Menschen sind kreativ. Auch die, die es von sich nicht wahrhaben wollen.

Morning pages sind eine Schreibpraxis, die von Julia Cameron in ihrem Beststeller The Artist’s Way vorgestellt werden. Die Autorin schreibt sehr eindrucksvoll und mitreißend, dass Kreativität ein anthropologisch bedingtes Merkmal aller Menschen ist; da wir uns aber oft genug unsere schärfsten Kritiker sind und Kreativität verlernt haben, hat die Autorin (u.a.) die morning pages als Übung entwickelt, um die eigene Kreativität wieder zu entdecken.

Ich habe von dieser Praxis, schon lange bevor ich das Buch gelesen habe, erfahren und ausprobiert und ich muss sagen, dass sie mich sehr überzeugt hat. Schon seit Jahren schreibe ich morgens immer wieder mal phasenweise morning pages.

Am 1. März 2023 habe ich mir wieder vorgenommen, jeden Morgen die morning pages zu schreiben. Dabei geht es darum, morgens als Erstes drei Seiten mit den eigenen Gedanken zu füllen. Man sollte nicht auf Schönheit, Korrektheit oder andere Kriterien achten, die den Schreibfluss hindern können, und „einfach“ kontinuierlich schreiben, bis die Seiten voll sind.

Leider allzu oft stehen wir uns nämlich selber im Weg und diese Übung hilft, um die Gedanken aus dem Weg zu räumen, die uns daran hindern können, kreative Arbeit zu leisten. Kennen Sie das Gefühl?

Lesen Sie auch: Perfektionismus: eine heilbare Krankheit.

Ich nutze diese Übung schon seit ein paar Jahre immer wieder und in letzter Zeit habe ich das Bedürfnis gehabt, mir regelmäßig Zeit dafür zu nehmen. Im März 2023 habe ich daher jeden Morgen die morning pages geschrieben; dabei sind diese Überlegungen zu meiner Erfahrung entstanden.

Für wen ist die Übung?

Weiterzuempfehlen sind morning pages für alle, die etwas Kreatives vorhaben: natürlich musizieren, komponieren, malen, schreiben, aber auch wirtschaftlich neue Ideen voranbringen, wissenschaftliche Projekte skizzieren, das eigene Zuhause schön umräumen. Sie müssen kein Künstler im engen Sinne sein, um von der Übung zu profitieren.

Welche Vorteile ich bei dieser Übung sehe, erzähle ich Ihnen heute.

Vorteile

Die Vorteile, die ich beim regelmäßigen Durchführen dieser Übung festgestellt habe, sind zahlreich.

Horror vacui überwinden

Die leere Seite ist für viele – mögen sie doch so gut und gerne schreiben oder zeichnen – ein schreckliches Biest. So unschuldig, unberührt und tadellos, dass man Angst hat, sie zu berühren und kontaminieren. Was, wenn das was man aufs Papier bringt, nicht gut genug ist? Wie soll ich anfangen? Wo soll ich anfangen? Womit soll ich schreiben? Was wäre ein schönes Motiv? Habe ich eine ausgereifte Idee?

Die leere Seite macht uns Angst. Wir leiden am horror vacui.

Es muss nicht gut sein. Es muss nur sein.

mein Mantra

Es ist unfassbar befreiend, sich zu erlauben, etwas ohne jegliche Qualitätsansprüche zu kreieren. Einfach machen. Einfach losschreiben. Und es ist dabei vollkommen egal, ob es gut oder schlecht ist, schlau oder dumm, beflügelnd oder jämmerlich. Alles vollkommen egal. Das, was zählt, ist nur, dass man am Ende drei Seiten gefüllt hat. Man fühlt sich dabei wieder wie ein kleines Kind, das noch keinen Leistungsdruck kennt.

Perfektionsansprüche überwinden

Will man etwas Kreatives schaffen – sei es ein Gedicht schreiben, ein Porträt malen oder eine neue Firma gründen –, will man es auch gut machen. Man will sich Qualität auf die Fahne schreiben können.

Das ist gut.

