Das sind meine Notizen zu den Tusculanae disputationes. Nachdem im dritten Buch die Frage geklärt wurde, wie der Weise Kummer vermeidet, werden im vierten Buch die übrigen Leidenschaften behandelt, von denen man sich befreien soll.
- 45 v. Chr. in Tusculum verfasst
- Brutus gewidmet
- aristotelischer Dialog zwischen magister und discipulus
- 5 Bücher, je eine schola
- Buch 1: Ist Tot ein Übel?
- Buch 2: Wie erträgt man Schmerz?
- Buch 3: Kann Kummer einen Weisen befallen?
- Buch 4: Wie befreit sich der Weise von den übrigen Leidenschaften?
Prooemium (1-7)
- Lob Pythagoras‘
- Philosophie in Italien
- Gesandtschaft Karneades‘ 155 v. Chr.
Die Römer mussten es doch nur wollen 😉:
Quam brevi tempore quot et quanti poetae, qui autem oratores extiterunt! Facile ut appareat nostros omnia consequi potuisse, simul ut velle coepissent.
Cic. Tusc. 4.5.
These des Tages
Non mihi videtur omni animi perturbatione posse sapiens vacare.
Cic. Tusc. 4.8.
Kann sich der Weise von allen die Vernunft trübenden Affekten befreien? Von Cicero ein klares Ja. Nachdem nämlich im 3. Buch bewiesen wurde, dass sich der Weise von aegritudo befreien könne, stehe ihm nichts mehr im Wege, um metus, laetitia gestiens und libido ebenfalls loszuwerden. (8)
Zenon zufolge ist perturbatio (πάθος) nämlich ‚aversa a recta ratione contra naturam animi commotio‚ (11), folgendermaßen eingeteilt:
- ex opinato bono futuro: libido
- ex opinato bono praesenti: laetitia
- ex opinato malo futuro: metus
- ex opinato malo praesenti: aegritudo
Wenn’s vernünftig läuft…
Jede perturbatio hat auch ein vernünftiges Gegenstück:
- libido ↔︎ voluntas
- laetitia ↔︎ gaudium
- metus ↔︎ cautio
- aegritudo ↔︎ adfectio nulla
Libido ist inlecta et inflammata: Man fühlt sich zu etwas, was man gut findet, unkontrolliert und übertrieben angezogen. Wir streben zwar von Natur aus zu dem, was uns als Gut erscheint; damit dies aber beständig und klug (constanter prudenterque) geschieht, braucht der Mensch den Stoikern zufolge βούλησις (voluntas), nämlich die Fähigkeit, vernünftig zu begehren (cum ratione desiderare!). (12)
Laetitia gestiens vel nimia ist übertrieben und unvernünftig – wenn man also ganz aus dem Häuschen ist –, während gaudium ein positives Gefühl ist, bei dem cum ratione animus movetur placide atque constanter. (13) Man muss hier also ein bisschen aufpassen, weil laetitia in diesem Kontext von Cicero negativ als übertriebene, zügellose Freude oder Euphorie aufgefasst wird, der vernünftigem gaudium gegenübergestellt wird. Aufgrund der immer wieder hinzugefügten Adjektive gestiens oder nimia sowie des Disclaimers in (67) – quoniam docendi causa a gaudio laetitiam distinguimus – wird klar, dass diese Unterscheidung künstlich ist und nicht dem normalen Sprachgebrauch entspricht.
