Die erste Theateraufführung, die ich je gesehen habe, handelte von der Polyphemus-Episode aus der Odyssee. Ströme von Kindern wurden aus benachbarten Dörfern mit Schulbussen vor das Kleinstadttheater befördert und kamen in zappligen Schüben wellenartig in das immer und immer voller werdende Gebäude. Im hohen weißstuckierten Foyer, das die schrillenden Stimmen aufgeregter Grundschulkinder widerhallte, hörte ich wie in einer Blase mein Herz beunruhigend schnell klopfen. Tage, wahrscheinlich Wochen lang hatte uns meine absolute Lieblingslehrerin Lia auf diese Aufführung vorbereitet. Deswegen tanzten die abenteuerlichsten Episoden des erfindungsreichen Odysseus, die ich im spannenden Unterricht wie besessen aufgesogen hatte, lebendig vor meinem inneren Auge. Mit unfassbarer Verwunderung schaute ich mich, ohne etwas zu sehen, um, denn der magische Augenblick war gekommen, in dem die im Geist imaginierten Bilder inszenierte Realität auf der Bühne werden würden. Ich war unter vielen, ja unzähligen lauten Menschen und doch ganz alleine und voller Erwartung einer ganz und gar intimen Erfahrung. Noch mehr Kinder. Noch mehr Stimmen. Noch mehr Spannung und Aufregung strahlte die stets wachsende Zahl kleiner Theaterbesucher aus. In meiner Blase wird mein Herz unerträglich schnell, ich fange an, ungleichmäßiger zu atmen, und für einen schrecklichen Moment sind meine beliebten Homerbilder weg. Ich sehe nur noch Kinder, bedrohlich viele Menschen. Es hätte eine Panikattacke werden können, doch in dem Augenblick, in dem meine Phantasie von der unangenehm großen Menschenmasse ausgeschaltet wurde, erblicke ich aus dem lärmerfüllten Foyer das prachtvolle Mysterium aus dekorierten Gängen und Treppen und geheimnisvollen Toren und Türchen, das Theater faszinierend macht. Mein Herz macht einen Sprung und ich bin wieder in meiner Welt mit Odysseus, Lotophagen und Sirenen. Bis meine beste Freundin Bianca mich zischend wach rüttelt: „Beeilung!“ Meine Freundin ist zwar empathisch und lieb, aber auch schlau und kalkuliert. Sie ist weiß, was sie will, und bleibt sich immer unapologetisch treu. Ich muss ungläubig feststellen, dass sie sich und irgendwie auch meine träumende Wenigkeit auf den Platz in der Eingangshalle gestellt hat, von wo aus die Logen am schnellsten erreichbar und unsere Begleitungslehrerinnen noch im Sichtfeld sind. Genau jetzt fangen diese nämlich an, uns Schüler zuzuwinken, was noch keiner außer Bianca gemerkt hat: Wir sprinten los und sind im Nu in der allerbesten Loge, mittig vor der Bühne. Dankbar merke ich, wie sich die bisherige Anspannung in der neugewonnenen Ruhe der 6-Personen-Loge in richtige Vorfreude verwandelt, die vom heuchlerischen Mitleid von Mitschülerin Clara nur versüßt wird. Diese übernimmt nämlich die Aufgabe, die nachkommenden Mitschüler von unserer großartigen, aber leider Gottes schon komplett besetzten Loge zu verweisen: „Tja, die Loge sieht riesengroß aus, aber hier sind leider nur 6 Plätze. Ja, krass, oder? Mmh, echt blöd.“ Ich bin kein bisschen besser und würde Claras Schadenfreude teilen, wenn ich nicht anderes im Kopf hätte. Mein Blick ist aber gebannt auf den roten Vorhang gerichtet. Die Lichter gehen aus und ein nie zuvor erlebter Zauber füllt Bühne, Parkett, Ränge. Einfach großartig.

Nach der Aufführung bin ich völlig erschöpft, ich muss mir alles noch mal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen und bin zudem von der Blendungsszene tief bestürzt (sie wird mir lang Albträume bereiten). Eins weiß ich aber trotzdem sofort ganz genau. Ich will Teil dieses Zaubers werden: Ich muss ein Theaterstück schreiben!


Ich werde viel später erfahren, dass die Tatsache, dass ich für mein Theaterstück auf drei Schauspieler – Bianca, meinen Cousin und mich – zurückgreifen konnte und Rollen geschlechtsunabhängig vergeben wurden, mein Drama mit seinen Vorfahren eng verband. Es handelte sich um die (in meinen Augen extrem) lustige Komödie eines verrückten Wissenschaftlers, der ständig in seinen eigenen Gedanken verloren kleinere und größere Unfälle bis hin zur Explosion seines Labors verursachte. Darunter war der urkomischste der Klassiker: dass er einmal auf einer Bananenschale rutschen soll. Zum Sich-Wegschmeißen!