Doch verkennen wir dabei leider, wie man am leichtesten zu qualitativen Ergebnissen kommen kann: indem man von einer Sache viel oft macht. Nicht gut, sondern viel und oft! In der Menge der Ergebnisse, die daher gezwungenermaßen auch von einer langen und intensiven Übung (!) zeugen, werden wir auch qualitativ wertvolle finden.

Es bedarf eines quantitativen Ziels, um ein qualitatives zu erreichen!

Auf diese Erkenntnis bin ich übrigens dank dieses Blogs gekommen. Lesen Sie auch: Happy Birthday, lieber Blog!

Da ich gerne dichte, schaue ich oft auf entsprechende Vorbilder. Ich hatte beispielsweise immer großen Respekt für Sonette und wollte gerne eins schreiben, das die wunderschöne Vollkommenheit, die inhaltliche Fülle und die emotionale Spannung von Ugo Foscolos Né mai più toccherò le sacre sponde erreichen würde. Ich sage Ihnen: kein leichtes Unterfangen. Und Sie können sich vorstellen, dass ich mit meinen ersten Ergebnissen, bei denen ich kaum bis gar nicht in der Lage war, alle metrischen Einschränkungen eines Sonetts zu berücksichtigen, nicht sonderlich zufrieden war.

Dann las ich Petrarcas Canzoniere, eine Gedichtsammlung, die mehr als 200 Sonette enthält. Viele sind absolut genial und einwandfrei, bei vielen wiederholen sich jedoch bestimmte Motive sehr stark, und es sind wie gesagt mehr als 200! Da dachte ich mir: Wenn ich zu ein paar wenigen Themen jemals 200 Sonette geschrieben haben werde, wird sicherlich das eine oder andere dabei sein, auf das ich richtig stolz bin! Es bedarf eines quantitativen Ziels, um ein qualitatives zu erreichen.

Ich bin bei weitem noch nicht bei 200 verfassten Sonetten angekommen, aber hier können Sie schon mal eins lesen, das ich meiner Tochter gewidmet habe: La notte buia chiama e il sonno pave.

Negativität überwinden

Viele, die die Übung der morning pages machen, stellen fest, dass sie die ersten Tage nur Negatives schreiben, dass sie also die Übung nutzen, um ihre negativen Emotionen irgendwo auszuladen.

Mir ist es auch so ergangen. Schließlich müssen die schlechten Gefühle auch irgendwohin, dann lieber auf ein zu niemandem gerichtetes Papier, als auf unsere Mitmenschen!

Eine der Hürden, die man überwinden muss, um sich kreativen Projekten widmen zu können, ist manchmal eine emotionale Überfrachtung von Verletzungen und negativen Gedanken. Natürlich können gerade diese zum Gegenstand unseres Schöpfens werden, doch für viele stehen sie bedauerlicherweise nur im Weg. Drei Seiten mit eigenen Gedanken zu füllen, kann daher auch in dieser Hinsicht sehr befreiend sein.

Blockaden überwinden

Zwingt man sich, jeden Tag drei Seiten, ohne großartig zu überlegen, zu füllen, stellt man fest, dass man sehr wohl viele Ideen hat, die zu fließen anfangen können, wenn man es zu lässt.

Alle oder fast stoßen bei den morning pages früher oder später auf die Frage „Was soll ich schreiben?“ und das ist vollkommen in Ordnung. Schreiben Sie einfach weiter: Überwindet man diese Hürde, bringt man die eigenen kreativen Säfte ans Rollen! Wenn man irgendetwas weiterschreibt, obwohl man nicht weiß, was man schreiben soll, lernt und übt man die wichtigste Technik gegen die befürchteten Schreibblockaden! Einfach irgendwas schreiben. Es muss nicht gut sein, es muss nur sein.

Im Buch empfiehlt Cameron, dass man im Zweifel schreiben soll, dass man nicht weiß, was man schreiben soll. Die Vorstellung, eine Seite mit dem Rat „Ich weiß nicht, was ich schreiben soll.“ zu füllen, finde ich ziemlich dämlich, daher bevorzuge ich es, anders vorzugehen. Ich stelle mir kurz vor, ich sei gar nicht dabei zu schreiben, und lasse meine Gedanken irgendwoandershin fließen – was am heutigen Tag ansteht, was ich am vorherigen Tag gemacht habe, was ich vorhabe, was ich sehe … – und der erste Gedanke, der mir in den Sinn kommt, schreibe ich auf.

