Wenn deutsche Muttersprachler merken, dass ich ganz gut Latein kann, kommt oft der Spruch: „Aber du bist ja Italienerin…“
Ich gebe heute mein Bestes, meine grenzlose Empörung gegenüber dieser Aussage in Schranken zu halten und ernst zu überlegen, inwieweit Italienischmuttersprachler gegenüber Deutschen einen Vorteil beim Lateinlernen haben. Ist es für Italophone wirklich leicht, Latein zu lernen? Die Frage ist nämlich völlig berechtigt.
Allgemein kann man schon sagen, dass es weniger aufwendig ist, eine Sprache zu lernen, die mit der eigenen Muttersprache oder mit Fremdsprachen, die man bereits beherrscht, eng verwandt und daher ihr ähnlich ist. Gerade was rezeptive Kenntnisse angeht, kann man sich bei ähnlichen Sprachen viel schneller gute Kenntnisse aneignen als bei ganz entfernten Sprachen. So verstehe ich im Japanischen kaum ein Wort, obwohl ich es zwei Jahre lang gelernt habe, im Spanischen dank des Italienischen, im Niederländischen dank des Deutschen aber schon sehr viel, ohne dass ich dafür einen Finger krumm machen musste. Das ist die Erkenntnis, aus der interkomprehensionsdidaktische Ansätze Nutzen ziehen. Zum Beispiel versucht man mit den sog. sieben Sieben (EuroComRom, EuroComGerm, EuroComSlav) das Sprachbewusstsein so zu stärken, dass Ähnlichkeiten zwischen Sprachen einer Sprachfamilie gezielt zum Verständnis unbekannter Sprachen genutzt werden, und zwar nicht nur auf lexikalischer, sondern auf allen sprachlichen Ebenen. Ein passives Grundverständnis und sehr gute produktive Kenntnisse sind dann ja zwei Paar Schuhe.
Aber zurück zur Frage: Wo haben Italiener Vorteile beim Lateinlernen?
Lexik?
Dickes JA!
Das Italienische und das Lateinische haben ein in vielerlei Hinsicht sehr ähnliches Vokabular: amor – amore, selpulcrum – sepolcro, currere – correre. Die Liste könnte man beliebig lange ausführen. Aufgrund dieser Ähnlichkeiten dürften Italiener auch deutlich weniger Schwierigkeit damit haben, ähnliche Wörter auseinanderzuhalten, die bei deutschsprachigen Lernern zu Verwechslungen führen können, wie vorax und verax oder tumidus und timidus, sofern sie einen ausreichend großen Wortschatz in der eigenen Muttersprache haben. Das ist definitiv ein riesiger Vorteil, den Italophone beim Erlernen des Lateinischen haben.
NEIN!
Wo Sprachen – sei es aufgrund von Verwandtschaft, Entlehnungen, parallelen Entwicklungen oder reinem Zufall – ähnlich sind, muss man sich immer vor sog. falschen Freunden hüten. Piscina, salire, mittere, caballus, homo, saltare, casa und und und. Es gibt gaaaanz viele Wörter, die auf dem Weg vom (Vulgär-)Lateinischen ins Italienische einen Bedeutungswandel erfahren und sich so zu falschen Freunden entwickelt haben. Da müssen Italophone besonders aufpassen.
JEIN!
Manche Ähnlichkeiten auf lexikalischer Ebene sind ein bisschen versteckt. Zum Beispiel heißt Schaf auf Latein ja ovis, is f., auf Italienisch pecora. Das italienische Wort hat sich also durch Bedeutungsverengung aus dem Neutrum Plural des Worts pecus ‚Kleinvieh‘ entwickelt, das aufgrund der Endung -a analogisch als Femininum uminterpretiert worden ist. Dennoch finden wir die Wurzel von ovis noch in manchen Wörtern als sog. voce dotta, z. B.: ovile, ovino. Ähnlich it. cavallo < lat. caballum (aus dem Akkusativ!), wobei aber Wörter mit der Wurzel von equus existieren, wie equino, equestre, equitazione. Denkt man nur an pecora oder cavallo, können einem Fehler unterlaufen; denkt man ein bisschen weiter, findet man schnell weitere Parallele.
