1906 veröffentlichte Robert Musil seinen Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. In diesem Roman werden die inneren Konflikte eines Jugendlichen in einem österreichischen Internat zu Beginn des 20. Jahrhunderts beleuchtet. Der junge Törleß, der selbst als empfindsamer Ästhet von seiner eigenen Sinnlichkeit überfordert zu sein scheint, wird Zeuge von Machtmissbrauch und Gewalt unter seinen Mitschülern.

Musil nutzt eine dichte, psychologisch durchdrungene Erzählweise, um Themen wie die Grenzen der Rationalität, die Rolle von Sprache und die Suche nach Orientierung in einer verwirrenden Welt zu erforschen. Der Roman hinterfragt die Mechanismen von Macht und Unterwerfung und liefert zugleich eine eindringliche Studie über die Entwicklung totalitärer Denkweisen.

Sechs Aspekte, auf die ich heute eingehen möchte, machen diesen faszinierenden Roman in meinen Augen absolut lesenswert.

Storytelling neu definiert

Im Storytelling gibt es die gängige Regel Show, don’t tell, die besagt, dass eine Geschichte spannender und authentischer wirkt, wenn etwa die Gefühle der Protagonisten nicht direkt benannt, sondern durch ihre Reaktionen, durch Beschreibungen und durch den Dialogton vermittelt werden. Statt einfach „Er war verärgert.“ zu schreiben, wird die Emotion durch Handlungen wie „Schreiend schleuderte er den Kelch gegen die Wand.“ deutlich gemacht.

Musil hingegen ignoriert diese Regel nicht nur, er kehrt sie regelrecht um. In Die Verwirrungen des Zöglings Törleß entfaltet sich die gesamte Handlung durch die empfindsame Wahrnehmungswelt des Protagonisten. Alles, was voranschreitet, wird aus seiner subjektiven Empfindung heraus dargestellt. So wird Törleß’ Handeln nicht als bewusste Entscheidung, sondern als unwillkürliches, körperliches Verlangen beschrieben, das ihn zu bestimmten Bewegungen zwingt. Ein Beispiel dafür ist, wie Musil schreibt:

Irgend etwas ließ Törleß darüber lächeln. Dann war wieder das Verlangen stärker. Es zog ihn von seinem Sitze hinunter auf die Knie, auf den Boden. Es trieb ihn, seinen Leib gegen die Dielen zu pressen; er fühlte, wie seine Augen groß werden würden wie die eines Fisches, er fühlte durch den nackten Leib hindurch sein Herz gegen das Holz schlagen.

Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, S. 70.

Diese Darstellung lässt uns nicht einfach verstehen, wie er sich fühlt, sondern wir erleben die Handlungen und Empfindungen aus seiner inneren Welt heraus. Es ist ein faszinierendes Beispiel für Musils innovative Erzählweise, die mich zugegebenermaßen auch etwas entsetzt. So sollte es doch gar nicht funktionieren!

Die Macht von Sprache

Der Zögling Törleß besitzt ein „Talent des Staunens“ (S. 25), was ihn zu einem besonders empfindsamen Ästheten macht. In der Kindheit wird er jedoch von der Tiefe und Vielschichtigkeit seiner eigenen Empfindungen überrascht und überfordert. Diese Erfahrungen faszinieren ihn einerseits, machen ihn andererseits aber auch überheblich und isoliert. Törleß‘ Geist ist so empfindsam, dass er Schwierigkeiten hat, seine Wahrnehmungen in Worte zu fassen. Und genau diese Unfähigkeit offenbart die Macht der Sprache! Indem ihm die richtigen Worte fehlen, um die Tiefe seiner Gedanken und Gefühle auszudrücken, entzieht sich seine Empfindsamkeit sowohl seinem eigenen Verständnis als auch der Kommunikation mit anderen.

Auf S. 64 wird etwa gesagt, dass ihm ein „schweigsames Bild“ einfällt. Später verdeutlicht Musil diesen krassen Gegensatz zwischen Erleben und Erfassen näher:

Immer aber ist es so, daß das, was wir in einem Augenblick ungeteilt und ohne Fragen erleben, unverständlich und verwirrt wird, wenn wir es mit den Ketten der Gedanken zu unserem bleibenden Besitze fesseln wollen.

Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, S. 65.

Musil zeigt uns, dass Sprache die Brücke zwischen rohem Erleben und kognitiver Differenzierung bildet. Was wir ohne Worte erleben, bleibt ein bloßes, unbestimmtes Gefühl. Erst durch die sprachliche Differenzierung können wir diese Eindrücke erfassen, begreifen und in unserem Bewusstsein verankern.

