Menelaos wollte seine Frau Helena zurück. Die Folge: 10 Jahre Krieg vor Troja und für Odysseus ebenso viele auf der Rückfahrt nach Ithaka. Als sein Sohn Telemachos im vierten Buch der Odyssee Helena am Hof von Menelaos sprechen hört, zeigt sie Reue. Doch was genau sagt Helena?
- „als wegen mir, der hündischen, ihr nach Troja zogt, ihr Achäer, den kühnen Krieg zu beginnen“ (übers. v. Roland Hampe)
- „da ihr Griechen, mich Ehrvergeßne zu rächen, hin gen Ilion schiffet, mit Tod und Verderben gerüstet“ (übers. v. Johann Heinrich Voß)
- „when for the sake of shameless me you Achaeans came up under the walls of Troy, pondering in your hearts fierce war“ (übers. v. A. T. Murrey)
- „when ye Achaians for my guilty sake went forth to wage the bloody war with Troy“ (übers. v. William Cullen Bryant)
- when Greece did undertake Troy’s bold war for my impudency’s sake (übers. v. George Chapman)
- what time the Greeks combined their social arms, to avenge the stain of my ill-fated charms (übers. v. Alexander Pope)
- when (shameless as I was) for my unworthy sake the Greecians sailed to Ilium with fierce rage of battle fir’d (übers. v. Wiliam Cowper)
- when all you Achaeans fought at Troy, launching your headlong battles just for my sake, shameless whore that I was (übers. v. Robert Fagles)
Wenn man nicht das Original bemüht, ist man offensichtlich der Interpretation der Übersetzer ausgeliefert. Was sagt Helena von sich? Hündisch, ehevergessen? Shameless, unworthy, guilty? Oder gar shameless whore? Man findet übrigens auch slut und bitch. (Einer von denen hat wohl die Übersetzung übersetzt… naja. Ein traduttor de‘ traduttor d’Omero ist eh immer in guter Gesellschaft.)
Im Griechischen steht κυνῶπις (< κύων ‚Hund‘ + ὄψις ‚Gesicht‘). Dass hier ‚hundsäugig’/’dog-faced‘ mit ’schamlos‘ gleichzusetzen sei, stellte die Altphilologin Emily Wilson, als sie vor ein paar Jahren eine neue Übersetzung der Odyssee herausbrachte, in Frage. (Hier finden Sie einen Artikel vom The Guardian dazu.) Wie kommt man eigentlich auf ’schamlos‘? Man müsste sich alle Belege des Wortes in ihrem jeweiligen Kontext anschauen, um zu überprüfen, ob die Bedeutung gerechtfertigt ist. Ich habe mir ein paar angeschaut und glaube, dass etwa Hom. Il. 1.149-160 durch intratextuelle Hinweise diese Bedeutungszuweisung erklärt: Dort spricht Achilles Agamemnon an und verwendet neben κυνῶπα (159) auch ἀναιδείην ἐπιειμένε ‚mit Unverschämtheit Bekleideter‘ (149) und κερδαλεόφρον ‚betrügerisch‘ (149). Selbst wenn man bei diesem seltenen und unklaren Wort den Aspekt der Schamlosigkeit hineininterpretiert, wie es meistens passiert, geht ’schamlose Hure‘ definitiv zu weit und verrät wohl mehr über den Übersetzer als über den griechischen Text.
Im letzten Beitrag ging es um die Frage, was bei der Lektüre einer Übersetzung gegenüber einer Originallektüre verloren geht. Dort geht es um Beispiele, in denen die Übersetzung aus sprachsystemischen Gründen dem Original nicht gerecht werden kann. Heute schauen wir uns an, wie unterschiedlich die Ziele sein können, die beim Übersetzungsprozess verfolgt werden, um die Diskrepanzen zwischen Ausgangs- und Zieltext bzw. zwischen verschiedenen möglichen Zieltexten zu erklären.
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Grundsätzliche Übersetzbarkeit
Es scheint vielleicht überflüssig oder selbstverständlich, aber das Prinzip der Übersetzbarkeit ist unsere Grundlage. Wir gehen also davon aus, dass es grundsätzlich möglich ist, etwas, das in einem Sprachsystem (und kulturellen Kontext) ausgedrückt wird, mittels eines anderen Sprachsystems für eine andere Kultur- und Sprachgemeinschaft zugänglich gemacht werden kann.
Da Übersetzbarkeit, wie wir im heutigen Beispiel und im letzten Beitrag gesehen haben, jedoch nicht absolut sein kann, bedarf der Übersetzungsprozess immer einer Verhandlung („negoziazione“, wie Eco in Dire quasi la stessa cosa schreibt).
