In einem früheren Artikel habe ich anhand von Livius 5.41 beispielhaft gezeigt, wie eine transphrastische Textanalyse, die vor allem textlinguistische Merkmale in den Fokus nimmt, aussehen kann. Im dieswöchigen Beitrag schauen wir, wie eine immanente, auf der Textanalyse basierte Textinterpretation dieser Passage aussehen kann.
Der Text
Hier noch einmal die Textstelle…
… und die Übersetzung:
Nachdem die Gallier am folgenden Tag in die Stadt Rom durch die offenstehende Porta Collina hineingestürmt waren, gelangten sie in das Forum und ließen die Augen über die Tempel der Götter und die Burg, die als Einzige den Anschein des Kriegs trug, umherschweifen. Wenige Männer ließen sie dann als Schutz zurück, damit sich kein Angriff aus Burg und Kapitol gegen die verstreuten Gallier ergeben konnte, und lösten sich von da aus durch die menschenleeren Straßen zum Plündern auf: Ein Teil stürmte in Scharen in irgendwelche der nächsten Häuser, ein Teil suchte die letzten, als ob diese schließlich eine unangetastet reiche Beute wären. Genau von dieser Einöde von dort zurückgeschreckt kehrten sie zum Forum und zu den forumnahen Orten zusammengerottet zurück, damit keine Hinterlist der Feinde sie überraschen konnte, während sie zerstreut waren. Und hier, da die Gebäude des gemeinen Volks geschlossen waren und die Atrien der Vornehmsten offenstanden, hielt sie ein fast größeres Zaudern davon ab, in die offenen als in die geschlossenen einzudringen. Bis dahin nicht anders als ehrerbietige Besucher schauten sie auf die in der Vorhalle der Häuser sitzenden Männer hinein, die, über Kleidung und Aussehen hinaus – erhabener als die menschlichen – auch in der Hoheit, welche ihre Miene und der Ernst des Ausdrucks äußerten, Göttern äußerst ähnlich waren. Als sie zu diesen wie zu Götterbildern gewandt da standen, soll Marcus Papirius, einer von ihnen, bei einem Gallier, den er mit seinem glänzenden Stab aus Elfenbein auf den Kopf geschlagen hatte, weil er seinen langen Bart, wie er damals von allen wachsen lassen wurde, gestrichen hatte, Zorn erregt haben. Und mit ihm sei das Blutbad entstanden, dann seien die anderen in ihren Sitzen abgeschlachtet worden. Nach dem Massaker der Vornehmsten wurde kein Mensch mehr geschont, Häuser wurden beraubt und die ausgeplünderten in Brand gesetzt.
Die Interpretation
In der gegebenen Passage aus Livius Ab urbe condita geht es um das Eindringen in Rom seitens barbarischer gallischer Truppen, welche bei der Plünderung der Stadt vor den offenstehenden Häusern vornehmer römischer Greise bei dem Anblick dieser götterähnlichen Figuren kurz stehen bleiben. Als die respektvolle Scheu vor den Alten jedoch plötzlich durch ein belangloses Ereignis erlischt, fängt das Blutbad an und die Stadt wird vernichtet.
Die Textstelle lässt sich in vier Abschnitte einteilen und wird der folgenden Gliederung entsprechend analysiert: erster Teil (bis tenentem, Z. 3), zweiter Teil (Z. 3-8 von Inde bis redibant), dritter Teil (Z. 8-13 von Ubi bis starent), letzter Teil (ab M. Papirius., Z. 13).
Zeilen 1-3
Der erste, indikativische Satz (Z. 1-3), in dem sich keine Konnektoren auf Satzebene finden lassen, stellt eine kurze Einleitung in das Geschehen dar. Die Narration erfolgt in diesem wie den übrigen Abschnitten in der 3. Person (ingressi, perveniunt, circumferentes), was seit Thukydides für historiographische Werke üblich ist; dabei wird das einfache Eindringen nach Rom seitens der Gallier durch die phorische Temporalangabe postero die und das vergangene Participium coniunctum ingressi als vorzeitiges Geschehen dargestellt, während ihrer Ankunft und dem Anblick, der sich ihnen präsentiert, durch perveniunt sowie die damit gleichzeitigen circumferentes und tenentem gegenwärtiger Charakter verliehen wird. Isotopisch ist das Eindringen der gallischen Truppen durch das Sachfeld ‘Hineingehen’ bei den Wortformen ingressi, perveniunt und porta belegt. Darüber hinaus unterstreicht die Anwesenheit von Sachfeldern und Rekurrenzen, die sich auch in weiteren Abschnitten des Textes befinden, den einleitenden Charakter des ersten Satzes, in dem wesentliche Themen und Motive angekündigt werden. So ist die Rede von ‘Stadt’-bezogenen Termini (urbem, porta Collina, forum, templa, arcem), von denen weitere im zweiten und dritten Abschnitt ebenfalls vertreten sind. Kohärenz zwischen diesem ersten und dem dritten Abschnitt ist durch die Sachfelder ‘offen/geschlossen’ (hier: patente), ‘Aussehen’ (oculos und speciem) und ‘Schauen’ (oculos, hier metonymisch für ‘Blick’) gegeben. Das Sachfeld ‘Krieg’ (arcem, belli) wird im letzten Abschnitt wiederaufgenommen. Galli/Gallo, patente/patentibus und deum/deis sind Rekurrenzen im ersten und dritten Teil, arcem/arce und forum/forum/foro im ersten sowie zweiten Teil.
