… und warum sie nicht standhalten können.
„Kann man eigentlich Latein sprechen?“ – Die Frage ist gerechtfertigt, denn ausgestorbene Sprachen werden in aller Regel nicht gesprochen. Das Lateinische ist aber ein Sonderfall. Deswegen lautet meine kurze Antwort trotzdem: „Ja, kann man.“ Ich gehe heute auf 5 wiederkehrende Einwände gegen das Lateinsprechen ein und zeige Ihnen, warum sie meines Erachtens nichtig sind.
Wir können nicht über Dinge reden, die es damals nicht gab
Die lateinische Sprache verbinden die meisten mit dem Altertum, denn das war die Zeit der lateinischen Muttersprachler und der großen Klassiker, die über Jahrhunderte hinweg in allen Künsten und in den Wissenschaften rezipiert worden sind. Das Lateinische, das wir lernen, ist die Sprache Ciceros, Cäsars, Ovids, Vergils und Konsorten. Es lohnt sich aber, sich vor Augen zu führen, dass Latein sowohl davor als auch danach geschrieben und gesprochen wurde.
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Die gelehrtesten Menschen der beinahe gesamten abendländischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte haben Latein gesprochen und geschrieben. Sie haben sowohl schöne Literatur als auch Fachliteratur auf Latein verfasst – in der Antike gab es die Unterscheidung nicht einmal. Selbstverständlich gab es in den über 1,5 JahrTAUSENDEN, in denen Latein von Nicht-Muttersprachlern täglich in ganz Europa und darüber hinaus in jedweder Disziplin primär verwendet wurde, unzählige neue Errungenschaften, über die man geschrieben und gesprochen hat. Über neue Erfindungen, neue Technologien und neue Glaubenssätze hat man natürlich immer sprechen können, auch auf Latein. Digitalisierung macht nur einen Bruchteil der Erneuerungen, die die Menschheit in den letzten Jahrtausenden erlebt hat, aus. Auch über diese kann man bei Bedarf auf Latein sprechen.
Dabei hat man zwei Möglichkeiten vorzugehen:
- antike Wörter, die etwas Ähnliches in einem anderen Lebensbereich auf einen neuen Geltungsbereich übertragen;
- Neologismen nach lateinischen Wortbildungsregeln bilden.
Dazu wird wahrscheinlich demnächst ein Artikel mit Beispielen folgen.
Es sei aber an dieser Stelle gesagt, dass die lexikalischen Einschränkungen, die sich beim Lateinsprechen in Bezug auf moderne Gegenstände und Ideen ergeben, meiner Meinung nach eine absolut marginale Rolle spielen. Die meisten Menschen, die sich mit Latein beschäftigen, tun dies nämlich, um sich einen sicheren Zugang zur lateinsprachigen Literatur zu verschaffen. Aus diesem Grund liegt der Fokus ohnehin auf lektürerelevantem Vokabular.
Wir können die Sprache nicht aktiv lernen, weil es keine Muttersprachler gibt
Auch dieser Einwand kann mit einem schnellen Blick auf die abendländische Kulturgeschichte abgewunken werden. Viele Gelehrte unserer Kulturgeschichte bis hinein ins 20. Jahrhundert haben im engen Umgang mit den Quellen und dank der aktiven Sprachverwendung einschränkungsfrei sprechen und schreiben können. Dass Latein eine Sprache ist, die man nicht spricht, sondern mit Sicherheitsabstand als bloßen Reflexionsgegenstand betrachten soll, ist eine zwar sehr eindringliche, doch unlängst erfundene Rhetorik.
Außerdem weiß jeder aus dem schulischen Alltag, dass Sprachen auch von Nicht-Muttersprachlern wunderbar gelehrt werden können. Die wenigsten, die in der Schule ein sehr gutes Niveau in einer modernen Fremdsprache erreichen, hatten schließlich muttersprachliche Lehrer.
Wir wissen nicht über alle Register Bescheid
Aufgrund des Überlieferungsstands können wir in Bezug auf das Lateinische vor allem Aussagen über die geschriebene Bildungssprache treffen. Trotzdem ist es sinnvoll, die Sprache produktiv zu verwenden, denn es ist beinahe unmöglich oder zumindest viel mühsamer als nötig, eine Sprache ohne aktive Übungen im morphosyntaktischen sowie im lexikalischen Bereich zu erlernen.
