Tacitus ist gewöhnungsbedürftig und, ja, er macht das extra. Diejenigen von Ihnen, die ihre ersten Versuche mit der Tacituslektüre wagen, werden es mir noch nicht glauben, aber: Hat man sich einmal an seinen Satzbau, seinen Stil und sein Vokabular gewöhnt, kann Tacitus (mirabile dictu) schnell ein durchaus spannender und lesenswerter Autor werden.

Bei Tacitus und mir hat es jedenfalls eine gute Weile gedauert, bis es gefunkt hat, aber irgendwann war es so weit. Auf diesem längeren Weg habe ich Einiges erarbeitet, von dem ich glaube, dass es allen, die sich mit diesem Autor beschäftigen wollen, von Nutzen sein kann. In diesem und einem späteren Beitrag bekommen Sie Hilfen, Tipps und Materialien, die Ihnen den Einstieg in die Tacituslektüre und -übersetzung erleichtern werden.

Heute fangen wir mit allgemeinen Anmerkungen zum taciteischen Stil an, um uns in einem späteren Beitrag zahlreiche Textbeispiele und hilfreiche Materialien zusammen anzuschauen. Als einsteigende Lektüre ist auch diese kurze Monographie von Stephan Schmal empfehlenswert:

Von der Republik in die Kaiserzeit: Rhetorik im Umbruch

In der spätrepublikanischen Zeit spielten rhetorische Kenntnisse und Fertigkeiten deswegen eine ganz zentrale Rolle, weil sie römischen Bürgern der oberen Schichten sowohl in der Jurisprudenz als auch – noch wichtiger – in der Politik es ermöglichten, sich durchzusetzen, die eigenen Ideen zu verbreiten und die eigenen Interessen zu verfolgen. Nur wer klar und überzeugend sprechen und schreiben konnte, war von Erfolg gekrönt.

Obwohl sich die Autoren der Zeit nicht immer positiv über die Rhetorik aussprechen und gerade die stoisch geprägten den Vorrang moralischer Werte vor der Redekunst betonen, kann man nicht leugnen, dass auch ein vir bonus dicendi peritus (Quint. inst. 12.1,1) dank seiner Kenntnisse und Fähigkeiten Macht anstreben konnte.

Um Zuhörer überzeugen zu können, waren bestimmte virtutes orationis zielführend und erwünscht, etwa die brevitas und die claritas oder einen zum Ton passenden ornatus. Redner und Schriftsteller versuchten mit allen Mitteln, die Ohren ihrer Zuhörer geschmeidig zu schmeicheln und die Saiten der Gemüter in ihrem Sinne schwingen zu lassen. Bei den besten Prosaautoren der Zeit gipfeln diese Bestrebungen in einen klaren, harmonischen, eleganten Stil, der seinesgleichen sucht.

In der Kaiserzeit verliert die Rhetorik als Mittel zum Machterwerb an Bedeutung, da sich die Politik nicht mehr in gleichem Umfang auf dem Forum spielt, liegt die Entscheidungsgewalt doch in den Händen eines Alleinherrschers. Rhetorik ist nicht mehr primär da, um Senatoren und Massen vom eigenen Standpunkt zu überzeugen, sodass einige Forscher von einer „Entpolitisierung der Rhetorik“ (Ueding 2005, 46) in der Kaiserzeit sprechen. Obwohl die Redekunst auch in dieser Zeit konstitutiver Bestandteil der Bildung römischer Männer der Oberschicht bleibt, ist ihr Wirkungsradius geringer als in republikanischer Zeit oder – vielleicht besser – muss subtiler sein, wenn von offenen politischen Stellungnahmen absehen werden muss.

Diese Entwicklungen erlaubten, dass sich die Rhetorik unter vielen Gesichtspunkten von einem gewissen, früheren Pragmatismus befreien konnte. Den „Bedeutungsverlust […] kompensierte sie […] durch eine Vorliebe für überraschende Satzwendungen, für ausgefallenes, manchmal auch archaisches Vokabular und für dichterische Wendungen, für ein Verwischen der Grenzen zwischen Poesie und Prosa“ (Schmal 2016, 89).

Und nun zu unserem Tacitus

Tacitus agiert in dieser Zeit und ist ein deutlicher Vertreter dieser ästhetischen Neuerungen, was zu einem unverkennbaren, äußerst eigenwilligen Stil führt, der nichts dem Zufall überlässt und durch gewollte und meisterhaft eingeflochtene Ecken und Kanten den Leser immer wieder stützen lässt.

Insbesondere muss man m. E. folgende Merkmale berücksichtigen, um mit der Lektüre klar kommen zu können:

brevitas

Mit der in republikanischer Zeit bereits gepriesenen und angestrebten brevitas nimmt es Tacitus gaaanz ernst: Einerseits lässt er alles weg, was nur geht, um sich knapp, ja verkürzt auszudrücken; andererseits verfolgt er mit jedem Wort, das es in den Text schafft, eine besondere Intention. Das erschwert sowohl die Textdekodierung, denn es ist manchmal schwierig nachzuvollziehen, was gemeint ist, als auch die Textrekodierung, weil man diesen knappen Stil im Deutschen nur sehr bedingt nachahmen kann.