Zeilen 3-8
Im zweiten Teil (Z. 3-8) werden die frevelhaften Handlungen der Gallier nach ihrem Eindringen in die Stadt (inde) in einem lebhaften Präsens (ruunt, petunt) erzählt, dessen historischer Charakter auch formal durch den Gebrauch vom Konjunktiv Imperfekt zum Ausdruck gleichzeitigen Geschehens im finalen Nebensatz (fieret) belegt werden kann. Der Gebrauch des Imperfekts – hier redibant, welchem durativer oder iterativer Charakter zugesprochen werden kann, – verbindet diesen Satz mit dem nächsten Abschnitt, in dem ebenfalls Indikativ Imperfekt in den übergeordneten Sätzen zu finden ist.
Dieser zweite Abschnitt dient der negativen Darstellung der Feinde Roms und erfolgt daher zum größten Teil in der 3. Person Plural (dilapsi, ruunt, petunt). Das primäre Ziel des brutalen Volkes ist die Stadtplünderung, welche in diesen Zeilen isotopisch mit der zweifachen Rekurrenz des Lexems praeda(mit den Wortformen praeda und praedam) in den Vordergrund tritt. Zur Darstellung sowohl der Bewegungen der Gallier als auch der Position der römischen Soldaten ist im diesem Abschnitt – wie im übrigen Text – das Sachfeld ‘Stadt’ wiederzufinden (arce, Capitolio, viis, tectorum, forum, foro, evtl. loca). Obwohl die Gallier beinahe die ganze Stadt unter ihrer Kontrolle haben, droht ihnen stets die Anwesenheit kampfbereiter Römer auf dem Kapitol, aufgrund derer die Leere der Straßen (vacuiis occursu hominum viis) äußerst unheimlich wirkt. Paradoxerweise scheuen sie die Einöde der sonst gut verkehrten Großstadt (solitudine absterriti) und fürchten sich vor einem plötzlichen Angriff, der in den zwei finalen Nebensätzen ne quis in dissipatos ex arce aut Capitolio impetus fieret und ne qua fraus hostilis vagos exciperet zweimal paraphrasiert wird und isotopisch durch impetus, arce und fraus hostilis vertreten ist. Nicht wunderlich ist, dass ‘Zerstreuung’ in diesem Abschnitt ein stark vertretenes Sachfeld ist (relicto praesidio, dissipatos, dilapsi, die Konnektoren pars… pars…, vagos). Die Furcht vor den mit unorganisierter Zerstreuung verbundenen Gefahren ist durch zwei Antithesen unterstrichen. Einerseits stürmen die Gallier ungeordnet (dissipatos, dilapsi) in die nahen Häuser zur Plünderung ein, andererseits versuchen sie stets, in Gruppen (agmine) der Gefahr eines Angriffs zu entgehen. Die Unordnung der barbarischen Truppen scheint in diesem Abschnitt aufgrund ihres tollen Ungestüms und ihrer unkontrollierten Gier unvermeidbar: Noch einmal betont der Autor die daraus (vagos) entstehende Angst und den Versuch der Gallier zusammenzuhalten (conglobati). Die Hervorhebung dieser Tatsache erfolgt auch auf syntaktischer und semantischer Ebene, denn der Anfang der zwei inde‑Sätze erweist – über die Anapher (inde) hinaus – offenbar einen parallelen Aufbau. Syntaktisch lässt sich folgende Struktur beobachten: Inde, satzwertige Konstruktion (Ablativus absolutus bzw. Participium coniunctum), finaler ne‑Satz mit Konjunktiv Imperfekt an letzter Stelle. Inhaltlich stellt sich der zweite ne‑Satz, wie bereits erwähnt, als Paraphrase des ersten heraus. Der Unordnung der gallischen Truppen wird schließlich rhetorisch in den durch pars verbundenen Sätzen besonderer Nachdruck verliehen, da die zwei asyndetischen Sätze parallel aufgebaut sind, eine anaphorische Einleitung haben und eine vernehmbare p‑Alliteration (pars, proxima, praeda, petunt) erweisen. Die Gallier handeln weder organisiert noch rational und stürmen unüberlegt von Haus zu Haus auf der Suche nach Reichtümern. Einige gehen in die nahen Häuser hinein, während andere paradoxerweise glauben, die weiter entfernten stellten eine reichere Beute dar, was auch durch die Antithese proxima vs. ultima unterstrichen wird.
