aufgebaute Interpretation eingearbeitet und mit Belegen plausibel gemacht (2), erreichen wir eine intersubjektiv nachvollziehbare Interpretation (3).
Es stimmt also schon, dass Lehrer der Geisteswissenschaften nicht bloß nackte Fakten beurteilen können – was mir ohnehin auch für die anderen Fächer zu gelten scheint –; die solide Kenntnis harter Fakten ist jedoch Ausgangspunkt und wesentliches Fundament jedwedes Handelns im Fach.
Lesen Sie auch: Kriterien guten Unterrichts.
Zum Thema Literaturdidaktik und ästhetisches Urteil in der Schule finde ich die Forschung von Prof. Dr. Ladenthin sehr fundiert und lesenswert:
- Ladenthin, Volker (1989): Erziehung durch Literatur? Zur moralischen Dimension des Literaturunterrichts. Essen: Die Blaue Eule.
- Ladenthin, Volker (2008): Die Didaktik des Ästhetischen. In: Mertens, Gerhard / Frost, Ursula / Böhm, Winfried / Ladenthin, Volker / (Hgg.): Handbuch der Erziehungswissenschaft. Band I Grundlagen. Allgemeine Erziehungswissenschaft. Paderborn: Ferdinand Schöningh, S. 719-733.
- Ladenthin, Volker (2011): Kann man ästhetische Urteilskraft lehren? Grundsätzliche Überlegungen am Beispiel der Literatur. In: Neuhaus, Stefan / Ruf, Oliver (Hgg.): Perspektiven der Literaturvermittlung. Innsbruck: Studienverlag, S. 27-37.
Denn …
5) Man muss Nützliches und Unnützes auswendiglernen.
Unnützes lernen? Da denkt man direkt an die Geisteswissenschaften, oder?
Literatur, Philosophie, Latein… schöner Zeitvertreib, aber eigentlich bringt das alles nichts. Soll heißen: Damit kann man kein Geld verdienen. Das sind keine Berufe.
Doch sind die Neugierde und die Suche nach der Wahrheit, der Genuss von Schönheit und die Fähigkeit zu moralischen Bedenken nicht das, was uns zu Menschen macht?
Selbstverständlich ist es wert, das zu lernen und verfeinern, was uns von Tieren unterscheidet und uns zu einem erfüllten Leben verhilft.
Sic ego constanter studium non utile servo.
Ov. Pont. 1.5,41.
Außerdem kommunizieren nur Wesen, die eine Gemeinschaft bilden. Und wir haben in der menschlichen Sprache die beste Kommunikationsinstanz der Welt, die uns nicht nur miteinander zu einer Gesellschaft zusammenschweißen kann, sondern auch eine kognitive Differenzierung durch sprachliche Spezifizierung ermöglich. In der glücklichen Verbindung von ratio et oratio können wir selber besser verstehen, mit anderen besser in Berührung kommen und sogar mit Menschen, die zeitlich und räumlich weit weg von uns sind, ein Zugehörigkeitsgefühl entwicklen.
Selbstverständlich ist es wert, diese Fähigkeiten durchs Lernen und Üben zu verfeinern.
Scheinbar unnützes Wissen über vergangene Dinge – sei es Geschichte, Kunst, Literatur o.ä. – ist das, was uns als Kulturgemeinschaft zusammenhält und verankert. Sowohl das radikalisierte Verfolgen von Traditionen als auch die blinde Suche nach dem nächsten neuen Ding sind Folgen von Ignoranz.
Selbstverständlich ist es wert, uns mit Wissen historisch-kulturell zu verankern, um verantwortungsbewusste Entscheidungen fürs Hier und Jetzt treffen zu können.
Die harte Unterscheidung in Nützliches und Unnützes anhand von kurzfristigen ökonomischen Kriterien trifft aber auch die Naturwissenschaften. (Überhaupt die harte Distinktion zwischen Natur- und Geisteswissenschaftlern wäre m.E. zu überdenken. Sed adhuc hactenus.) Ein theoretischer Mathematiker hat es jedenfalls schwerer, seinen Interessen nachzugehen, als ein angewandter.
Wir wollen wissen, was wir brauchen werden. Wir sind auf effizientes Lernen ausgelegt. Doch was man als Einzelner oder als Gesellschaft braucht, kann man nur im Voraus festlegen, wenn man den Ausgang schon im Voraus festlegt.
Um einen jungen Menschen nur durch nützliche Kompetenzen zu füttern, Kompetenzen also, die er eins-zu-eins in einer beruflichen Tätigkeit gebrauchen wird, muss man diese Endaktivität im Voraus festlegen. Wenn wir uns aufs Nützliche beschränken, büßen wir als Individuen an Freiheit ein.
Als Gesellschaft wiederum müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass ganz viele äußerst nützliche Erfindungen – wie etwa der Strom – aus teilweise Jahrhunderten rein theoretischen, völlig unnützen Studien hervorgegangen sind! Wenn wir uns aufs Nützliche beschränken, büßen wir als Gesellschaft an Fortschritt ein.
So gesehen stehen wir vor den Toren eines neuen Mittelalters. Oder sind wir schon mittendrin? Ich möchte manchmal nur den Kopf in einen leeren Eimer stecken.
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