Dieses Vorgehen zu finden und täglich zu üben, hat mir auch sehr weitergeholfen, was meine ernsthaften Schreibprojekte angeht. Seitdem ich regelmäßig diese morning pages schreibe, fällt mir viel leichter zu sagen: Fangen wir einfach bei irgendeinem Gedanken an. Meistens kommt da auch etwas bei rum.

Das müssen Sie aber auch nicht auf das Schreiben beschränken. Was immer Sie vorhaben, fangen Sie an!

Ideenarmut überwinden

Manchmal ertappt man sich dabei, andere zu beneiden. Neid tut weh.

Ich bin der festen Überzeugung, dass Schmerz immer eine Form von Kommunikation ist: Unser Körper oder unser Geist macht uns auf ein Problem aufmerksam. So gesehen ist Schmerz, sei es körperlich oder geistig, kein Übel, sondern vielmehr ein aufrichtiger Freund, der uns die Sachen erzählt, wie sie sind und nicht wie wir sie hören wollen.

Auch der Neid als eine Form von Schmerz kann uns also helfen, eine unangenehme Wahrheit zu entdecken, und zwar können wir ihn nutzen, um unsere unerfüllten Wünsche zu identifizieren.

Ich wollte schon immer schreiben. Aus vielen Gründen habe ich es oft nicht zugelassen, sodass ich gar nicht gewusst hätte, worüber ich schreiben soll. Erst als ich den Wunsch zugelassen habe und „einfach“ zu schreiben angefangen habe, habe ich festgestellt, dass ich sehr wohl weiß, worüber ich schreiben will. Man steht sich doch so oft selber im Weg!

Kommen wir noch mal zu den morning pages. Hat man einmal festgestellt, dass man etwas Kreatives (im weitesten Sinne) in seinem Leben machen will, hilft die Übung der morning pages entscheidend dabei, Ideen zu entfalten. Blockiert man sich selbst und seine Gedankengänge nicht, fließen ständig ganz viele Ideen und Einfälle.

Ich habe momentan nie das Problem, dass ich nicht weiß, was ich schreiben will. Ich habe das Problem, dass ich nicht weiß, welcher Idee ich mich zuerst widmen soll. Und viele dieser Ideen entstehen just beim Verfassen der morning pages.

Auch im Bezug auf den Blog werde ich oft gefragt, ob ich denn wirklich Stoff habe, um jede Woche einen Artikel herauszubringen. Ja, habe ich. Ich weiß nicht, wann ich alles, was mir einfällt, aufschreiben soll, aber ich habe eine Liste an möglichen Artikeln, die für die nächsten 10 Jahre dicke reicht. Ein Luxusproblem also, ich weiß.

Wenn Sie das Gefühl haben, dass Sie schreiben wollen, aber nicht wissen was, kann ich Ihnen diese Übung nur ans Herz legen. Schreiben Sie. Irgendwas. Es muss nicht gut sein, es muss nur sein. Alles andere wird folgen.

Beim Verfassen der morning pages ist u.a. die Idee für diesen Artikel über Kausalität im Lateinischen entstanden: Einen Grund auf Latein ausdrücken. (kommt bald!)

Horror vacui, Negativität, Perfektionismus, Ideenarmut oder etwas ganz Anderes – was ist Ihre größte Hürde?

Sollten Sie jemals den Eindruck haben, dass es bei Ihnen nicht weitergeht oder dass Ihnen Ideen fehlen oder dass Sie nicht wissen, wo Sie anfangen sollen, kann ich Ihnen die morning pages sehr ans Herz legen. Mir helfen sie jedenfalls immer wieder aufs Neue.

Jeden Sonntag erscheint ein neuer Artikel auf der Webseite. Bis der nächste herauskommt, könnten Sie auch diese interessieren:




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Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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