Obwohl dieser Abschnitt primär narrativ ist, erfolgt auch eine Charakterisierung der Gallier, welche nicht durch Beschreibungen, sondern durch die Wiedergabe ihrer Entscheidungsprozesse und Gedankengänge erzielt wird. Die ganze argumentative Ebene des Abschnitts – der finale Konnektor ne, die Paraphrasen, der Gebrauch vom Präsens, das Vorkommen von Indikativ und Konjunktiv, die Angabe der Gründe bestimmter Handlungen (velut ea … intacta et referta praeda, solitudine absterriti) – dient der Psychologisierung der gallischen Truppen.
Zeilen 8-13
Im dritten Teil, in dem die Narration weiterhin in der 3. Person erfolgt, begegnen die Gallier altehrwürdigen Römern in ihren beeindruckenden Häusern und scheinen durch den respekteinflößenden Anblick geblendet zu werden. Der Leser hat den Eindruck, dass die Zeit einen Augenblick lang stehen bleibe, und stellt sich vor, wie die Gallier zu den erlauchten Greisen festgebannt emporblicken. Das Geschehen streckt sich über eine abgeschlossene Zeitspanne in der Vergangenheit, so dass die Verben im Imperfekt stehen, und zwar meist im Indikativ (tenebat, intuebantur, ferebat), einmal als relatives Tempus im temporalen, nicht iterativen cum‑Nebensatz im Konjunktiv (starent). Die Gallier kommen während ihres Raubzugs vor den Häusern der vornehmsten Römer an, welche im Gegensatz zu den benachbarten bescheideneren Häusern offenstehen. Die Antithese der zwei asyndetisch angereihten Ablativi absoluti plebis aedificiis obseratis, patentibus atriis principum ist durch einen Chiasmus, der aus der gekreuzten Stellung der possessiven Genitivattribute und der partizipialen Adjektivattribute besteht, und die verschiedenen Tempora und Diathesen der Partizipien (PPP vs. PPA) hervorgehoben. Der Anblick der erhabenen Hallen lässt sogar die Gallier zaudern, deren Passivität und Zögerung in jenem Augenblick umso mehr dadurch unterstrichen wird, dass das Abstraktum cuntatio als Agens fungiert. Es ist ein Augenblick großer Spannung, welche auch durch das lange Hyperbaton maior prope cuntatio tenebat aperta quam clausa invadendi aufgebaut wird. Dabei werden offene und geschlossene Häuser antithetisch gegenübergestellt und die Gegebenheiten führen zu dem Paradoxon, dass die Gallier eher die geschlossenen als die offenen bestürmen möchten. Diesem Motiv entsprechend findet der Leser hier die Sachfelder ‘Stadt’ (aedificiis, atriis, aedium, vestibulis) und ‘offen/geschlossen’ (obseratis,patentibus, aperta, clausa) wieder.
Eine weitere Gegenüberstellung, die über den ganzen Abschnitt durchgezogen wird, ist die zwischen den vornehmen Römern und den Galliern, welche jeweils als Götter und deren Verehrer dargestellt werden. Aufgrund der auffälligen Gleichnisse befinden sich in diesem Abschnitt entsprechende Konnektoren ((maior cunctatio) quam, (haud secus) quam, velut), einen Ablativus comparationis (humano augustiorem) und das Adjektiv similis (simillimos deis). Besonders dieser letzte, hyperbolische Vergleich der vornehmsten Römer mit Göttern, welcher den römischen pietas‑Wert gegenüber den Göttern und den Alten hier vereint, wird auf unterschiedliche Weise hervorgehoben: Zum einen wird es zweimal paraphrasiert (viros … simillimos deis und ad eos velut ad simulacra); zum anderen stellt simillimos deis eine unerwartete Epiphrase dar, die sich nach scheinbarem Ende des Satzes als Hyperbaton zu viros entblößt. Ebenfalls zweimal wird die Betrachtung der Greise seitens der Gallier betont, und zwar in haut secus quam venerabundi intuebantur und der Paraphrase velut ad simulacra versi … starent, wo das Sachfeld ‘schauen’ (intuebantur, versi) zu beobachten ist.