NEIN!
Genau so schwer für Italiener wie für alle anderen ist es, gründliche aktive Kenntnisse aufzubauen, die richtigen Wörter zu finden und so zu sprechen und schreiben, dass es sich halbwegs nach klassischem Latein anhört. Es gibt Wörter, die zwar im Lateinischen belegt sind, die aber nicht so verwendet wurden, wie wir sie heute benutzen, z. B.: Es ist möglich – È possibile – Fieri potest! Da macht man als Italiener potentiell genau denselben Fehler wie ein Deutscher.
Außerdem gibt es im Lateinischen hochfrequente, polysemische Wörter, wie petere, condere oder ratio, die für Italiener keineswegs einfacher sind als für alle anderen.
Zudem müssen auch Italiener Phraseologismen auswendig lernen, denn ohne fundierte Kenntnisse über häufig vorkommende Wortverbindungen kommt man mit dem Textverständnis oft nicht gut, mit dem Schreiben auf Latein bzw. Übersetzen ins Lateinische gar nicht weiter.
Schließlich gibt es Wörter, die sowohl inhaltsseitlich als auch ausdrucksseitlich ganz ähnlich sind, die jedoch sich in der Verwendung stark unterscheiden und dadurch regelrecht zu Fehlern verleiten, wie das Pärchen incapax – incapace, oder das Substantiv caterva, das im Italienischen einerseits die ursprüngliche Bedeutung ‚(barbarische) Truppe‘ beibehalten hat, andererseits aber eine Bedeutungserweiterung durchgemacht hat, sodass wir etwa una caterva di roba sagen können, nicht aber auf Latein caterva rerum. Fies.
Flexionsmorphologie?
JA!
Da sich italienische Adjektive und Substantive lautgesetzlich aus dem lateinischen Akkusativ entwickelt haben, haben Italiener eine große Hilfe beim Erlernen der Stämme bei der konsonantischen und der i-Deklination. Wir müssen eher auf die Nominative aufpassen, der Rest kommt meistens von alleine.
Beispiele:
- dotem > dote: Den Stamm kennen wir schon, wir müssen nur lernen, dass der Nominativ dos heißt.
- laudem > lode (völlig regelmäßig mit m-Schwund und Monophthongierung au > o); dass der Nominativ laus heißt, müssen wir zwar lernen, aber wir haben eine Riesenerleichterung bei der Stammbildung.
- felicem > felice: Genau parallel läuft es natürlich auch bei den Adjektiven.
JA!
In manchen Fällen ist das Genus im Lateinischen ja ziemlich transparent. In der ersten und zweiten Deklination weist -us meist auf Maskulina, -a auf Feminina, -um auf Neutra. Ausnahmen zu diesen und ähnlichen Regelmäßigkeiten – wie agricola, pirata oder Baumbezeichnungen – müssen auch Italophone genauso lernen. Dennoch haben wir beim Erlernen der Genera von Substantiven definitiv Pluspunkte v. a. hinsichtlich der dritten Deklination.
Bekanntermaßen hat das Italienische kein Neutrum. Das Neutrum ist aber im Lateinischen anhand des Plurals auf -a systemintern immer leicht zu identifizieren. Zwischen Feminina und Maskulina können wir Italiener durch Sprachvergleich in aller Regel meist automatisch richtig unterscheiden, z. B. clavis, is f. – la chiave vs. panis, is m. – il pane. Praktisch, ne?
NEIN!
Aber Vorsicht! Kaum fühlt man sich sicher, schon entdeckt man Substantive, deren Genus sich geändert hat, wie cortex, ticis m. – la corteccia und fons, tis m. – la fonte.
JEIN!