Natürlich kann man auch für die eine grundsätzliche Unübersetzbarkeit plädieren, doch defacto wird doch seit Jahrtausenden munter übersetzt und mit den Fortschritten im Bereich KI gibt es sicherlich kein Anzeichen, dass das bald aufhören wird.
Die Frage bleibt also aktuell: Welche Ziele verfolgt eine Übersetzung?
Das Gleiche sagen
Trotz aller Einschränkungen, Probleme und Verhandlungen bestrebt man mit einer Übersetzung in der Regel primär eine Äquivalenz der Inhalte. Die Sachverhalte im Ausgangs- und im Zieltext sollten sich möglichst überlappen. Werner Koller spricht von denotativer Äquivalenz. (Vgl. Koller, W. (19924): Einführung in die Übersetzungswissenschaft. UTB.) Wir erwarten, dass der propositionale Gehalt transportiert wird.
Unsichtbarkeit des Übersetzers?
Bei vielen Textsorten gilt die Maxime, dass der Übersetzer einen guten Job gemacht hat, wenn man dem Ausgangstext nicht anmerkt, dass es sich um eine Übersetzung handelt. Der gute Übersetzer ist jemand, der sich unsichtbar macht. Wenn ich die Regeln eines neuen Gesellschaftsspiels, die Packungsbeilage eines Medikaments oder einen Tolstoj-Roman lese (denn leider Gottes kann ich kein Russisch), möchte ich nicht auf Stellen stolpern, an denen der Job des Übersetzers deutlich sichtbar wird oder gar dessen Qualität in Frage gestellt werden muss.
Dies ist jedoch nicht immer möglich.
Was zum Beispiel soll der Übersetzer machen, wenn im Original Passagen in seiner Zielsprache vorkommen? Etwa anmerkungslos übernehmen? Das würde der Intention des Originals nicht gerecht werden. Was soll er weiter bei Wortspielen machen? Bei idiomatischen Ausdrücken?
Und wie ist es denn mit antiken Texten?
Soll sich der Text vom Sprachgebrauch so lesen, als ob er im 21. Jahrhundert verfasst worden wäre? Ist das überhaupt möglich? Ist es nicht unvermeidlich (und Teil der Faszination dieser Lektüre), dass antike Texte dem heutigen Leser zu einem gewissen Grad fremd vorkommen, sei es aufgrund der Inhalte, der eigenartigen Argumentation der Antiken, der verwendeten Bilder und Vergleiche, der vorkommenden Personen und ihre Rollen?
Gleiche Wirkung
Der bereits zitierte Koller spricht von konnotativer Äquivalenz, wenn das Zieltext die gleiche Wirkung erzielt wie der Ausgangstext, indem etwa das Register, der Stil, die Häufigkeit bestimmter Ausdrücke beim Übersetzen berücksichtigt werden. Meistens haben wir keine 1-zu-1-Entsprechung hinsichtlich aller möglichen Konnotationsebenen, also muss der Übersetzer „verhandeln“ und Entscheidungen treffen.
Wie sieht es aber mit Konzepten aus, die im Kulturkreis der Zielsprache gar nicht existieren? Wie kann ich denn eine konnotative Äquivalenz bei antiken Konzepten wie fides, humanitas oder pietas erziehlen? Nehmen wir pietas als ‚pflichtbewusste Gesinnung‘ gegenüber (1) den Göttern, (2) den Eltern und der Familie sowie (3) der Obrigkeit, also dem Staat, der Republik bzw. dem Kaiser. Je nach Kontext und Übersetzungsziel kann der Übersetzer sich für eine Teilentsprechung wie Elternliebe entscheiden, das Wort auf Latein lassen und ggf. den Begriff in einer Fuß- oder Endnote erklären. Egal, wie er sich entscheidet, der Text kann in der Übersetzung keine konnotative Äquivalenz zum Originaltext aufweisen.
Wenn ich aber eine übersetzte Speisekarte eines japanischen Restaurant lese, hilft es mir wenig, wenn da einfach tempura als Terminus Technicus ohne Erklärung steht, wenn ich nicht schon weiß, was das ist.
Als weiteres Beispiel möchte ich none other than J.K. Rowling bemühen. Der Titel vom ersten Band der Serie – Harry Potter and the Philosopher’s Stone – wurde vom Britischen ins Amerikanische übersetzt. Verrückt, oder? Aus dem Philosopher’s Stone hat man einen Sorcerer’s Stone gemacht, weil man befürchtete, eine andere Wirkung auf dem amerikanischsprechenden Publikum zu erzielen. Man hatte wohl Angst, dass sich der Ami Sokrates und Platon anstatt abenteuerlustigen Magiern vorstellen könnte. Auch mehrere Wörter würden ins Amerikanische übertragen, wie trolley zu cart oder trainers zu sneakers.