Hier ein Beispiel für einen sehr kondensierten Satz mit textnaher Übersetzung:

Satzbau und Inkonnizität

Liest man Ciceros lange, harmonische, oft stark hypotaktische Perioden, sieht man leicht ein, dass Text von texere ‚weben‘, ‚flechten‘ kommt. Denn, selbst wenn man sich nur die Konnektoren anschaut, hat man ein glasklares Geflecht an logisch verknüpften Satzteilen, das auch ohne Inhalt seinen argumentativen Aufbau verrät.

In dieser Passage kann man sich allein anhand von Konnektoren, Relativpronomina und wenig mehr jede Menge erschließen. Das Ganze ist mit sed eingeleitet und ist daher wohl als Gegenargument zum Vorhergesagten zu verstehen. Die konjunktivischen cum-Nebensätze am Satzanfang sind wahrscheinlich temporal, wobei der kausale Akzent von cum mitschwingt. Alles, was syntaktisch auf einer Ebene ist, koordiniert Cicero brav mit der gleichen Konjunktion, damit man bloß nichts verwechseln kann. Steigt man minimal in die lexikalische Ebene ein, sieht man auf Anhieb, dass beinahe jede Konstituente ein antithetisches Pendant hat: ad te – (ego) volui; hoc temporeposthac; aetati tuaeauctoritati meae; publicisprivatis; forensibusdomesticis; tecumcum altero; colendoneglegendo; honestasturpitudo. Der Aufbau ist linear und meist strikt parallel. Nulla vitae pars wird angekündigt und dann kommen – siehe da! – alle Lebensbereiche aufgezählt. Wenn ich es mir erlauben darf: Es ist alles so perfekt, dass es schon fast eklig ist! Und das ist auch keine besonders auffällige Stelle (ich habe irgendwas at random aus dem Bücherregal gezogen), sondern Cicero schreibt wirklich meistens so.

Tacitus tickt ganz anders. Von Tacitus braucht man nicht zu erwarten, dass er uns wie Cicero durch aussichtsreiche, sich sanft schlängelnde syntaktische Wanderwege an der Hand führt. Der oft parataktische Satzbau ist arm an Konnektoren und dort, wo welche zu finden sind, werden nach sallustischem Vorbild Parallelismen ausdrücklich vermieden, wie bei den Konjunktionen in diesem Beispiel:

Parataxe und inkonzinne Konstruktionen sind ganz typisch für das Werk Tacitus. Auch syntaktisch komplexere Sätze unterscheiden sich aber von einer cicerionanischen Periode dadurch, dass Satzglieder schroff und scheinbar willkürlich aneinandergereiht werden, ein Verfahren, das an Thukydides denken lässt.

Wir sehen in diesem für die Historien verhältnismäßig langen Satz, wie Tacitus sparsamer als Cicero mit Konnektoren umgeht. Das mit velut verbundene Participium coniuntum würde man bei Cicero auch nicht unbedingt finden. Weiter scheint in eo atrocius …, quod spielen zwei Konstruktionen gleichzeitig eine Rolle: zum einen quod-Kausalsatz mit Korrelat im übergeordneten Satz, zum anderen eo mit Komparativ. Der Kausalsatz bietet wiederum zwei Gründe, einen negierten und einen affirmativen, aber Tacitus vermeidet hier gezielt einen parallelen Aufbau von non labore et opere fessae und medio diei exarserant, obwohl sich die syntaktischen Einheiten logisch auf derselben Ebene befinden. Einerseits haben wir im ersten Teil ein verkürztes Prädikat (’nicht weil von Mühe und Arbeit ermattet‘). Andererseits sind die Ablative nicht parallel konstruiert: zwei Konstituenten vs. eine, koordinierte Substantive vs. Adjektiv mit attributivem Genitiv, Ablativus causae vs. Ablativus temporis. Außerdem würden Studierende medio diei in der Stilübung schreiben, würden die Dozenten den „Barbarismus“ zumindest unterschlängeln und zum normaleren medio die raten. Schließlich könnte an dieser Stelle der Satz vorbei sein, aber nein! Da klatscht unser Cornelius einen Ablativus absolutus (vulgatis epistulis) dahin, der zu allem Überdruss durch einen Relativsatz erweitert ist. Was würde Cicero wohl dazu sagen?!

Wortwahl

Die disharmonischen Auffälligkeiten, die wir auf syntaktischer Ebene finden, lassen sich auch auf der Ebene der Lexik feststellen.

Erstens kommen Wörter oft nicht in ihrer Grundbedeutung vor; für eine Klausurübersetzung ohne Wörterbuch muss man sich oft auf den Kontext einlassen können, um das passendste Äquivalent aussuchen zu können. Beim Übersetzen mit Wörterbuch werden Sie immer wieder mal unter den passenden Bedeutungseinträgen die Angabe „(Tac.)“ vorfinden.