Das zeigt sich in der taktilen Metapher des ‚Fassens‘: Was wir in Worte fassen, können wir begreifen! Diese Vorstellung, die durch haptische Bilder verdeutlicht wird, findet sich übrigens in anderen Sprachen auch. Vergleiche:

  • Deutsch: in Worte fassen, nicht zu fassen, begreifen, kapieren (< lat. capere ‚fassen‘), fassungslos
  • Latein: rem tenere, intelligere (< legere ‚erlesen‘), ratione comprehendere, mente complecti
  • Italienisch: comprendere, capire (< capere), concepire (< con + capere), afferrare, cogliere
  • Englisch: comprehend, grasp, catch onto, out of reach

Törleß’ Unfähigkeit, sich sprachlich auszudrücken, verdeutlicht die tiefe Kluft zwischen bloßem Erleben und dem bewussten, kognitiven Erfassen der eigenen Realität. Denn verba und res gehen kognitiv Hand in Hand.

Sprache entwickelt sich

Die Macht der Sprache ist jedoch nicht etwas, dem wir einfach ausgeliefert sind, sondern sie entwickelt sich und wir können daran arbeiten. In dieser Hinsicht macht Törleß im Laufe des Romans eine klare Entwicklung durch. Ich möchte nicht so sehr auf den Plot eingehen, um Spoiler zu vermeiden. Irgendwann aber sagt Törleß in einem Gespräch zu seiner frühen Überforderung bezüglich seiner sprachlich nicht-differenzierter Empfindungen:

Dieses schweigende Leben hat mich bedrückt.

Musil, Die Verwirrungen des Zögling Törleß, S. 137.

Schließlich findet er jedoch die passenden Worte und der Erzähler kommentiert:

Diese Worte und Gleichnisse, die weit über Törleß’ Alter hinausgingen, kamen ihm in der riesigen Erregung, in einem Augenblicke beinahe dichterischer Inspiration leicht und selbstverständlich über die Lippen.

Musil, Die Verwirrungen des Zögling Törleß, S. 137-138.

Was zunächst sprachloses Erleben war, wird nun von Törleß selbst in Worte gefasst, die seine Empfindungen in einer Weise ausdrücken, die über seine bisherigen Fähigkeiten hinausgeht.

Dieser Moment zeigt, dass Sprache nicht nur ein Werkzeug ist, das wir zur Kommunikation verwenden, sondern innermenschliche Prozesse in Gang setzt, die sich im Laufe des Lebens weiterentwickeln. Törleß’ Fähigkeit, seine Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen, ist Ausdruck seiner persönlichen Reifung und seines wachsenden Verständnisses. Denn die Macht der Sprache ist nicht statisch, sondern verändert sich mit der Zeit – sie kann ein immer präziseres Mittel werden, um die Welt und das eigene Selbst zu begreifen.

Bildung: humanitas vs. immanitas

Damit gelangen wir zum nächsten wichtigen Punkt: Wie können wir unser Sprachvermögen verfeinern? Natürlich durch Bildung!

Bildung geschieht in dieser Hinsicht am besten durch die litterae – Sprache, Literatur und Philosophie. Auf Latein nennt man diese Feinbildung humanitas. Und was ergibt sich aus einem Fehlen von Feinbildung? Das Fehlen von humanitas ist immanitas, also ‚Rohheit‘ bis hin zur Brutalität.

Diese klassische Gegenüberstellung von humanitas und immanitas wird in Musils Törleß besonders deutlich, vor allem dann, wenn Philosophen und Lehrer in Törleß’ Augen versagen:

Dieses schiefe Verhältnis zu Philosophie und Literatur hatte später auf Törleß’ weitere Entwicklung jenen unglücklichen Einfluss ausgeübt, dem er manche traurige Stunde zu danken hatte. Denn sein Ehrgeiz wurde hiedurch von seinen eigentlichen Gegenständen abgedrängt und geriet, während er, seines Zieles beraubt, nach einem neuen suchte – unter den brutalen und entschlossenen Einfluss seiner Gefährten.

Musil, Die Verwirrungen des Zögling Törleß, S. 79.

Musil stellt einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Fehlen von Literatur und Philosophie und der Neigung zur Brutalität her. In einer Zeit, in der wir immer wieder mit radikalen Bewegungen, Gewaltszenen und Hassgedanken konfrontiert werden, dürfen wir uns nicht wundern, dass gleichzeitig Literatur und Philosophie aus just jenen Institutionen allmählich verschwinden, in denen sie doch gedeihen sollten, nämlich aus dem Gymnasium. Wenn wir Dinge sehen, die uns inhuman erscheinen, sollten wir uns stets an die Worte Erasmus‘ erinnern:

Homines non nascuntur, sed finguntur.

Wir werden nicht zu Menschen geboren, sondern gebildet.

Erasmus.

Diese Bildung, die uns zu menschlichem Denken und Fühlen befähigt, ist das Fundament für eine Gesellschaft, die sich von der Brutalität entfernt und hin zu einer echten humanitas entwickelt.

