Hat man es mit ausgestorbenen Sprachen zu tun, muss man sich immer wieder skeptischen Blicken oder gar der offenen Frage Wozu eigentlich? aussetzen. Die Frage ist immer durchaus berechtigt, denn man will ja wissen, warum man das tut, wozu man sich entscheidet. Ausgerechnet in einer Zeit, in der wir alle möglichen Inhalte – oder Content, wie man heutzutage zu sagen pflegt – genießen können, wird bei notweniger aktiver Selektion die Frage der Legitimierung unausweichlich.
Die Legitimierungsgründe, die ich heute aufliste, sind wichtige und richtige Gründe, weswegen man sich für Latein entscheiden kann. Ich möchte keinen einzigen als falsch abschreiben, immo! Das Erlernen des Lateinischen bewirkt in der Tat all die folgenden wunderbaren Dinge.
Warum spreche ich also von „schlechten“ Gründen?
Aus der einfachen Tatsache, dass diese Legitimierungsversuche, auf die man sich meistens bei Infoveranstaltungen zur Sprachwahl bezieht oder Lateinfachschaften auf der Webseite der jeweiligen Schulen auflisten, nicht die primären, fürs Lateinische ausschließlich zutreffenden Gründe sind, sondern in der einen oder anderen Form auch auf andere Fächer bezogen werden können. Argumentiert man nur mit solchen Gründen, die nicht exklusiv auf das Fach Latein zutreffen, läuft man schnell Gefahr, unser wunderschönes und absolut notwendiges Fach implizit als überflüssig zu brandmarken.
Bessere Deutschkenntnisse
Das Fach Latein ist der Hauptsitz der Sprachreflexion im deutschen Gymnasium. In keinem anderen Fach steht das Metasprachliche so dezidiert im Vordergrund wie in Latein.
Durch das Übersetzen „in angemessenes Deutsch“, wie man so schön sagt, sind die Schüler gezwungen, nicht nur den lateinischen Text zu entziffern – im besten Fall vielleicht sogar zu verstehen –, sondern auch all seine Bestandteile in die Unterrichtssprache zu übertragen. Da die zwei Sprachsysteme naturgemäß nicht immer miteinander übereinstimmen, ist es nötig, dass die Schüler gewisse Änderungen gegenüber dem Ausgangstext vornehmen, wenn keine morphosyntaktischen oder lexikalischen Parallelen in der Zielsprache vorhanden sind. Die Äquivalente aus semantischer Ebene erfordern eine sog. Modulation, in Form von kontextueller Monosemierung mehrdeutiger Wörter (Bsp. petere), Paraphrasierung von Kola (wie a vita discedere) oder von ganzen Sätzen (etwa in Sprichwörtern wie oleum addere camino).
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Auch auf morphosyntaktischer Ebene sind Änderungen nötig: Die sog. Transposition schließt nötige Umstellungen, Wortartenwechsel und ähnliche Anpassungen auf flexionsmorphologischer und syntaktischer Ebene. (Zu den Termini Modulation und Transposition siehe Keip/Doepner 2014, S. 82ff.)
Einfacher ausgedrückt: Ein Ablativus absolutus kann man nicht wörtlich übersetzen, also muss man die verschiedenen Traspositionsmöglichkeiten im Deutschen kennen und anwenden können. Durch diese kontinuierliche Arbeit auf metasprachlicher Ebene erreichen Lateinschüler in aller Regel ein tiefes Verständnis von Sprachsystemen und verbessern dadurch auch ihre muttersprachlichen bzw. unterrichtssprachlichen Kompetenzen.
Die traurige (?) Wahrheit ist jedoch, dass man jede Fremdsprache und die eigene Muttersprache auch wunderbar ohne Lateinkenntnisse verbessern kann. Es ist richtig, dass die Auseinandersetzung mit sprachlichen Strukturen und die gezielte Reflexion über semantische, morphosyntaktische und topologische Phänomene den Sprachgebrauch und das Textverständnis verbessert. Und es stimmt auch, dass diese Sprachreflexion im deutschsprachigen Raum traditionell im Lateinunterricht verankert ist und ansonsten de facto gar nicht bis kaum stattfindet. Es muss aber gar nicht so sein. Es ist kein Unikum des Lateinischen, dass sich die eigenen Kompetenzen durch die aktive Auseinandersetzung mit einem Sprachsystem und durch das Erlernen von Beschreibungsinstrumenten, die sich für Sprachen eignen, steigern.