Bringt man nicht nur gute Italienischkenntnisse, sondern auch ein paar sprachgeschichtliche Kenntnisse mit, kann man natürlich noch mehr erschließen. So beruhen zum Beispiel nicht wenige Unregelmäßigkeiten der italienischen Substantivdeklination auf dem Zusammenfall von den Genera Maskulinum und Neutrum. Überall dort, wo wir noch ein Plural auf -a finden, können wir davon ausgehen, dass die lateinischen Entsprechungen Neutra waren, wie bei le braccia, le uova, le ginocchia, le ossa. Offensichtlich konnten Italienischsprecher nichts mehr mit diesem -a anfangen und haben die Pluralformen als Feminina uminterpretiert. Während in den meisten Fällen die Pluralformen analogisch angepasst worden sind (i sepolcri), hat sich manchmal die ursprüngliche Form gehalten, sei es weil sie hochfrequent war, sei es weil sie neben der „normalen“, d. h. neben der analogisch gebildeten Form existiert, oft mit Bedeutungsunterscheidung, wie bei le braccia (vom Körper) und i bracci (z. B. di una prigione).
JEIN!
Was die Erschließung von Verben durch Sprachvergleich angeht, ist es im Italienischen – abgesehen von den Infinitiven, die ihre Lautgestalt ganz oder ähnlich beibehalten haben, wie für andere moderne Sprachen so, dass die Ähnlichkeiten eher beim Supinstamm als bei den anderen Stammformen ersichtlich werden: confiteor, confessus sum, confiteri (vgl. confessare, Konfession).
NEIN!
An den Konjugationsklassen hat sich ins Italienische hin viel getan. Von den 5, die es im Lateinischen gab, sind 3 italienische geworden. Daher ist viel zusammengefallen, es hat Konjugationsklassenwechsel gegeben und es hat sich kurzum ein großes Chaos ergeben, sodass Italiener, ohne zu lernen, genau so wenig Ahnung wie Deutsche davon haben, wann ein Infinitiv etwa ein kurzes e (konsonantische oder gemischte Koniugation) oder ein langes e (e-Konjugation) hat. Kennt man it. ammonire, mordere, ridere, hat man auf semantischer Ebene einen Vorteil, am Auswendiglernen der Stammformen führt aber auch für uns kein Weg vorbei!
JEIN!
Das lateinische Perfekt hat sich zum italienischen passato remoto entwickelt und das ist oft erkennbar: lat. mitto, misi – it. metto, misi. Leider hat sich auch hier viel verändert, denn die Perfektbildungen haben sich ins Italienische hin nicht alle gehalten – es gibt z. B. kein Reduplikations- und u-Perfekt – und es hat unzählige analogische Bildungen gegeben, die also nicht mehr mit den lateinischen übereinstimmen und beim Lernen der Stammformen eher irreführend sind.
Beispiele:
- Reduplikationsperfekt: momordi > morsi
- Stammperfekt: respondi > risposi
- u-Perfekt: potui > potei/potetti
Alle v-Perfektbildungen sind außerdem für Italophone sehr gewöhnungsbedürftig, weil sie so verflixt ähnlich wie italienische Imperfektformen aussehen:
laudavi | lodai |
laudabam | lodavo |
Ich musste irgendwann lernen, dass kurzes, intervokalisches /b/ zu /v/ wird, um mich an einfache Lautgesetze haltend diesen Gewöhungsprozess zu beschleunigen. Es hat aber wirklich lange gedauert, bis ich die v-Perfektformen auf Anhieb als solche gelesen habe.
JA!
Auf der anderen Seite ist es schon eine große Hilfe die Aspektunterscheidung zwischen Imperfekt und Perfekt bereits zu kennen. Bis auf den konativen Aspekt überlappen sich die Verwendungen beinahe vollständig.
NEIN!
Es gibt im Lateinischen synthetische Verbformen, die im Italienischen analytisch gebildet werden; es existieren aber gemeinerweise noch ganz ähnliche Verbformen, die nicht das Gleiche bedeuten. Es gibt sozusagen falsche Freunde in Bezug auf die Verbformen, zum Beispiel
laudor | sono lodato |
laudatus sum | sono stato lodato / fui lodato |
Mir ist lange Zeit immer wieder passiert, dass ich laudatus sum anstatt des Präsens verwendet habe und für das Perfekt laudatus fui, was natürlich Murks ist.
Worbildungsmorphologie?
JAIN!
