Ausgehend von Impressionen der Ausstellung Latein: tot oder lebendig? im Kloster Dalheim gehe ich heute der Frage nach: lingua Latina, mortua an viva?


Was machen Sie heute (08.01.2023)?

Wenn Sie noch keine Pläne haben und die wunderschöne Anlage vom Kloster Dalheim im Süden von Paderborn für Sie erreichbar ist, fahren Sie unbedingt zur Ausstellung Latein: tot oder lebendig?, denn heute ist Schlusstag!


Wie oft bei Ausstellungen, die mich interessieren, habe ich Monate lange versucht, dahin zu kommen. Ich wollte nämlich am liebsten mit lateinsprachigen Freunden, wie die aus meinem Circulus Latinus, dahin kommen, aber Corona, Arbeitsverpflichtungen und Desorganisation haben uns einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Diese Woche konnte ich in extremis meine rheinische Familie dazu überreden, einen Ausflug nach Westfalen zu unternehmen, und es hat sich gelohnt.

Die Ausstellung Latein: tot oder lebendig?

Was erwartet Sie in Dalheim?

Die Ausstellung befindet sich in einem idyllisch gelegenen Augustinerkloster mit schöner Parkanlage. Mehr über die lange Geschichte des Klosters und die Funktion der einzelnen Räumlichkeiten erfahren die Besucher in der Dauerausstellung, die ich persönlich leider noch nicht gesehen habe. Der Eintritt zu den Dauer- und Sonderausstellungen kostet für Erwachsene 10 Euro.

Audioguide auf Latein oder Deutsch

In der großen Sonderausstellung Latein: tot oder lebendig? haben wir über 3 Stunden verbracht. Im Preis inbegriffen ist auch ein Audioguide auf Latein oder auf Deutsch. Die lateinischen Audiospuren sind sehr gut gemacht: Sie wiederholen nicht die Informationen auf den Tafeln, sondern bieten zusätzlichen Stoff, ohne zu lang(weilig) zu werden, und sind in einem sehr sauberen Latein verfasst. Gesprochen sind sie, wenn ich die Stimme richtig zugeordnet habe, von Christian Kupfer. Die Zuhörer werden mit einer sehr klaren und verständlichen Vortragsweise und einer wunderschönen pronuntiatio restituta, die auch Vokalquantitäten berücksichtigt, beglückt. Ich empfehle Ihnen auf jeden Fall die Audioguides auf Latein! Selbst die Besucher, die noch keine große Erfahrung mit lateinischem Hörverstehen haben, werden sehr viel mitnehmen können und, sollten Sie doch eher wenig verstehen, werden Sie durch die zahlreichen deutsch-lateinischen Infotafeln nicht den Eindruck haben, dass Sie wesentliche Informationen verpasst hätten.

Die Botschaft

Mit der Ausstellung sollen Aspekte aus unserem alltäglichen Leben auf ihren lateinischen Ursprung hin erläutert werden nach dem Motto: Wir haben mehr mit Latein zu tun, als wir denken, aber wissen wir, wo das herkommt?

Von Carpe diem über Roswitha-Preis und Erasmus-Programm bis hin zu Harry-Potter-Zaubersprüchen wird dem Besucher ausgehend von seinem Alltagsleben ein Tor in die Vergangenheit eröffnet. Und diese Vergangenheit ist lateinsprachig.

Die Installationen

Da heute Schlusstag ist, erlaube ich mir trotz Spoilergefahr, die Installationen relativ kleinschrittig zu benennen, damit diejenigen, die die Ausstellung verpasst haben, spätestens jetzt ein Auge auf die Arbeit der Stiftung Kloster Dalheim und der weiteren beteiligten Wissenschaftler werfen können.

Die erste Installation ist ein modernes pantopolium – ein Supermarkt. Im Regal befinden sich verschiedene Produkte, deren Namen aus dem Lateinischen stammen, wie Nivea. Es gibt aber auch Distraktoren, die nichts mit Latein zu tun haben, wie die berühmten Gummibärchen von HARIBO – HAns RIegel BOnn. Können Sie alle lateinischen Namen entdecken? Wenn man die Produkte an der Kasse einscannt, wird des Rätsels Lösung angezeigt.

Die Idee des pantopolium eignet sich auch schön für eine erste Lateinstunde. Ich weiß auf jeden Fall schon, was ich in den nächsten Sommerferien bastle. 😁

Latein also. Aber Latein ist doch tot. Was hat es mit diesem Latein auf sich?

Die zweite Installation führt uns zum Vater der lateinischen Sprache, zu demjenigen Autor, dessen Sprachstand und Sprachstil die Basis für Millionen von Lateinlernern durch über zwei Jahrtausenden gebildet hat: Cicero. Denn ja, Latein ist dadurch ausgestorben, dass es sich durch Sprachwandel in den verschiedenen Regionen der Romania zu unterschiedlichen romanischen Sprachen entwickelt hat. Das Lateinische von Cicero lebt aber weiter, sozusagen eingefroren, und hält sich gerade deswegen, weil es ausgestorben und nicht weiter mutiert ist, als Lingua Franca, die die Grenzen von Raum UND Zeit sprengen kann. Das ist das Wunder der lateinischen Sprache.