Wenn wir über die gleiche Wirkung eines Textes sprechen, können wir uns auch auf Kollers textnormative Äquivalenz beziehen. Bestimmte Texte unterliegen beispielsweise bestimmten juristischen Einschränkungen, die der Übersetzer kennen muss. Wenn wir einen Lebenslauf ins Italienische für den italienischen Markt übersetzen, müssen wir zum Beispiel die Klausel zur Datenverarbeitung hinzufügen, weil sonst kein potentieller Arbeitgeber den vorgestellten Kandidaten kontaktieren darf: „Autorizzo il trattamento dei miei dati personali ai sensi del Dlgs 196 del 30 giugno 2003 e dell’art. 13 GDPR.“ Um die gleiche Wirkung zu erzielen, muss der Übersetzer den Text ggf. ändern. Das ist auch der Fall bei Urteilen in Zivilprozessen, die jeweils eine andere Struktur in Deutschland und Italien aufweisen (vgl. Prunč (20022): Einführung in die Translationswissenschaft. Band 1. Orientierungsrahmen. Graz), oder oft im Umgang mit Medikamenten.
Exotik beibehalten
Aber zurück zu Harry Potter. Wäre es nicht sinnvoll gewesen, typisch britische Ausdrücke beizubehalten, damit sie noch mehr zum englischen Flair der Serie beitragen? Es wäre sicherlich eine ebenfalls plausible Vorgehensweise gewesen, den Text unverändert auf den amerikanischen Markt zu bringen und sozusagen seine Exotik beizubehalten. So richtig Bri’ish!
Manchmal wollen die Lesen eben nicht übersehen, dass sie eine Übersetzung lesen. Es geht dann beim Übersetzen nicht darum, die gleiche Wirkung zu erzielen wie auf den Leser des Originals, sondern den Text mit seinem teilweise fremden Hintergrund für einen neuen Kulturkreis zu eröffnen.
Was antike Texte angeht, macht gerade die Koexistenz von anthropologisch bedingten Konstanten menschlicher Erfahrung und kulturellen Diskrepanzen zur heutigen Zeit die Lektüre immer anregend. In der lateinischen Fachdidaktik spricht man diesbezüglich von Isomorphien und Allomorphien.
Versio Latina und versio Graeca
Welches Ziel verfolgen wir, wenn wir lateinische Texte im Unterricht übersetzen?
In der schulischen Lateinunterricht sollte als oberstes Ziel die „zielsprachlich angemessene Übersetzung“ stehen (Doepner (20194): Übersetzung. In: Keip/Doepner: Interaktiver Fachdidaktik Latein. Göttingen, S. 125). Wie oft wird dann doch eine „möglichst weitgehende Nachahmung der Struktur“ (ebd.) des lateinischen Textes erwartet?
Neben der schulischen Übersetzung gibt es vereinzelt auch veröffentlichte Übersetzung, die das Ziel zu verfolgen scheinen, den Ausgangstext morphosyntaktisch möglichst zu entsprechen. Haben Sie schon mal Platon in der Übersetzung von Schleiermacher gelesen? Das ist quasi Griechisch mit deutschen Vokabeln. Ich fand es super, als ich mich auf das Graecum vorbereitet habe, aber es war schon ziemlich amüsant zu lesen. Was dabei aus den Augen verloren wird, ist die pragmatische Äquivalenz nach Koller: Was ist die Funktion des Textes? Ist es ein informativer, expressiver, deliberativer usw. Text? Ach, Jacke wie Hose! Hauptsache, wir haben das P.C. erkannt!
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Die Ästhetik des Textes
Die letzte Äquivaltenztypologie nach Koller, über die wir noch nicht gesprochen haben, ist die formal-ästhetische Äquivalenz. Um mit unserem anfänglichen Helena-Beispiel wieder abzuschließen, ist es erwähnenswert, dass nicht alle oben genannten Übersetzungen Dichtungen sind. Mancher Übersetzer hat sich zu einer engeren inhaltlichen Treue anhand einer Prosaübersetzung entschieden. Manch anderer dagegen hat eine Nachdichtung in Hexametern erstellt, die durch die äußeren Einschränkungen der gebundenen Sprache ändere Äquivalenzebenen erschwert, dafür aber die formal-ästhetische ermöglicht hat.
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