Genau so, wie wir von Natur aus zu dem neigen, was uns gut erscheint, weichen wir das, was uns ein Übel zu sein scheint, aus. Erfolgt diese Behutsamkeit vernünftig, ist sie cautio. Ist sie jedoch ohne Vernunft und mit kleinmütiger und matter Mutlosigkeit verbunden (sine ratione et cum exanimatione humili atque fracta), dann ist sie metus. (13)
Dem Fehlen von mit der Gegenwart verbundenem Gram, dem Fernbleiben von aegritudo, dem das 3. Buch gewidmet ist, wird ein vollkommen ruhiges Gemüt, also die Affektlosigkeit (nulla adfectio) gegenübergestellt. (14)
Da man für die vernünftigen Erscheinungen offensichtlich Vernunft braucht, sind sie dem Nicht-Weisen vorenthalten. Außerdem haben wir es in der Hand, ob wir uns diesen Affekten hingeben oder nicht, da sie iudicio et opinione entstehen. (14)
Das sind die Folgen für die stulti: (15)
- libido ⤳ effrenata appetentia
- laetitia ⤳ profusa hilaritas
- metus ⤳ recessus quidam animi et fuga
- aegritudo ⤳ morsus aliqui doloris
Partes perturbationum
Partes aegritudinis
- invidentia: Gram über das Glück anderer, obwohl man selbst keinen Schaden davon trägt
- aemulatio: Begehren von etwas, das andere haben und man selbst nicht
(Aemulatio kann auch positiv als aemulatio virtutum aufgefasst werden!) - obtrectatio: Gram um jemanden, der auch etwas erreicht hat, was man selbst wollte
- misericordia: Mitleid aufgrund eines von jemandem zu Unrecht erlebten Unglücks
- angor: drückender Kummer
- luctus: Trauer um den bitteren Tod eines Lieben
- maeror: mit Tränen
- aerumna: mit Grübelei
- dolor: quälender Kummer
- lamentatio: heulend
- sollicitudo: mit Nachdenken
- molestia: andauernd
- adflictatio: mit körperlicher Peinigung
- desperatio: hoffnungslose Verzweiflung
(16-18)
Partes metus
- pigritia: Trägheit aufgrund anstehender Arbeit
- terror: erschütternde Frucht – die physischen Folgen sind pallor et tremor im Gegensatz zum Erröten aus Scham (pudor)
- timor: wegen eines sich nähernden Übels
- pavor: Angst, die den Geist durcheinanderbringt
- exanimatio: Entsetzen, das sich dem pavor gesellt
- conturbatio: Verwirrung, bei der man nicht mehr gerade denken kann
- formido: andauernde Furcht
(19)
Partes voluptatis
- malevolentia: Schadenfreude
- delectatio: Lust durch die Sinne
- iactatio: hemmungslose, überhebende Lust
(20)
Partes libidinis
- ira: Begierde zu strafen
- excandescentia: Aufbrausen
- odium: fest verwurzelter Zorn
- inimicitia: Rachedurst, bei dem man auf den richtigen Augenblick wartet
- discordia: Zweitracht
- indigentia: unersättliche Gier
- desiderium: Sehnsucht nach jemandem, der noch nicht da ist
(21)
Die Quelle aller perturbationes ist die intemperantia (↔︎ frugalitas s. 3.17). (22)
Krankheiten – körperlich und seelisch
In den Abschnitten 4.23 bis 4.33 wird Ciceros Argumentation seeehr wackelig, schwer nachzuvollziehen und teilweise einfach nicht logisch. Hier werden seelische Schwächen körperlichen Krankheiten verglichen. Zum einen ist mir nicht klar, warum die folgenden Schwächen (wie Habgier und Konsorten) nun als Krankheit angesehen werden und nicht einfach als Teile der jeweiligen perturbationes in 4.16-21 behandelt wurden. Zum anderen wird zwischen Krankheitstypen unterschieden, ohne dass – abgesehen von wirren Ansätzen in 28f. – eine ordentliche Definition der drei Arten gegeben wäre: morbus, aegrotatio, offensio.
Aus libido und laetitia entstehen u.a.: avaritia, gloriae cupiditas/ambitio, mulierositas, odium mulierum, inhospitalitas (misanthropia), falsche Einschätzung (res non expetenda, tamquam valde expetenda sit, andersrum res non fugienda tamquam fugienda; auch: falsche Einschätzung des eigenen Wissens), pervicacia, ligurritio, vinulentia… (24-27)
Gut erklärt scheint mir das Konzept der proclivitas, d.h. der Neigung zu einem bestimmten Fehlverhalten. Hinsichtlich dieser Neigung unterscheiden sich beispielsweise ira und iracundia: Wer Zorn empfindet, ist iratus; wer zum Zorn neigt, ist iracundus. Eine Neigung zu positiven Eigenschaften nennt man facilitas. (27-28)
Ich erspare mir die m.E. nicht nachvollziehbaren Unterscheidungen zwischen morbus, aegrotatio, vitium, vitiositas… aus irgendeinem Grund fehlt hier die offensio. Brauchbar ist aber die Unterscheidung zwischen vitium und perturbatio:
Vitia enim adfectiones sunt manentes, perturbationes autem moventes.
Cic. Tusc. 4.30.
Es bestehen Parallele zwischen Körper und Geist, und zwar hinsichtlich sowohl guter Eigenschaften (pulchritudo, firmitas, valetudo … – constantia, virtus, temperantia …) als auch schlechter Eigenschaften, aber für die Probleme des Geistes tragen wir immer Verantwortung (s.o.), für die des Körpers nicht immer. (30-31)
Virtus
virtus (recta ratio) ↔︎ vitiositas
Wieder ein Beleg ciceronianischer Empathie 🙈:
Quid autem est non miserius solum, sed foedius et deformius quam aegritudine quis adflictus debilitatus iacens?
Cic. Tusc. 4.35.