Latein: tot oder lebendig? Beides – und just dieser einmalige Zustand hat die lateinische Sprache zur Verkehrs-, Literatur-, Wissenschafts- und Religionssprache für beinahe die gesamte europäische Geschichte (und darüber hinaus) erheben können, einer lingua franca, die die Menschen unterschiedlichster Nationen zu einer res publica litteraria vereint, uns ins Gespräch mit Gelehrten der Vergangenheit bringt und den Schriftstellern von heute noch ewiges Licht verleihen kann.


Ab der dritten Installation folgt die Ausstellung dem Prinzip „alt vor neu“. Es wird zunächst ein Autor oder eine Autorin erläutert, um dann im Laufe der Installation zu entdecken, was er oder sie mit unserer Alltagswelt zu tun hat.

Nach Cicero folgt Horaz mit seinem carpe diem.

Carpe diem aus Hor. carm. 1.11.

In der Spätantike rücken die Musae Christianae ins Bild, dank derer insbesondere Augustinus eine zentrale Rolle spielt. Sein Blick auf die klassische Zeit und insbesondere auf Cicero ist etwa im Werk De civitate dei oder in der Übernahme von den tria officia oratorisdocere delectare movere – und deren Anpassung zu docere delectare flectare evident, aber die Lexik wird von den Kirchenvätern den neuen Kommunikationsanforderungen angepasst. Ein schönes Quiz zu Bedeutungserweiterungen von Wörtern wie fides oder confessio erwartet Sie hierzu.

Übrigens wünsche ich mir manchmal, dass auch der eine oder andere Schüler eine kindliche Stimme hörte, die tolle lege, tolle lege (Aug. conf. 8.12) auffordert. Sed digredior…

Es ist dann die Rede von der sog. karolingischen Renaissance, von den Reformen also, die ab der zweiten Hälfte des 8. Jh. von Karl dem Großen initiiert wurden. Dank der Versammlung von Gelehrten aus ganz Europa, die trotz des katastrophalen kulturellen Niedergangs in merowingischer Zeit – dieser hätte der lateinischen Sprache wirklich beinahe das Leben gekostet! – noch über das nötige Know-How verfügten, um der Bildung Erneuerungsimpulse zu verleihen, rettete die Hofschule mit ihrer Ada-Gruppe in Aachen das Lateinische und sorgte für die Vervielfältigung antiker Werke sowie den Erhalt der in Vergessenheit geratenen heidnischen Kultur.

Unter den Exponaten sind auch wunderschöne Handschriften zu sehen.

Aachener Dom

Namenspatronin des an Schriftstellerinnen verliehenen Roswitha-Preises ist Roswitha von Gandersheim (ca. 935-980), die als erste deutsche Dichterin gilt.

Auch die Dichterin, Komponistin und Universalgelehrte Hildergard von Bingen kennt man in Deutschland noch gut, vor allem in der Heilkunde, denn die „Hildergard-Medizin“ verkauft sich schon seit den 70er Jahren gut, wie an den vielen Exponaten in Dalheim sehr anschaulich wird.

Der Besucher begegnet anschließend renaissancehumanistischen Autoren: Petrarca natürlich, der renovator sowohl der lateinischen als auch der italienischen Sprache, und Erasmus, den Studierende als Namenspatronen des europäischen Austauschprogramms kennen.

Von Erasmus wird u.a. seine Sammlung von Sprichwörtern und Redewendungen betont. Auch hier erwartet Sie ein Quiz zu lateinischen Sprichwörtern mit Lösungen in vier weiteren Sprachen (deutsch, englisch, spanisch, französisch). Ich gebe Ihnen einen Tipp zu oleum addere camino hier.

Lesen Sie meine Artikel zu lateinischen Adagia.

Bevor es auf die nächste Etage geht, finden Sie eine Installation zu Latein in der Schule durch die Zeit: vom grammaticus der Antike – das Relief dazu ist im Audioguide sehr schön erklärt: unbedingt reinhören! – bis hin zum heutigen Textbuch Pontes. Ein Strafesel ist auch dabei. Der darf im Lateinunterricht erfreulicherweise schon länger keine Anwendung mehr finden, was dem nächsten Stifter der lateinischen Sprache gefallen würde.

Nach einem kleinen Exkurs zu Vulgärlatein und Latein als Wissenschaftssprache geht es auf das 2. OG nämlich mit Comenius weiter, der sich nach dem Motto omnes omnia omnino für eine gewaltfreie Bildung der gesamten Jugend einsetzte. Latein ist die lingua universalis, mit der die Heranwachsenden die Welt (verba et res) kennenlernen:

Magister: Te per omnia ducam, tibi omnia ostendam, tibi omnia nominabo.

Puer: En! Adsum! Duc me, in nomine Dei.

Magister: Ante omnia debes simplices sonos discere, ex quibus humanus sermo constat: quos animalia formare sciunt, et tua lingua imitari scit et tua manus pingere potest. Postea ibimus in mundum, et spectabimus omnia.