Wenn man endlich merkt, dass jeder Gymnasiast von metasprachlichen Kenntnissen im Bereich der deutschen Grammatik profitiert, kann man diese wunderbar auch außerhalb des Lateinunterrichts ausbauen. Alle Schüler sollten die Unterrichtssprache, für die meisten also ihre Muttersprache, in der Schule gezielt verbessern, indem sie neben der ihnen meist bereits bekannte Alltagssprache auch bildungs- und fachsprachliche Elemente ausbauen. Dass die logische Antwort auf dieses Bedürfnis Lernt also Latein! sein kann, scheint mir allerdings sehr fragwürdig.
Das Latinum
Für manche Studiengänge braucht man das Latinum, also kann man das Thema schon mal in der Schule abhaken.
Auch diese Argumentation hat ja nichts Verwerfliches oder Falsches an sich. Ich habe während meines Zweitstudiums sowohl das Latinum als auch das Graecum nachgeholt und kann bestätigen, dass es Arbeit macht und sich diejenigen, die diese Prüfungen in Ruhe im Laufe von ein paar Jahren anstatt jeweils 2-3 Semestern vorbereiten, das Unileben angenehmer und einfacher gestalten können.
Was ich an dieser Art von Argumentation jedoch höchst problematisch finde, ist die absolute Abkoppelung von Inhalten, die dabei in der Regel stattfindet. Der Fokus liegt dabei also nicht auf den bis zum Latinum erworbenen Kompetenzen, die für zahlreiche Fächer in vielerlei Hinsicht sehr hilfreich bis absolut unentbehrlich sind, sondern auf den bloßen Formalia.
Mit den Schulfunktionen nach Helmut Fend formuliert: Es ist sehr gefährlich, beim Thema „Latinum“ der Qualifikationsfunktion die Allokationsfunktion vorzuziehen. Es muss immer primär um fachspezifische Inhalte, sekundär ggf. auch um Formalia gehen.
Es gibt erstens Studiengänge, in denen lateinische Sprachkenntnisse vor allem auf lexikalischer Ebene sinnvoll sind, um die große Menge an lateinstämmigen Fachtermini bewältigen zu können (z. B. Medizin). Weiter gibt es Fächer, die ohne Realienkunde zur Antike nicht auskommen (z. B. Kunstgeschichte). Schließlich gibt es eine ganze Reihe von hermeneutischen Fächern, die ohne Kenntnisse des Lateinischen auf philologischer Ebene (Sprache + Texte) – sei es aufgrund der nötigen unmittelbaren Auseinandersetzung mit lateinischsprachigen Texten (etwa Geschichte, Theologie), sei es aufgrund der starken Rezeption antiker Quellen und Vorbilder (etwa Literaturwissenschaften), sei es um der diachronen Sprachbetrachtung willen (wie Romanistik) – m. E. ohne Lateinkenntnisse nur sehr eingeschränkt Sinn ergeben.
Konzentriert man sich auf die Allokation/Selektion nach Fend auf Kosten der inhaltlichen Qualifikation, läuft man Gefahr, dass nicht einmal die akademischen Vertreter der Fächer, die ohne Lateinkenntnisse, ohne eine textfundierte diachrone Perspektive, ohne eine vernünftige Auseinandersetzung mit Originaltexten nicht auskommen, auf ganz verrückte Ideen kommen, wie die Studienvoraussetzungen daraufhin zu ändern, dass ihre Studierenden kein Latinum mehr brauchen. Wenn ich von einem Romanistikstudium ohne Latein höre, weiß ich nicht mehr, ob ich lachen oder weinen soll. Lächerlich ist es aber allemal.
Liebe Lateinlehrer und -liebhaber, unser Fach ist wichtig. Lassen Sie uns es nicht auf ein Stück Papier reduzieren!