Viele Verben haben sich im Italienischen nur oder primär in der präfigierten (monere – ammonire) oder intensivierten Form (canere – cantare) erhalten, während sie im Lateinischen auch als Simplizia vorkommen. Das muss man erst kapieren, damit man beim Vokabellernen aus diesem Zusammenhang Nutzen zieht.
NEIN!
Wie Deutsche müssen auch Italophone Verbpräfixe wie ad-, ob-, con- usw. lernen, um leichter Vokabeln memorieren zu können. Es dürfte deutschsprachigen Lernern sogar einfach fallen, solche Präfixverben zu lernen, da man im Deutschen unter diesem Aspekt ähnlich verfährt wie im Lateinischen.
Syntax?
JEIN!
Einige syntaktische Phänomene, die im Lateinischen Schwierigkeiten verursachen können, haben Entsprechungen im Italienischen, sodass es für Italophone leichter sein dürfte, sich zurechtzufinden. Dazu zählen das Participium coniunctum, der Ablativus absolutus und die Verwendung des Konjunktivs in Relativsätzen zum Ausdruck eines Nebensinns.
NEIN!
Typologisch gesehen befinden sich Latein, Deutsch und Italienisch irgendwo zwischen einem synthetischen und einem analytischen Sprachbau. Unter den drei Sprachen ist das Lateinische definitiv diejenige, die die meisten synthetischen Strukturen aufweist. Aus diesem Grund ist es sowohl für Deutsch- als auch für Italienischsprecher gleich schwer zu lernen, wann etwa der bloße Ablativ, wann aber Präpositionen und welche verwendet werden sollten.
NEIN!
Bei anderen Syntaxphänomenen haben Italiener keinerlei Vorteile. Zum Beispiel stellen die Zeitabfolge bei manchen temporalen Nebensätzen, AcI und NcI bzw. die Verteilung von ut, quod, Infinitivkonstruktionen u. ä., also Fragen der Valenz allgemein Italophone vor ähnliche Schwierigkeiten wie andere Lerner auch.
Genau so verhält es sich mit Präpositionalattributen, die im Italienischen wie im Deutschen sehr verbreitet sind, im Lateinischen so gut wie gar nicht existieren, was die Verwendung eines sog. Stützpartizips notwendig macht. (Dass man von Stützpartizipien spricht, macht aus lateinischer Sicht nicht viel Sinn, aber es ist eine gute Hilfe, um daran zu denken, Präpositionalphrasen von einem Verb abhängen zu lassen.)
Phonetik und Phonologie?
NEIN!
Der Bereich der Aussprache ist bei antiken Sprachen nicht so zentral wie bei modernen Fremdsprachen. Das Lateinische stellt außerdem weder Italienern noch Deutschen große Schwierigkeiten auf phonetischer und phonologischer Ebene, zumal es verschiedene, aus unterschiedlichen Gründen meines Erachtens gleichberechtigte Aussprachtraditionen gibt.
Der einzige wirklich schwierige Aspekt betrifft den Wortakzent, und der steckt auch für uns Italophone voller Tücken. Dazu gibt es eine kleine Serie auf dem Blog: Hier geht es zum ersten Wortakzentbeitrag.
Schluss
Ob Italiener Vorteile beim Lateinlernen haben? Klar! Bei Fragen der Interkomprehension, also wenn es darum geht, sich Latein anhand Vorkenntnisse zu erschließen, stellen Italienischkenntnisse eine riesige Hilfe dar, gerade wenn sie mit einem gewissen sprachhistorischen Verständnis gepaart sind. Übt man sich im Sprachvergleich, wird man schnell auf allen sprachlichen Ebenen Italienischkenntnisse gewinnbringend zum Erlernen des Lateinischen einsetzen können.
ABER: Beherrscht jemand eine Fremdsprache sehr gut – sei es nur rezeptiv, sei es auch produktiv –, heißt es, dass er schlicht und ergreifend viel gelernt hat. Beim Sprachenlernen schenkt einem niemand was. Auch Italienern nicht. Andersherum wird ein deutschsprachiger Lerner tausendmal besser als ein Italienischsprecher in Latein werden können, wenn er mehr dafür lernt. (Wer hätte das gedacht?! 😉)
Fleiß schlägt Vorteil. Big times!
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