Premiere: meine 10. Geburtstagsfeier.

Zwei Stuhlreihen wurden für das Publikum auf unseren kleinen Hof gestellt, auf dem die fesselnde Magie des Schauspiels und die reizende Komik meines absolut genialen Stücks meine Mitschüler und Familie gleichermaßen – und zwar zutiefst – beeindrucken soll. Mit vollkommener Zuversicht auf den bevorstehenden Erfolg sammeln wir Schauspieler uns abseits der überzuckerten Kinderschar, um die wesentlichen Punkte der Aufführung ein letztes Mal durchzugehen. Es kann losgehen. Das Publikum nimmt Platz auf die Stühle und ich (der verrückte Wissenschaftler) gehe in das Häuschen, wo die erste Szene anfängt. Ich nehme tief Luft und spreche voller Freude die ersten drei Sätze wie geplant im Häuschen. Dann soll ich hinaustreten, auf der Bananenschale rutschen und von draußen weitermachen. Sobald jedoch der verpeilte Wissenschaftler hinaustritt, das Desaster.

Enea, der kleine Klassenblödmann, hat seit gut 1,5 Minuten nicht die ganze Aufmerksamkeit auf sich und kann die Unannehmlichkeit unmöglich länger aushalten. Und macht daher das, was blöde, aufmerksamkeitssüchtige Blödmännchen tun: Blödsinn. Er schafft es damit, das ganze Stück komplett zu unterbrechen, bevor die restlichen zwei Schauspieler überhaupt die Bühne betreten.

Zauber ruiniert.

Stück ruiniert.

Geburtstag ruiniert.

Den restlichen Nachmittag wollte ich nur heulend in meinem Schlafzimmer verbringen, doch meine Mutter kam hoch, um mich darauf hinzuweisen, dass es sich nicht gehört wegzugehen, wenn Gäste im Haus sind. Also wusch ich mir widerwillig das Gesicht, setzte ein falsches Lächeln auf und benahm mich artig, bis die Gäste endlich zum Teufel gingen. Und darüber hinaus, wie es sich gehört.

Da mir die beim Schreiben und Planen investierte Zeit eine peinliche Verschwendung zu sein schien und Verletzung und Enttäuschung wie Feuer brannten, blieb mir der einzige Trost eines Geburtstags in den unendlich langen italienischen Sommerferien. Drei Monate lang musste ich niemanden mehr sehen, vor allem nicht den blöden Enea, der im folgenden Jahr erfreulicherweise nicht einmal in meiner Klasse sein würde. Ich nutzte den Sommer, so gut ich konnte, um zu schlucken und vergessen.

Bedauerlicherweise gelang mir das nicht. Im Gegenteil war ich zwei Jahrzehnte später noch untröstlich böse auf Enea für diesen Vorfall, bis zu dem Tag, an dem sich mein ganzes Leben änderte.


Durch meine Tochter habe ich unheimlich viel gelernt. Wenn man Kinder hat, sieht man plötzlich alles aus neuen Perspektiven, auch die eigene Kindheit. Heute bin ich nicht mehr böse auf Enea, der genau so wie ich Aufmerksamkeiten brauchte und über respektvolle Grenzen hätte informiert werden sollen. Heute habe ich dank meiner Tochter verstanden, warum ich Jahrzehnte lang wütend und verletzt war: nicht wegen des Stücks (dem weitere hätten folgen können), nicht wegen Enea (der ein erbärmliches Würstchen war), sondern weil mich meine Eltern im Stich gelassen haben. Daher warne ich schon alle Eneas der Welt, die meiner bezaubernden Tochter jemals die Show zu stehlen versuchen werden: Es werden kleine, blöde Köpfe rollen!

Jeden Sonntag, auch an meinem Geburtstag, erscheint ein neuer Artikel auf der Webseite. Bis der nächste herauskommt, könnten Sie auch diese interessieren:




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Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

2 Kommentare

Elena · 2. Juli 2023 um 20:55

Oggi ho imparato qualcosa di nuovo su di te… mi ha fatto molto piacere e ti ho sentita vicina in questa ferita della tua infanzia. Veniamo curati dai nostri figli grazie alle nostre esperienze con loro, ci portano a migliorarci, lavorare su di noi ed evolvere. E anche ad affilare i nostri coltelli, per far rotolare le teste di tutti i piccoli prepotenti che oseranno rubare il loro prezioso momento. Buon Compleanno Silvia!

    Silvia Ulivi · 3. Juli 2023 um 22:01

    Grazie, cara Elena! È proprio vero che se affrontiamo l’essere genitore con un minimo di umiltà i figli ci insegnano veramente molto. Un abbraccio!

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