Der Weise steht darüber, Dummerchen haben den Salat, denn die perturbationes „non multum differunt ab amentia“ (36):
Omnibus enim, quorum mens abhorret a ratione, semper aliqui talis terror impendet.
Cic. Tusc. 4.35.
Die Lösung lautet: weise sein und das richtige Maß in allem suchen. Frugalitas!
Hominem frugi omnia recte facere.
Cic. Tusc. 4.36.
Kritik der Peripatetiker
Quid, quod idem Peripatetici perturbationes istas, quas nos extirpandas putamus, non modo naturalis esse dicunt, sed etiam utiliter a natura datas?
Cic. Tusc. 4.43
Richtiges Maß hin oder her: Vitium bleibt vitium!
Womit sich Cicero gar nicht anfreunden kann, ist die Ansicht der Peripatetiker, dass Affekte erstens naturgegeben seien und daher nicht vermieden werden könnten sowie zweitens sogar einen Nutzen für den Menschen hätten, wenn er das richtige Maß finde und sie im richtigen Moment einsetze.
Argumentationen wie ira sei nützlich im Krieg fürs Vaterland oder in der actio einer gerichtlichen Rede, um das Publikum für seine Argumentation zu gewinnen, überzeugen ihn nicht: Betrübnis des Geistes ist immer zu vermeiden.
(38-46)
Siehe etwa auch Cic. Tusc. 3.22 und off. 1.89.
In (47-57) widerlegt Cicero – meines Erachtens überhaupt nicht überzeugend – die Ansicht der Peripatetiker, dass Affekte naturgegeben und nützlich seien, indem er Definitionen und Argumentationen der Stoiker wiedergibt.
Zenons Definition von perturbatio:
aversa a ratione contra naturam animi commotio
Cic. Tusc. 4.47.
Schon hier bin ich sehr skeptisch, denn er hatte im Proömium zum vierten Buch bereits die Zweiteilung des animus bei Pythagoras und Plato angebracht, die dem „contra naturam animi“ widerspricht:
Quoniam, quae Graeci πάθη vocant, nobis perturbationes appellari magis placet quam morbos, in his explicandis veterem illam equidem Pythagorae primum, dein Platonis discriptionem sequar, qui animum in duas partes dividunt: alteram rationis participem faciunt, alteram expertem; in participe rationis ponunt tranquillitatem, id est placidam quietamque constantiam, in illa altera motus turbidos cum irae tum cupiditatis, contrarios inimicosque rationi.
Cic. Tusc. 4.10.
Es werden dann Beispiele gezeigt, in denen etwa Kampfbereitschaft mit fortitudo und nicht mit ira begründet wird. Ira stehe dem Wahnsinn nahe:
An est quicquam similius insaniae quam ira? Quam bene Ennius ‚initium‘ dixit ‚insaniae‘. Color, vox, oculi, spiritus, inpotentia dictorum ac factorum quam partem habent sanitatis?
Cic. Tusc. 4.52.
Vgl. Sen. ira 1.3-4.
Für Cicero ist der Fall klar: Nur Weise können tugendhaft sein; wer Affekte wie Zorn oder Begehren empfindet, gehorcht nicht der Vernunft. Dazwischen gibt es nichts. Er hängt bei den Tugenden an den Definitionen der Stoiker. Fortitudo sieht er z.B. als „scientia rerum formidolosarum contrariarumque aut omnino neglegendarum conservans earum rerum stabile iudicium“ (53), wobei er vollkommen verneint, dass besagtes iudicium, also rationales Denken, bei irgendeiner Affekterregung möglich sei. Das scheint mir sehr kurzsichtig.
Dann zeigt er bei einigen perturbationes animi, warum es jeweils nicht möglich sei, dass es sie in einem richtigen Maß gibt. Dabei widerspricht er sich teilweise selber, indem er etwa die proclivitas, die er in (27-28) erläutert hatte, nicht mehr berücksichtigt:
Mediocritates autem malorum quis laudare recte possit? Quis enim potest, in quo libido cupiditasve sit, non libidinosus et cupidus esse? In quo ira, non iracundus? In quo angor, non anxius? In quo timor, non timidus?
Cic. Tusc. 4.57.
Um weise zu sein, muss man all solche Affekte links liegen lassen, auch wenn man dazu neigt. Verfällst du zu ira, zeugst du von iracundia, du Dummkopf! „Omnes stultos insanire, ut male olere omne caenum.“ (4.54) Es scheint aber auch nicht reichen, dass man sich trotz proclivitas zusammenreißt und sich den Affekten nicht hingibt, denn „omnia ista ex errorum orta radicibus evellenda et extrahenda penitus, non circumcidenda nec amputanda sunt“ (4.57).