Außerdem geht es beim Erlernen des Lateinischen nicht darum, einen Kaffee im Ausland bestellen zu können. (Ganz ehrlich am Rande: Um eine solche kommunikative Tiefe zu erreichen, reicht ohnehin ein Zeigefinger.) Es geht beim Lateinlernen nicht bloß um das Sprechen, sondern immer primär darum, den Zugang zu den monumenta litteraria zu ermöglichen.
Selbstverständlich eignet sich, wenn es bloß ums Plaudern geht, irgendeine moderne Sprache oft besser als Latein. Uns kommt es aber auf die gründliche Auseinandersetzung mit dem unerschöpflichen Erbe, das auf Latein verfasst ist, an. Da ein fundierter Umgang mit Texten nur mit exzellenten Sprachkenntnissen möglich ist, stellt sich die Frage, wie diese erreicht werden können. Unter Berücksichtigung der historischen Lateindidaktik sowie der modernen psycholinguistischen Erkenntnisse bezüglich Fremdsprachenerwerbs ist die aktive Sprachverwendung meines Erachtens unabdingbar.
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Latein ist keine Kommunikationssprache
Latein ist keine Kommunikationssprache, die man im Alltag verwenden könnte. Das ist ein Einwand, der gegen den Latine–loqui-Ansatz verwendet wird.
Ich habe zwei Antworten darauf.
Erstens ist die Tatsache, dass Latein nicht als Kommunikationssprache angesehen wird, eine neue Entwicklung, die nur einen Bruchteil der Geschichte dieser Sprache betrifft, die Jahrtausende lang in allen Bildungs- und Wissenschaftsbereichen als lingua franca fungiert hat. Man kann durchaus lateinsprachig leben und miteinander kommunizieren, wie etwa in der renommierten Akademie Vivarium novum heute noch geschieht.
Zweitens geht es beim Lateinlernen nicht primär um alltägliche Kommunikation, sondern vielmehr um die in den Kernlehrpläne unserer Schulen noch fest verankerte historische Kommunikation. Wir wollen nicht bloß untereinander kommunizieren, sondern mit den großen Denkern der Vergangenheit durch ihre Schriften ins Gespräch kommen.
Latein ist eine Reflexionssprache
Gelungene Kommunikation kann allerdings nur auf der sicheren Grundlage fundierter gemeinsamer Sprachkenntnisse geschehen. Es reicht nicht, das Lateinische als Reflexionsobjekt anzusehen, um mit den Texten ins Gespräch kommen, sondern man muss das Medium zu eigen gemacht haben. Ein effizienter Weg, um dies zu gewährleisten, ist der Ausbau produktiver Sprachkompetenz.
Natürlich ist der Lateinunterricht bei jetzigem Stand der einzige Ort im deutschen Gymnasium, an dem eine tiefere Auseinandersetzung mit Sprachsystemen erfolgt. Das darf sich auch nicht ändern. Nur: Wie kann man über Dinge reflektieren, die man selber kaum beherrscht? Ein sicherer, aktiver Umgang mit dem Sprachsystem würde in meinen Augen auch der Sprachreflexion zugutekommen.
Eine letzte Frage habe ich an Sie!
Haben Sie es versucht?
Als ich angefangen habe, Latein zu sprechen, hatte ich meine Zweifel, aber ich war mit meinen durch das Lateinstudium erworbenen Sprachkenntnisse nicht zufrieden und daher auf der Suche nach alternativen Ansätzen. Der gezielte Ausbau produktiver Sprachkenntnisse war für mich die Lösung, die auch den Weg zur mühelosen Lektüre von Originaltexten eröffnet hat.
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Schließlich kann man theoretisch viel vermuten, ausdenken, überlegen; wichtiger ist aber zu erfahren, was funktioniert. Alles, was wir überlegen, muss der Praxis standhalten. Daher bitte ich Sie: Wenn Sie skeptisch sind, versuchen Sie’s! Nehmen Sie sich Familia Romana vor und bearbeiten Sie es ein halbes Jahr durch, am besten bei einem guten Dozenten, der als sprachliches Vorbild fungieren kann. Ich verspreche Ihnen: Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass Sie all die wunderschönen lateinischen Texte schneller, einfacher, gründlicher und freudiger lesen können.
Da ich diese Erfahrung gemacht hat, wünsche ich es mir auch für meine Schüler.
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