Seneca spricht oft von dem, was Amis Self-Development nennen würden. Wie sagt man so schön?

Self-awareness is the first step toward self-improvement.

Der Meinung ist auch Seneca in Brief VI: Wer sich der eigenen Laster bewusst wird, hat schon Fortschritte gemacht.

Wenn man die Einleitung liest, hat man eigentlich guten Grund zu meinen, eine ungefähre Vorstellung über den Briefinhalt erhalten zu haben. Geht es irgendwie um Weiterentwicklung?

Nein!

Denn Senecas Briefe sind Senecas Briefe und mehrfache Themenwechsel sind an der Tagesordnung. Selbst wenn er es absichtlich oder aus Versehen schafft, halbwegs bei einem Punkt zu bleiben, ist am Ende die täglich mercedula, das lucellum usw., also eine Art Zitat des Tages, um zumindest beim Abschluss ein neues Fass aufmachen zu können. Das macht ihm Spaß.

Die (typische) unerwartete Gelenkstelle lautet an dieser Stelle: Ich versuche, mich selbst zu verbessern, also erzähle ich es Dir, lieber Lucilius, weil Du mein Freund bist. Es geht also irgendwie doch wieder um Freundschaft.

Sind Sie von Senecas Schreibstil auch etwas manchmal frustriert?

Wahre Freundschaft schwankt nicht vor Furcht, nicht vor Hoffnung, nicht vor Sorge um den eigenen Nutzen. Vielen fehlt es zwar nicht an Freunden, sondern an wahrer Freundschaft. Senekanischer geht’s wohl kaum:

Multos dabo, qui non amico, sed amicitiā caruerint.

Sen. epist. 1.6,3.

Es folgt das übliche Philosophenmärchen, dass Freundschaften daraus entstehen, dass zwei Weise gleichermaßen nach honestum streben. Als ob jemals zwei Menschen existieren könnten, die das Gleiche unter honestum verstehen. Naja. Wenn man alles teilt, auch die Schwierigkeiten, das soll Freundschaft sein.

Vgl. auch:

sit inter eos omnium rerum, consiliorum, voluntatum sine ulla exceptione communitas

Cic. Lael. 61.

Das Thema ist also Freundschaft? Nein nein, jetzt wechseln wir zu Lehrer-Schüler-Verhältnis!

Freunde lehren sich gegenseitig das, was sie gelernt haben. Was soll uns erfreuen, sei es auch so hervorragend und wohltuend, was man für sich alleine gelernt hat?

Ego vero omnia in te cupio transfundere, et in hoc aliquid gaudeo discere, ut doceam; nec me ulla res delectabit, licet sit eximia et salutaris, quam mihi uni sciturus sum.

Sen. epist. 1.6,4.

Denn Gutes muss man teilen:

Nullius boni sine socio iucunda possessio est.

Sen. epist. 1.6,4.

Deswegen lässt Seneca Lucilius gute, mit Notizen versehene Bücher zukommen. Also geht es ums Teilen?

Nein. Eigentlich ist der Brief eine Einladung, denn es ist gewinnbringender, sich persönlich zu treffen.

Homines amplius oculis quam auribus credunt.

Sen. epist. 1.6,5.

Longum iter est per praecepta, breve et efficax per exempla.

Sen. epist. 1.6,5.

Man lernt eher durch vorgelebte Beispiele als durch Erklärungen (potius ex moribus quam ex verbis), wie Kleanthes bei Zenon, Platon und Aristoteles bei Sokrates und Epikur, der mit seinen Schülern zusammenlebte, zeigen. Das ist für Schüler UND Lehrer von Vorteil: Der eine kann vom anderen lernen, der anderen wird durch die Anwesenheit des anderen zum guten Handeln angespornt.

Die abschließende diurna mercedula stammt von Hekaton: Lerne, Dein eigener Freund zu sein, und Du wirst nie alleine bleiben. (Was heißt das eigentlich? 🤔)

Und so kommt Seneca immer schön von Hölzchen auf Stöckchen. 😅

Ich kenne keine andere Sprache, bei der das Vokabellernen auf syntagmatischer Ebene (Kollokationen, Wortverbindungen usw.) so zentral wäre wie im Lateinischen.

Lesen Sie auch: Vokabeln lernen? Ja, aber mit Köpfchen!

Zur Phraseologie-Erweiterung:

in melius transferre
cura utilitatis suae
multos tibi dabo, qui …
animo concipere
aliquid inclusum tenere
notas imponere
multum operae impendere
probare et mirari
amplius oculis quam auribus credere
vitae alicuius interesse
secreta perspicere
ex formula sua vivere
mercedulam debere alicui

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Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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