Comenius, Orbis sensualium pictus (Invitatio)

Nach Comenius kommt der Besucher zu Wilhelm von Humboldt (1767-1835), seiner formalen Bildung und der Einteilung in die drei Stufen: Elementar-, Schul- und Universitätsunterricht. Das Lateinische, das seine Vormacht in Schulwesen, Jurisprudenz, Kultur und Wissenschaft bereits verloren hatte, wird zunehmend zu bloßem Instrument und Untersuchungsobjekt. Denn auch im humanistischen Gymnasium, in dem „das Erlernen der alten Sprachen […] nicht mehr theologischen Zwecken oder der Entwicklung der Denkfähigkeit – auch wenn letzteres, jetzt «formale Bildung» geheißen, wichtig blieb –, sondern unter dem Stichwort «allgemeine Bildung» dem tieferen Verständnis der für besonders bildend gehaltenen Kultur der griechisch-römischen Antike [diente]“ (Konrad 2012, 78), wurde 1892 mit der Abschaffung des lateinischen Abituraufsatzes dem aktiven Sprachunterricht defacto die Todesstrafe verhängt.

Das war wahrscheinlich nicht im Sinne des mehrsprachigen Erfinders, der sich zur Verbindung von Denken und (Universal-)Sprache äußernd sagte:

Das Denken ist aber nicht bloss abhängig von der Sprache überhaupt, sondern, bis auf einen gewissen Grad, auch von jeder einzelnen bestimmt. […] Wo […] der Stoff innerer Wahrnehmung, und Empfindung zu Begriffen gestempelt werden soll, da kommt es auf das individuelle Vorstellungsvermögen des Menschen an, von dem seine Sprache unzertrennlich ist.

W. v. Humboldt, Ueber das vergleichende Sprachstudium, 24f.

Sprache prägt das Denken und Sprachenlernen eröffnet aufgrund der Unmöglichkeit, sprachliche Zeichen eins-zu-eins von der einen in die andere Sprache zu übertragen, neue Wege, die außersprachliche Realität einzuordnen.

Die letzten Installationen betreffen das Neulatein. Denn trotz allen Verfalls gibt es heutzutage noch hervorragende Dichter, Schriftsteller, Übersetzer, Sprecher, Professoren und andere Gelehrte, die sich der lateinischen Sprache bedienen. In der Ausstellung finden besondere Erwähnung u.a. Karl-Heinz Graf, der Übersetzer von Asterix und Obelix – übrigens wunderhübsch die Rekonstruktion des gallischen Dorfs! –, der Radiosender Bremen zwei, die Rücktrittsrede von Papst Benedikt XVI, der Briefwechsel von Wilfried Stroh und Franz-Joseph Strauß.

Sehr dankbar fand ich die Exponate zu verschiedenen Spielen, zu Asterix und Obelix und zu Harry Potter gegen Ende der Ausstellung, die die Strapazierfähigkeit pueriler Geduld noch um die Zeit verlängern konnten, die ich zum Stöbern durch die zweite Ausstellungsetage brauchte.

Der Abschluss

Lingua Latina: viva an mortua? Ich antworte mit feuchten Augen: moribunda.

Wir leben nun einmal in einer Zeit, in der Fortschritt mit Konsumismus vermengt wird. Alles schreit nach new new new. Alles muss den „Ist es zeitgemäß?!“-Test bestehen, sonst wird es guillotiniert. In der heutigen, wie Bauman sie nennt, flüssigen Gesellschaft – „a condition in which social forms […] can no longer (and are not expected) to keep their shape for long, because they decompose and melt faster than the time it takes to cast them“ (Bauman 2007, 1) – ist nicht einmal Platz für langfristiges Planen – „the collapse of long-term thinking, planning and acting“ (Bauman 2007, 3) –, geschweige denn für reflektierendes Rückblicken. Die Auseinandersetzung mit unserer Geschichte ist aber nicht fast, quick and easy-peasy. Noch ist es das mühsame Unterfangen des Lateinlernens und des Gesprächs mit den antiken Denkern durch eine philologisch fundierte Lektüre. „Da lerne ich doch lieber Englisch.“, schreiben viele in der abschließenden Tafel der Ausstellung, in der Besucher um ihre Meinung zur Frage „Weltsprache oder Bildungsrelikt?“ gebeten werden.

In einer Zeit, wo alles Neue gefühlt nur 5 Minuten lang „zeitgemäß“ ist, übersieht man allzu schnell, dass es unsterbliche Werte und Werke gibt, die immer – vor 2000 Jahren wie vor 200 und genau so heute noch – würdig sind gelernt zu werden.

Latein ist immer zeitgemäß.

Mehr Infos zur Ausstellung und zum weiteren, üppigen und vielversprechenden Angebot im Kloster Dalheim finden Sie hier. Mein herzlicher Dank gilt den Ausstellern für die beeindruckende Arbeit sowie dem wahnsinnig netten Herrn an der Kasse.

Jeden Sonntag erscheint ein neuer Artikel auf der Webseite. Bis der nächste herauskommt, könnten Sie diese interessieren:




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Literatur


Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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