Menschlich vs. tierisch

Humanitas umfasst im Lateinischen nicht nur ‚Bildung‘, sondern ist zunächst das, was den Menschen – den homo – ausmacht – im Gegensatz zu den Tieren. Humanitas wird also oft ferinitas – dem ‚Tiersein‘ – gegenübergestellt.

Auch diesen Gegensatz finden wir im Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Besonders auffällig ist die häufige Verwendung des Adjektivs tierisch, das stets ein menschliches Verhalten beschreibt, das ursprünglich und nicht durch eine tiefere Überlegung oder Verfeinerung geprägt ist. Diese Verwendung kann sowohl negativ als auch positiv gemeint sein. Negativ wird etwa von „stumpfsinnigen, widerwärtigen, tierischen Narren“ gesprochen, während positiv vom „gesunden, tierischen Schlaf“ der Kameraden oder der „starken, gedankenlosen, tierischen Zärtlichkeit“ der Eltern die Rede ist.

Ob positiv oder negativ, stets steht das Tierische in einer distanzierenden Gegenüberstellung zu Törleß’ ästhetischer Empfindung. Das „Tierische“ bildet für Törleß’ feinere Wahrnehmung eine Kontraposition, ein Verhalten, das ihm fremd und unreflektiert erscheint. In diesem Spannungsfeld zwischen humanitas und ferinitas wird das Menschsein im Roman immer wieder hinterfragt und die Kluft zwischen rationaler Reflexion und unbewusstem, impulsivem Handeln deutlich gemacht.

Die Entstehung von Diktaturen

Der letzte Aspekt des Romans, auf den ich eingehen möchte, ist besonders spannend im Hinblick auf die Visionen, die er für die Entstehung von Diktaturen und das Aufkommen nationalsozialistischer Ideologien bietet. Musil zeichnet in Die Verwirrungen des Zöglings Törleß eine psychologische Landschaft, die die Entstehung autoritärer Denkmuster auf individueller Ebene vorwegnimmt – und das bereits 1906! Ein zentraler Gedanke wird durch die Philosophie des charismatischen Kameraden Beineberg eingeführt. Er verkündet, dass der „Mensch in dem wundervollen Mechanismus der Welt irgend etwas bedeuten soll“ (S. 56). Seine Philosophie, die sonst auch von mystischen Einflüssen geprägt ist, hat etwas dezidiert Stoisches. Beineberg beschreibt den Menschen als Teil einer übermenschlichen, göttlichen Vernunft, des Logos, den er als „Weltseele“ bezeichnet. Es liegt in der Verantwortung des Einzelnen, sich so zu verhalten, dass er seines göttlichen Anteils am Logos würdig wird.

Bis zu diesem Punkt kann ich mich mit Beinebergs Gedanken durchaus anfreunden, da sie ein nobles Ideal von Verantwortung und geistiger Erhebung verkörpern. Doch dann kippt seine Philosophie in eine gefährliche Richtung: Beineberg fordert, dass der Einzelne ein Opfer bringen müsse, indem er diejenigen, die ihm des Menschseins nicht würdig erscheinen, demütigt und quält. Hier entsteht aus einem an sich wertvollen Gedanken die Saat von Brutalität und Gewalt.

Was ist da schief gelaufen? In einem Wort: Hochmut. Der Gedanke, sich über andere zu stellen und als Richter über sie zu entscheiden, führt zur Entmenschlichung und zur Legitimation von Gewalt. Dieser Mechanismus, den Musil in Törleß’ Begegnung mit Beinebergs Philosophie ausführt, kann als frühe Warnung vor den psychologischen Mechanismen verstanden werden, die später totalitäre Regime und die Verbreitung von Hassideologien ermöglichen, die zur Aufopferung ganzer Bevölkerungsgruppen führen kann.

Meine Botschaft

Der Mensch strebt von Natur aus nach oben. Er spürt in sich seinen Anteil an etwas Höherem, an einer göttlichen Kraft, die sich in seiner Existenz durch seine schöpferische Kraft ausdrückt. Ich auch bin der der festen Überzeugung, dass sich der Mensch bemühen muss, dieser göttlichen Kraft, die ihm innewohnt, durch sein Handeln würdig zu werden. Ich glaube aber auch fest daran, dass sich der Mensch paradoxerweise am besten durch Demut erhöht, nämlich durch Lernbereitschaft und den Willen, seine Kompetenz in den Dienst anderer Menschen zu stellen. Lernbereitschaft und Dienstwille sind das, was uns erhebt, ohne uns überheblich zu machen.

Lesen Sie zu diesem Thema auch: So werden Sie glücklich: ein Framework zur Glückseligkeit.


Abonnieren Sie meinen Newsletter:

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren:


Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

0 Kommentare

Schreiben Sie einen Kommentar

Avatar placeholder

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert