O vitae philosophia dux, o virtutis indagatrix expultrixque vitiorum!
Cic. Tusc. 5.2.5.
Philosophie, insbesondere ethische Philosophie, ist nicht dazu gedacht, Bücher mit schönen Worten und schlauen Gedanken auszufüllen, sondern soll und kann uns dabei helfen, Prinzipien zu finden, die zu einer sinnvollen Lebensgestaltung führen können. Als ars beate vivendi kann sie uns durchs Leben leiten, indem sie Tugendhaftes aufdeckt, Tadelnswertes fernhält.
Auch zur Überwältigung von Momenten der übermannenden Trauer kann die antike philosophia moralis zum Leuchtturm im sonst verheerenden Sturm der Verzweiflung werden, vielleicht sogar zum süßen Trost.
Mit einem bewundernswerten Intellektuellen, den ich dankenswerterweise Freund nennen darf, habe ich die Tage Senecas 63. Brief gelesen, in dem Lucilius infolge des Todes Flaccus‘ der Weg aufgezeigt wird, wie ein Weiser am besten trauern soll, um – selbst von tiefstem Schmerz erfüllt – Toten, Lebenden und nicht zuletzt sich selbst gerecht zu werden.
Unvermeidlichkeit des Schmerzes
Wie versucht Seneca, seinen jüngeren Freund Lucilius zu trösten?
Als Erstes zeigt er Empathie, indem er betont, dass er nicht verlange, dass Lucilius nicht leide, obwohl dies der bessere Weg wäre:
Illud, ut non doleas, vix audebo exigere; et esse melius scio.
Sen. epist. 63.1.
Um nicht zu leiden, wäre nämlich eine standhafte Geistesstärke (firmitas animi) nötig, die nur solche Weisen haben können, die völlig immun gegenüber jedwedem Schicksalsschlag geworden sind (iam multum supra fortunam elato). Sogar der vollkommene Weise würde zwar einen schmerzhaften Stich verspüren, aber eben nur einen Stich.
Das unerreichbare Ideal des wahren Weisen, der es schafft, auch beim Verlust eines geliebten Menschen den Schmerz in Schranken zu halten, finden wir etwa auch bei Cicero im Dialog De amicitia:
Ego [= Laelius] si Scipionis desiderio me moveri negem, quam id recte faciam, viderint sapientes; sed certe mentiar.
Cic. Lael. 10.
Obwohl wir nicht hoffen können, über eine solche Standhaftigkeit zu verfügen, dass wir nicht mehr übermäßig leiden, können und sollten wir dafür sorgen, dass wir uns nicht völlig in Tränen auflösen (prolapsis ad lacrimas):
Nec sicci sint oculi amisso amico nec fluant; lacrimandum est, non plorandum.
Sen. epist. 63.1.
Formen der Trauer
Auch in der Trauer ist eine aurea mediocritas also wünschenswert, um zu vermeiden, dass wir durch das Vergießen von Tränen Gründe zur Sehnsucht suchen und dem Schmerzen nicht nachgehen, sondern vielmehr zur Schau stellen:
Per lacrimas argumenta desiderii quaerimus et dolorem non sequimur sed ostendimus; nemo tristis sibi est. O infelicem stultitiam! Est aliqua et doloris ambitio.
Sen. epist. 63.2.
Denn niemand ist bloß seinetwegen unglücklich und auch in der Trauer riskiert man, dem Hochmut zu verfallen. Ich glaube, dass dieser Stelle keine Übersetzung gerecht werden kann, und man sollte Senecas Wortwahl genauer unter die Lupe nehmen. Hier geht es nämlich nicht um den unvermeidbaren Schmerz, den alle gezwungenermaßen empfinden und zurecht empfinden, wenn ein geliebter Mensch verscheidet, – also nicht um dolor oder maestitia –, sondern um tristitia. Maestitia ist die nach innen gerichtete Empfindung, während tristitia eher den Fokus auf die äußeren Anzeichen des Schmerzes setzt:
Maestitia cordis est, tristitia vultus. Maestum ergo vel maerentem animo dicimus, tristem aspectu. Item maestitia temporis est et fit aliquando ex aliquo accidenti dolore; tristitia vero vitium naturae perpetuum est.
Isid. Diff. 568, zit. n. Forcellini (Rechtschreibung angepasst).
Eine schöne Stelle, um uns vor Augen zu führen, wie unterschiedlich sich Trauer gestalten oder zeigen kann, bietet Cicero in der Rede Pro Milone, in dem das Aneinanderreihen von Meronymen von trauern ein beeindruckendes Bild verschafft:
P. Clodi mortem aequo animo ferre nemo potest. Luget senatus, maeret equester ordo, tota civitas confecta senio est, squalent municipia, adflictantur coloniae, agri denique ipsi tam beneficum, tam salutarem, tam mansuetum civem desiderant.
Cic. Mil. 8.
All diese Ausdrücke können ‚trauern‘ bedeuten, doch jeder hat seine eigene Färbung.
Lugēre heißt zwar ‚einen Verstorbenen beweinen‘, bezieht sich aber insbesondere auf äußere Trauerzeichen im Sinne von ‚luctus et doloris insigna prae se ferre‘ (Forcellini, s. v. lugere) wie dunkle Kleidung, einen Trauerflor u. ä. Forcellini fasst zusammen mit ‚dolere cum habitus mutatione‘.
Maerēre bezieht sich, wie wir bereits bei Isidor nachgelesen haben, auf einen inneren Zustand: ‚animo dolēre‘.
Aliqua re confectus heißt ‚von etwas erschöpft, geschwächt‘, z. B. senectute confectus, vulneribus confectus. Senium ist eigentlich die ‚Altersschwäche‘, senio confici ist aber an dieser Stelle im übertragenen Sinne zu verstehen: Die Trauer um den hingegangen Clodius ist so groß, dass sie die Menschen abnutzt und dafür sorgt, dass sie sozusagen vorzeitig Zeichen der Altersschwäche zeigen.
Squalēre bedeutet ‚dermaßen untröstlich sein, dass man die eigene Körperpflege vernachlässigt‘. Es ist also eine der Formen äußerer Trauer.
Afflictārī bezeichnet die stärkste Form der äußeren Trauer, die sich auch im Ringen der Hände, Schlagen der Brust u. ä. zeigt. Cicero erläutert in den Tusculanen, adflictatio sei aegritudo cum vexatione corporis (Cic. Tusc. 4.18).
Dēsīderāre kann hier wohl am besten mit vermissen übersetzt werden.
Lesen Sie auch: Der Weise ist frei von Leidenschaften (Tusc. 4).
Eo, unde sumus digressi, revertamur: Seneca tadelt nicht die Trauer per se, sondern nur die übertriebenen Formen der äußeren Trauer, die zur Schau gestellte Klage.
An Verstorbene zurückdenken
Sollen wir den verstorbenen Freund dann vergessen? – ‚Quid ergo?‘ inquis ‚obliviscar amici?‘ Natürlich nicht. Seneca warnt jedoch davor, seine Erinnerung zu sehr mit dem Schmerz zu verbinden, denn das wird nur dafür sorgen, dass sie kurzlebig wird. Mit der Zeit werden wir uns naturgemäß zufällig einer schönen Sache erfreuen und den Schmerz – und somit unseren Freund – vergessen. Denn die Zeit heilt bekanntermaßen alle Wunden. Auch wenn wir versuchen, Wächter unseres Schmerzes zu bleiben, entgleitet er uns irgendwann unbemerkt:
Nunc ipse custodis dolorem tuum; sed custodienti quoque elabitur.
Sen. epist. 63.3.
Man soll vielmehr dafür sorgen, dass die Erinnerung an die Verstorbenen glücklich bleibt, denn niemand kehrt gerne zu qualvollen Erinnerungen zurück. Wer seinen Lieben ein schmerzvolles Andenken bewahrt, wird immer gekränkt an sie zurückdenken; und in dieser Bitterkeit liegt leider ein gewisses Vergnügen oder gar Stolz.
Seneca rät zu einer amicorum defunctorum cogitatio dulcis et blanda (epist. 63.7): süß und zärtlich, weil nicht durch übermäßigen Schmerz korrumpiert. Er sei sich zeit ihres Lebens bewusst gewesen, dass sie eines Tages sterben würden, und ertrage nun ihr Fehlen, als ob sie noch da wären:
Habui enim illos tamquam amissurus, amisi tamquam habeam.
Sen. epist. 63.7.
Sich um Lebende kümmern
Ich fürchte, dass jedem zu Zeiten der Trauer irgendwann die Reue aufkommt, man hätte den lieben Menschen, den man nun so untröstlich vermisst, mehr schätzen, mehr sehen, mehr lieben können, während man noch gekonnt hätte. Darauf soll unser Aufmerksamkeit gerichtet werden und nicht auf das äußere Zeigen von einem Schmerz, das die Erinnerung an einen geliebten Freund nur verderben kann.
Auch die noch Lebenden werden nicht für immer da sein; wenn wir uns gänzlich der Trauer um einen Verstorbenen hingeben und es zehrend bereuen, dass wir ihn zeit seines Lebens nicht hinreichend gewürdigt haben, begehen wir doch den gleichen Fehler noch einmal gegenüber denen, die noch da sind.
Ideo amicis avide fruamur quia quamdiu contingere hoc possit incertum est. Cogitemus quam saepe illos reliquerimus in aliquam peregrinationem longinquam exituri, quam saepe eodem morantes loco non viderimus: intellegemus plus nos temporis in vivis perdidisse.
Sen. epist. 63.8.
Allzu einfach scheint es mir leider Gottes, dass wir an die Stelle derer geraten, die den beißenden Vorwurf Senecas verdienen:
Feras autem hos qui neglegentissime amicos habent, miserrime lugent, nec amant quemquam nisi perdiderunt?
Sen. epist. 63.9.
Wir vernachlässigen oft unsere Mitmenschen, sind schlechte Freunde und scheinen nur diejenigen zu lieben, die wir nicht mehr haben oder nicht haben können. Wenn ein Freund stirbt, ist dies kein guter Grund, die anderen zu vernachlässigen. Und wenn wir keine anderen Freunde haben, dann sollten wir statt den Verlust (oder vielmehr uns selbst) zu beweinen, endlich welche suchen:
Si quis despoliatus amissa unica tunica complorare se malit quam circumspicere quomodo frigus effugiat et aliquid inveniat quo tegat scapulas, nonne tibi videatur stultissimus? Quem amabas extulisti: quaere quem ames. Satius est amicum reparare quam flere.
Sen. epist. 63.11.
Das Trauerjahr
Obwohl pertritum, wiederholt es Seneca noch einmal: finem dolendi etiam qui consilio non fecerat tempore invenit – selbst wenn wir nicht wollen, wird die Zeit dafür sorgen, dass wir irgendwann nur einen dumpfen Schmerz verspüren.
Das sog. Trauerjahr sei nicht dafür da, dass Frauen so lange trauern sollen, sondern dass sie vermeiden sollen, länger als ein Jahr zu trauern. Männern dagegen gezieme sich gar keine Trauerzeit.
An dieser Stelle kritisiert Seneca das Verhalten von manchen Frauen, die sich gänzlich und über eine allzu lange Zeit hinweg der Trauer hingeben, und zwar so, dass sie ständig so aussehen, als ob sie gerade von der Bestattung zurückkämen.
Quam tamen mihi ex illis mulierculis dabis vix retractis a rogo, vix a cadavere revulsis, cui lacrimae in totum mensem duraverint? Nulla res citius in odium venit quam dolor, qui recens consolatorem invenit et aliquos ad se adducit, inveteratus vero deridetur, nec immerito; aut enim simulatus aut stultus est.
Sen. epist. 63.13.
Ich stimme Seneca zu, dass dieses Verhalten öfter bei Frauen als bei Männern zu beobachten ist; dennoch halte ich daran fest, dass da kein Kausalitäts-, sondern vielmehr ein Korrelationsverhältnis besteht. Warum? Zum einen war und ist es eine Frage der Sozialisation. Von Frauen wird erwartet, dass sie ihre Affekte zeigen, vielleicht sogar, dass die mehr Gefühle empfinden, obwohl dies nun wirklich absurd ist. Offensichtlich war es in der Antike auch so, wie man an der Sitte sieht, praeficae bei Leichenbegängnissen einzusetzen: Frauen sollten ihre Affekte zeigen, von Männern ist dies weniger erwünscht. Weiter hatten Frauen bis vor Kurzem und weltweit betrachtet größtenteils noch heute als Hauptaufgabe, für ihre Mitmenschen in der Familie zu sorgen. Man muss sich also vorstellen, dass der Verlust eines Mitmenschen für sie nicht nur mit Trauer verbunden war, sondern das gleichzeitige Hinscheiden just ihrer Hauptbeschäftigung und ihres Lebenssinns bedeutete. Das unvermeidliche Gefühl der Leere muss doch geradezu überwältigend werden, wenn der Verlust gleichzeitig die Welt der Affekte und die lebenssinnstiftenden Aufgaben betrifft und dabei die zuweilen rettende Chance der Ablenkung durch Arbeit verweigert! Denn auch ihre Arbeit zwingt sie zur schmerzvollen Erinnerung. Schließlich: Über welche Trostmittel verfügen Menschen in solchen schweren Lebenslagen? Freundschaft und Philosophie. Beide Bereiche, die in der Antike Frauen grundsätzlich verweigert bleiben.
Liest man antike Tragödien, haben männliche Protagonisten nämlich immer den besten Freund als Sidekick, Frauen die Amme. Freundschaft in der Antike ist Männersache, u. a. weil sie gemeinsame studia voraussetzt.
Und um hoffen zu dürfen, dass wir durch Weisheit supra fortunam elati sumus, bedarf es nun mal nicht nur eines hohen ingenium, sondern vor allem der Gelehrsamkeit, von der Frauen zu Zeiten Senecas nicht einmal träumen durften.
Laelius im bereits zitierten Dialog De amicitia gibt zu, dass er trauern werde, er verfüge jedoch eben dank seiner philosophischen Bildung über Trostmittel. Es ist eine philosophische Sicht auf die Welt, die es ihm ermöglicht zu erkennen, dass es für den verstorbenen Scipio nichts Schlimmes sein kann, dass er nun tot ist:
Moveor enim tali amico orbatus qualis, ut arbitror, nemo umquam erit, ut confirmare possum, nemo certe fuit; sed non egeo medicina, me ipse consolor et maxime illo solacio quod eo errore careo quo amicorum decessu plerique angi solent. Nihil mali accidisse Scipioni puto, mihi accidit, si quid accidit; suis autem incommodis graviter angi non amicum sed se ipsum amantis est.
Cic. Lael. 10.
Freundschaft und Philosophie verflechten sich unzertrennlich. Das unermessliche Glück dieses Trosts haben Frauen in westlichen Ländern erst seit wenigen Jahrzehnten, denn:
id in quo est omnis vis amicitiae, voluntatum, studiorum, sententiarum summa consensio
Cic. Lael. 15.
kann nur von gelehrten Menschen erreicht werden.
Ungerechtigkeit des Schicksals
Wie dem auch sei, bleibt der Rat gültig, dass man sich am besten nicht zu ostentativ und nicht zu lange der Trauer hingeben sollte. Den Fehler sei auch Seneca passiert, als er nach dem Tod eines viel jüngeren Freunds nicht klar kommen konnte. Niemals hätte er gedacht, dass er seinen Freund überleben würde – tamquam ordinem fata servarent! (63.14). Das Schicksal ist aber unvorhersehbar und der Tod folgt keiner chronologischen Reihenfolge. Man muss stets bedenken, dass alles vergänglich ist, und zwar nach unsicherem Gesetz vergänglich. Man sollte lieber den Tod so betrachten, als jemand vor uns den Ort im Jenseits erreichen würde, zu dem wir irgendwann auch gelangen werden.
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