Es treten ständig neue Prüfungsordnungen in Kraft und die Selektionsregeln ändern sich dabei immer wieder. Leider geschieht das in letzter Zeit oft auf Kosten des Lateinischen, und zwar auch dort, wo es nicht nachvollziehbar ist. Lassen Sie uns daher mit Inhalten, nicht bloß mit Formalia argumentieren!
Den Romanisten und Italienischinteressierten unter Ihnen empfehle ich auch Italienischen Wortzschatz mit Dichtung erweitern.
Übrigens habe ich selber das Latinum während des Zweitstudiums nachgeholt. Über meine ersten Erfahrungen mit der lateinischen Sprache können Sie in diesem Artikel nachlesen: Die lateinische Sprache und ich: eine komplizierte Liebesgeschichte.
Latein als Brückensprache zu anderen Sprachen
Latein ist an und für sich würdig erlernt zu werden, um den Zugang zu wichtigen Denkmälern antiker und europäischer Literatur und Wissenschaft zu ermöglichen. Dies vorausgesetzt…
Wer Latein gelernt hat, hat bessere Voraussetzungen zum Erlernen einer weiteren romanischen Sprache. Stimmt das?
Diese Aussage basiert auf der sog. Interkomprehensionsforschung. Unter Interkomprehension versteht man die Fähigkeit, verwandte Sprachen rezeptiv (mündlich und/oder schriftlich) zu versehen, obwohl man sie nicht formell erlernt hat. Ich kann zum Beispiel als Italienerin ohne Schwierigkeiten einen spanischen Zeitungsartikel lesen oder eine Serie auf Spanisch schauen, obwohl ich mich keiner nennenswerten produktiven Kenntnissen erfreuen kann. Da ich Deutsch gelernt habe, verstehe ich – zumindest schriftlich – relativ gut Niederländisch, ohne es je gelernt zu haben. Die Übertragungen, die dabei helfen können, eine fremde Sprache aufgrund von Ähnlichkeiten mit weiteren bekannten Sprachen zu entziffern, sind natürlich auf der lexikalischer Ebene (ähnliche Wörter), schließen aber auch alle anderen sprachlichen Ebenen – Phonologie, Graphematik, Morphologie, Syntax – mit ein.
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Wie ist es nun mit Latein? Hilft Latein, um weitere Sprachen zu lernen?
Alles, was man weiß, kann dazu genutzt werden, neue Assoziationen aufzubauen und das eigene Wissen zu erweitern. Selbstverständlich sind Lateinkenntnisse hilfreich, um weitere Sprachen zu verstehen.
Man muss sich dabei jedoch des Unterschieds zwischen word recognition und word retrieval bewusst sein. Der Wortschatz, den man beherrscht, besteht nämlich nur zu einem relativ kleinen Anteil aus Wörtern, die wir aktiv verwenden können (word retrieval). Dazu kommen Wörter, die wir nicht während der sprachlichen Produktion aufrufen könnten, die wir jedoch erkennen und verstehen können (word recognition).
Der heutige Lateinunterricht setzt in aller Regel voraus, dass man einen Wortschatz rein auf der Basis der word recognition unter Verzicht von aktivem word retrieval in einer Fremdsprache aufbauen könne. Dass das nicht sinnvoll ist, zeigen uns alltäglich unsere Schüler, die nach 4-5 Jahren Lateinunterricht nicht in der Lage sind, einen einfachen Originaltext zu lesen, wenn sie nicht unzählige Hilfen bekommen und jeden Satz mühsam Wort für Wort entziffern. Im Gegensatz zu den anderen Sprachen kommen sie seltenst dahin, einen einfachen Text zu lesen und während des Lesens ein globales Verständnis aufzubauen.
Paradoxerweise wissen unsere Lateinschüler unheimlich viel über die lateinische Sprache und können auch komplexe Phänomene sprachwissenschaftlich beschreiben, ohne die Sprache an sich wirklich gelernt zu haben.
