Senecas Briefe, gerade die aus dem ersten Buch, lese ich immer wieder gerne. Heute geht es um den fünften, der vom Spagat zwischen einer herkömmlichen (und daher höchstwahrscheinlich tadelnswerten) und einer weisen (und daher auffällig eigenwilligen) Lebensform. Hier finden Sie die 6 + 3 Lehren aus dem Brief, und zwar so formuliert, dass sie uns heute noch ansprechen, ermahnen und weiterhelfen können.

6 + 3 Lehren für ein weiser geführtes Leben

  • Man sollte immer versuchen, nicht zu verbessern und etwas Herausragendes zu schaffen, nie jedoch um zu prahlen.
  • Im Habitus sollte man nicht versuchen aufzufallen.

Als Weiser – würden wir heute „als achtsamer Mensch“ sagen? – mag man mit vielem, was unsere Mitmenschen in der Gesellschaft tun, nicht einverstanden sein. Doch man soll sich eher hinsichtlich der inneren Haltung als durch das äußere Erscheinungsbild von der Masse unterscheiden.

  • Sowohl zur Schau gestellter Luxus als auch extremer, selbstgefälliger Minimalismus sind zu vermeiden.

Non spledeat toga, ne sordeat quidem.

Sen. epist. 1.5,3.
  • Wenn wir uns darum bemühen, ein vorbildhaftes Leben zu führen, sollten wir auch dafür Sorgen, dass wir durch eine zu exzentrische Eigenwilligkeit unsere Mitmenschen nicht verfremden.

Aus Angst, alles imitieren zu müssen, werden sie uns sonst auch nicht das, wofür wir ein Exempel sein wollen, nachmachen.

Für die Stoiker ist die Philosophie nicht zuletzt ein Mittel, um zu lernen, wie man ein für die Gesellschaft nützliches Leben führt. Aus diesem Grund rät auch Seneca, der sonst sehr gut auf Menschenmassen und Lärm verzichten kann, zu einer stabilen Gesellschaftsfähigkeit.

Lesen Sie auch: Dürfen Sie Stoiker zurückziehen? zum VIII. Brief und hören Sie Senecas Beschwerden über den Lärm aus den benachbarten Thermen in diesem Artikel.

  • Man sollte gemäß der Natur leben.

Nempe propositum nostrum est secundum naturam vivere: hoc contra naturam est, torquere corpus suum et faciles odisse munditias et squlorem adpetere et cibis non tantum vilibus uti sed taetris et horridis.

Sen. epist. 1.5,4.

Das schließt also den artgerechten Umgang mit dem eigenen Körper, den Sweet Spot zwischen overdone und ungepflegt, die richtigen Lebensmittel ein. Bei solchen Mahnungen scheint die Antike doch unser Zeitalter zu rügen!

  • Doch sollte man sich auch von der Masse unterscheiden, um als Exempel fungieren zu können.

Temperetur vita inter bonos mores et publicos; suspiciant omnes vitam nostram sed agnoscant.

Sen. epist. 1.5,5.

Die Devise lautet also: distinguiert und doch relatable.

Man braucht keine Reichtümer, muss man sich aber auch zwischen Gold und Silber wohl fühlen können. Ein vorbildhafter Mensch ist der, der Tonteller so nutzt, als ob sie aus Silber wären, und Silberteller so, als ob sie aus Ton wären. Sehr ehrwürdiges Bild, finde ich.

Seneca macht am Ende seiner Briefe gerne ein neues Thema anhand eines Zitats oder eines Gedankens aus einer anderen philosophischen Schule auf. Im achten Brief zitiert er Hekaton und lehrt dabei Folgendes:

  • Furcht folgt Hoffnung.

Wer zu hoffen aufhört, hört auf, sich zu fürchten. Hoffnung und Angst nisten sich in den Herzen derjenigen ein, die von der Unsicherheit zukünftiger Ereignisse durcheinander werfen lassen.

Spem metus sequitur.

Sen. epist. 1.5,7.
  • Die menschliche Fähigkeit zur Voraussicht ist eine riesige Ressource, wenn sie nicht aus Furcht vor der Zukunft zu einem Übel verwandelt wird.
  • Wir sollten uns weder von Zukunftsvorstellungen noch von Geistern der Vergangenheit plagen lassen.

Ferae pericula quae vident fugiunt, cum effugere, securae sunt: nos et venturo torquemur et praeterito. […] Nemo tantum praesentibus miser est.

Sen. epist. 1.5,9.

Deswegen teilt Cicero im 5. Buch der Tusculanae nach Zenon die perturbationes in vier Typen ein:

  1. ex opinato bono futuro: libido
  2. ex opinato bono praesenti: laetitia
  3. ex opinato malo futuro: metus
  4. ex opinato malo praesenti: aegritudo

Das Fehlen solcher negativen Affekte ist die securitas. (Vgl. auch Cic. Tusc. 5.40ff.)

⚠️ securus ’sine curis‘ ≠ tutus ’sine periculis‘

Quod …, et probo et laudo.
omnibus omissis unum agere
se meliorem facere
modeste tractare
se hominum consuetudini excerpere
frons populo nostra conveniat
meliorem/contrariam vitam sequi
secundum naturam vivere
contra naturam est
cibis vilibus / taetris / horridis uti
non incompta frugalitas
eadem facere quam ceteri
nihil inter … et … interest
lucellum cum aliquo communicare
futuri expectatione sollicitari
ad praesentia adaptari
cogitationes in longinqua praemittere

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Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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