Remedia?
Ab (58) verspricht Cicero Heilmittel. Wie schon in 3.1 erläutert, ist Philosophie ja animi medicina, sodass sich die remedia im Wesentlichen darauf beschränken, nochmals zu sagen, dass man die ganzen perturbationes links liegen lassen und darüber stehen soll. In (59) unterscheidet er zwischen singulae perturbationes und universa perturbatio, bevor er in (60) sein Ziel erneut formuliert, nämlich dass er zeigen will, alle Geistesverwirrungen seien weder natürlich noch nützlich, sondern gänzlich zu vermeiden.
Die Kunst (Heilkunst) liegt darin, mittels der Moralphilosophie die falschen opiniones zu revidieren: Das, was man wegen laetitia oder libido für gut hält, ist eigentlich nicht gut; das, was man wegen metus oder aegritudo für schlecht hält, ist gar kein Übel:
Sed omnis eius modi perturbatio animi placatione abluatur illa quidem, cum doceas nec bonum illud esse, ex quo laetitia aut libido oriatur, nec malum, ex quo aut metus aut aegritudo.
Cic. Tusc. 4.60.
Nur wenn man sich solchen commotiones animorum a recta ratione aversae widersetzt, zeigt man magnanimitas:
Constantem enim quendam volumus, sedatum, gravem, humana omnia spernentem illum esse, quem magnanimum et fortem virum dicimus.
Cic. Tusc. 4.61.
Der Rest des Buchs ist den einzelnen perturbationes gewidmet:
- libido (62)
- aegritudo (63)
- metus (64)
- laetitia (67)
- libido (68-76)
- ira (77-79)
In diesem Teil kommt nicht viel Neues hinzu. Was die libido angeht, spricht Cicero muliebris amor und iuvenum amor separat an, bevor er die stoische Definition von amor angibt: „conatus amicitiae faciendae ex pulchritudinis specie„. Amor also, aber sine sollicitudine, sine desiderio, sine cura, sine suspiro […]; vacat enim omni libidine. (72) Furor amoris ist nämlich der ärgste von allen. (75)
Ich folge dem nicht ganz, aber sicherlich hat Cato recht, wenn er sagt:
aliud est, Philippe, amor, longe aliud est cupido. […] alter bonus, alter malus.
Cato frg. 71.
Der Knackpunkt bei allen Leidenschaften ist einer, nämlich dass bei jedem Affekt gilt: motus animi totus opinabilis ac voluntarius! (79) Auch diejenigen, die von Natur aus zu einem dieser Affekte neigt (s. o. proclivitas), ist durch die Philosophie heilbar. (80) Diejenigen, die sich non natura, sed culpa schuldig machen, beharren in falschen Vorstellungen, was schwerer zu korrigieren ist:
Inveteratio […] aegrius depellitur quam perturbatio!
Cic. Tusc. 4.81.
Da kann man doch nur zustimmen. Wenn Sie how to break a bad habit googeln, stoßen Sie auf mehr als 200 Millionen Ergebnisse!
Schluss
In (82-84) lesen wir abschließende Worte zur Lektion des vierten Tages. Zusammenfassend werden die Themen der ersten vier Tage erneut erwähnt, denn die Philosophie hilft dabei:
- die Angst vor dem Tod zu nehmen (Tag/Buch 1),
- den Schmerz zu nehmen (Tag/Buch 2),
- vom Kummer zu befreien (Tag/Buch 3),
- von den übrigen Leidenschaften zu befreien (Tag/Buch 4).
Es sei gut gewesen, unter den Leidenschaften aegritudo zuerst und gesondert zu behandeln, denn sie sei fons miseriarum et caput. (83)
Et aegritudinis et reliquorum animi morborum una sanatio est, omnis opinabilis esse et voluntarios ea reque suscipi, quod ita rectum esse videatur. Hunc errorem quasi radicem malorum omnium stirpitus philosophia se extracturam pollicetur.
Cic. Tusc. 4.83.
Moralphilosophie ist die Instanz, die uns beibringt, uns der Vernunft zu bedienen, um ein gutes und glückseliges Leben führen zu können.
Zusammenfassungen der Tusculanae Disputationes
- Buch 1: Der Tod ist kein Übel
- Buch 2: Wie man Schmerz erträgt
- Buch 3: Werden Philosophen depressiv?
- Buch 4: Der Weise ist frei von Leidenschaften
- Buch 5: Tugend: notwendig und hinreichend
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Bibliographie
Kirfel, E.A. (Hg.) (1997): Cicero. Tusculanae disputationes. Lateinisch / Deutsch. Stuttgart: Reclam.
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