Wie soll dieser Zustand helfen, andere Sprachen durch Interkomprehension zu verstehen? Die Interkomprehensionsforschung basiert auf der Annahme, dass man anhand Sprachen, die man bereits beherrscht, unbekannte zumindest teilweise verstehen kann. Basieren unsere lexikalischen Kenntnisse der Sprache, die als Brücke fungieren soll, bloß auf word recognition, geht eine Interkomprehension gezwungenermaßen schwer vonstatten.
Ich sehe es sehr oft im Italienischunterricht, der in der Regel mind. als dritte Fremdsprache erlernt wird. Die Lerner, die gut Französisch oder Spanisch können, haben riesige Vorteile. Die, die Latein gelernt haben, sehen natürlich, wie ähnlich die zwei Sprachen sind, können ihre Lateinkenntnisse jedoch nur sehr bedingt gewinnbringend beim Lesen italienischer Texte einsetzen. Es passiert ganz oft, dass sie auch hochfrequente Wörter verwechseln und zum Beispiel vermuten, dass ragione ‚Sache‘ bedeute, weil sie res und ratio durcheinanderbringen.
Rezeptive Kenntnisse helfen nur bedingt bei Interkomprehensionsprozessen. Man hat dabei viel mehr von den Sprachen, die man auch produktiv beherrscht.
Wenn man in der Schule Latein aktiv lernen könnte, was Spaß macht, den Lernprozess vereinfacht und eine viel weniger mühsame Lektüre ermöglicht, könnten wir uns selbstverständlich Latein als Brückensprache groß auf die Fahne schreiben. Beim jetzigen Zustand ist irgendeine andere romanische Sprache für Interkomprehensionsansätze meines Erachtens viel geeigneter.
(Wenn man von Latein als Brückensprache spricht, kann man darüber hinaus den sprachsensiblen Unterricht meinen, also Latein als Brücke zu DaZ-Kenntnissen. Darüber werde ich demnächst etwas schreiben und hier verlinken.)
Denktraining
Bei Latein muss man genau auf die Endungen hingucken, alles präzise analysieren und ins Deutsch angemessen übertragen. Das schärft die Konzentrations- und Denkfähigkeit der Schüler.
Keine Frage: Das stimmt!
Ich hoffe aber wirklich, dass dies kein exklusiver Vorteil des Lateinischen ist! Ich würde fast so weit gehen zu sagen, dass alle Fächer, die Konzentrations- und Denktraining nicht anbieten, ruhig aus jedwedem Lehrplan gestrichen werden könnten. Freiwillige vor!
Durchhaltevermögen
Der Lateinunterricht schult das Durchhaltevermögen.
Das nötige „genaue Hinschauen“, das als Denktraining fungiert, sorgt auch dafür, dass sich Schüler intensiv mit einem Lerngegenstand auseinandersetzen und so lange knobeln, bis der auf Latein für die meisten unverständliche Satz in der deutschen Übersetzung einen Sinn ergibt. Das stärke das Durchhaltevermögen.
Zu dieser Vorstellung kann ich zum einen das sagen, was ich zum Denktraining gesagt habe: Alles, was würdig ist, gelernt zu werden, erfordert Reflexion und Durchhaltevermögen. Zum anderen finde ich die Vorstellung, dass die Auseinandersetzung mit einer Sprache als besonders herausfordernd präsentiert wird, nicht sehr motivierend. Wenn man Latein nicht bloß durchs Übersetzen lernen dürfte, wäre der Zugang zur Sprache genau so einfach oder so schwer wie beim Erlernen des Spanischen oder Französischen.
Ich glaube, dass das Lateinische aufgrund seiner ganz besonderen Geschichte seine Eigentümlichkeiten hat, die es von den modernen Sprachen stark unterscheiden. Dass diese zwingend zu gesonderten Unterrichtsmethoden führen müssen, scheint mir ein Fehler zu sein, der Dozenten und Lernern das Leben unnötig schwerer macht.
Und selbst wenn ich in dem Punkt völlig irrte, ist „Lernt Latein, weil es schwierig ist“ eine motivierende Parole?
Warum beschäftigen Sie sich mit der lateinischen Sprache?
Was ist für Sie das Schönste und Nützlichste daran?
Jeden Sonntag erscheint ein neuer Artikel auf der Webseite. Bis der nächste herauskommt, könnten Sie auch diese interessieren:
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