Die vornehmen Römer, die in ihren Hallen sitzen (sedentes), bilden einen krassen Gegensatz zu den stehengebliebenen Galliern (starent). Es scheint, als ob die Römer die unerwünschten Besucher aufgrund ihrer Überlegenheit soweit gar nicht wahrgenommen hätten, und die plötzliche Stille, welche angesichts der götterähnlichen Gestalten eintritt, ersetzt das bisherige wilde Wimmeln der Soldaten. So kann sich das Augenmerk des Erzählers dem Aussehen der Alten widmen (Sachfeld ‘Aussehen’: ornatum habitumque augustiorem, vultus, oris, simillimos): Ihre Miene, ihre Kleider, schließlich ihr gesamtes Erscheinungsbild machen sie zu götterähnlichen, venerablen Gestalten, die sogar die wilden Eindringlinge für einen kurzen Augenblick bannen.
Im dritten Teil wird zwar die Handlung narrativ weitergeführt, jedoch ist die Hauptfunktion des Textes die Beschreibung der vornehmen Römer, denen die irrational handelnden Gallier gegenübergestellt werden.
Zeilen 13-17
Die aus Respekt zum ehrwürdigen Anblick entstandene Stille ist aber kurzer Dauer und wird durch eine plötzliche, ja tragikomische Wende abrupt unterbrochen. Nach dem cum‑Satz wechselt die Narration wieder in ein indikativisches Präsens (dicitur) und bekommt durch den NcI (M. Papirius dicitur Gallo iram movisse) sowie die folgenden AcIs (initium ortum (erg.: esse), ceteros trucidatos (erg.: esse)) den Anschein einer indirekten Rede, der zusammen mit der verfremdenden Wende der Ereignisse eine distanzierte Darstellung bewirkt. Der letzte Satz, der durch die alliterierende Zeitadverbiale post principum caedem ansetzt, besteht aus einem asyndetischen Trikolon koordinierter Hauptsätze mit Prädikat im narrativen Infinitiv Präsens passiv, bei denen jedoch sonst ein paralleler Aufbau absichtlich vermieden scheint, denn das Prädikat steht jeweils an letzter, an erster und an zweiter Stelle. Auffällig ist dabei auch die Wahl von drei Verben unterschiedlicher logischer und morphosyntaktischer Valenz: Zum einen sind parco und diripio zweiwertig, während inicio dreiwertig ist; zum anderen regiert parco ein Dativobjekt, diripio ein Akkusativobjekt, inicio beides. Beim Trikolon kann – vor allem im Hinblick auf die letzten zwei Glieder – eine Klimax festgestellt werden.
In diesem vierten, primär narrativen Abschnitt werden die Ermordung der Greise, deren Anlass und Folgen erzählt; die Zeiteinteilung der Handlung erfolgt durch die temporalen Konnektoren tum und deinde und der Präposition post. Außerdem sind alle in den abhängigen Infinitiv‑ und Partizipialkonstruktionen präsentierten Ereignisse (incusso, movisse, ortum (erg.: esse), trucidatos (erg.: esse)) sowie der im ut‑Satz (promissa erat) beschriebene Zustand vorzeitig.
Der triviale und komische Anlass, der die Gallier wieder zu sich kommen lässt und schließlich zum Blutbad führt, ist die Tatsache, dass der römische Greis Marcus Papirius einen Gallier, der seinen langen Bart streichelt, mit einem Elfenbeinstab auf den Kopf schlägt. Im Einklang mit der Tatsache, dass Ursache und Folge hinsichtlich ihrer Gewichtigkeit nicht im Verhältnis zueinander stehen, wird das Ereignis mit einer auffälligen Verzögerung dargestellt. Die Spannung wird durch das lange Hyperbaton M. Papirius … dicitur Gallo … iram movisse. Der Dativobjekt Gallo ist durch ein Participium Coniunctum (mulcenti) mit jeweiligem Akkusativobjekt (barbam suam) erweitert, auf das noch ein Ablativus Absolutus (scipione eburneo in caput incusso) folgt. Der Satz wird durch die elliptische Weiterführung mit den zwei asyndetisch gereihten AcIs ohne Hauptverb abgeschlossen. Lange wartet man also auf den paradoxen Grund für das Blutbad, wegen dessen das Sachfeld ‘Angriff’ mehrfach vertreten ist (incusso, caedis, trucidatos, caedem, inici ignes). Nach der Ermordung aller vornehmen Greise ziehen die Gallier erneut und noch rücksichtsloser zum Plündern (diripi, exhaustis) durch die Stadt und setzen schließlich alle Häuser in Brand (inici ignes).
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