Weiter entscheidet er sich gerne für altertümliche Ausdrücke, ungebräuchlichere Wörter oder seltenere Schreibweisen. Er schreibt z. B. gerne accerso für arcesso oder verwendet anstatt der üblichen Präposition usque ad lieber die viel seltenere Postposition tenus.

Schließlich muss man davor gewappnet sein, dass Phraseologismen bei Tacitus gerne in verkürzter und/oder leicht abgeänderter Form vorkommen. Ohne fundierte Kenntnisse üblicher Kollokationen und idiomatischer Wortverbindungen kann man Tacitus nicht oder nur schwer lesen. Ich erwähne ein einfaches Beispiel: Liest man in hist. 3.23 das verkürzte lateque am Satzanfang, müsste einem die Wendung longe lateque einfallen. Für solche Ergänzungen, die man eben oft vornehmen muss, ist ein ziemlich großer Wortschatz notwendig.

Manierismus

Dieser knappe, eigenwillige, schroffe Stil, bei dem jedem einzelnen Wort eine ganz bestimmte eigene Kraft zugemessen wird, hat dazu geführt, dass Tacitus ein gewisser Manierismus vorgeworfen wurde (vgl. Schmal 2016, 88). Dieser kommt auch in rhetorischen Kunstgriffen zum Ausdruck, wie in den zahlreich vorkommenden Hendiadyon (etwa vulgus et ceteros (hist. 1.25) für ‚das übrige Volk‘) oder in den unerwarteten Koordinationen von Substantiven aus grundsätzlich verschiedenen semantischen Feldern (wie beim berühmten Germania 1.1: Germania … a Sarmatis Dacisque mutuo metu ac montibus separatur). Sie zeugen oft von Ironie und Sarkasmus, Psychologisierung sowie Pessimismus gegenüber der menschlichen Moral.

Morphologie

Auch auf flexionsmorphologischer Ebene bevorzugt Tacitus Nebenformen: -ēre für -ērunt, foret für esset, quīs für quibus. Ihm scheint der Dativ besonders gut zu gefallen.

Komposition

Je nach Inhalt entspricht die Komposition in gewisser Weise den erwähnten, unerwarteten Eigenschaften taciteischer Texte. Vor allem bei den Historien (bei den Annalen kann es auch nicht schaden) lohnt es sich daher, vorab die Gliederung des Textes aufzuschreiben, weil die Schauplätze an vielen Stellen so abrupt wechseln, dass es mir jedenfalls immer wieder schwer fiel, mich zurechtzufinden.

Bei anderen Werken ist es wiederum nicht so. Zum Beispiel ist Agricola kompositionell klar strukturiert und der Dialogus besteht einfach aus drei Redepaaren. Allgemein bestehen kompositorische und stilistische Unterschiede „zwischen sermo (dem Gesprächston) und historia“ (von Albrecht 2012, 934).

Darstellung der Charaktere

Nehmen wir als Gegenbeispiel Ciceros Darstellung von Verres. Verres ist ein unter jeglichem denkbaren Gesichtspunkt verwerflicher Mensch: gierig, korrupt, rücksichtslos, grausam zu Feinden, zu Freunden betrügerisch, frevelhaft gegenüber den Göttern, kopf- und ruchlos. Seine Charakterdarstellung geht unter jedwedem Aspekt in eine ganz bestimmte Richtung.

Solch eine – for lack of a better term – flache Charakterdarstellung finden wir bei Tacitus nicht. Teilweise stark psychologisierend stellt er immer Persönlichkeiten dar, die weder nur gut noch nur schlecht sind. Das ist für den heutigen Leser, glaube ich, leichter nachzuvollziehen, mag doch Cicero uns zuweilen in seiner Schwarz-Weiß-Malerei doch fast unglaubwürdig erscheinen, und das paradoxerweise gerade wegen seiner Bemühungen, besonders überzeugende Argumente für seine Rede zu anzubringen. Tacitus ist in dieser Hinsicht viel moderner: Auch ein schlechter Feldherr kann mal eine ganz vernünftige Rede halten oder ein besonnener Mann einen Wutanfall haben.

So sind wir wieder bei unserer Ausgangsposition gelandet. Warum tickt Tacitus so? Weil er ein Kind seiner Zeit ist. Ihm kommt es oft auf eine moralische Wertung der Umstände und der Menschen an, die jedoch nicht mehr linear und klar dargestellt werden kann, wie es in republikanischer Zeit der Fall war.

Haben Sie Tacitus gelesen? Wie war oder ist Ihre Erfahrung?

Wenn Sie gerade angefangen haben, Tacitus zu lesen, und sich noch die Haare raufen, keine Bange! Mir ging es jedenfalls auch so. Ich rate Ihnen trotzdem, dass Sie sich auf die Lektüre einlassen, denn man kommt irgendwann rein und dann handelt es sich um eine sehr lohnenswerte Lektüre, die immer wieder zum Innehalten und Nachdenken, Zurückschauen und Schmunzeln, Staunen und Kopfschütteln einlädt.

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Verwendete Literatur

Alle erwähnten Werke von Tacitus und Cicero finden Sie auf www.thelatinlibrary.com.


Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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