Technologie ist toll. Ich könnte gar nicht auf meinen Rechner verzichten. Mit dem Handy, das ich mittlerweile leider beruflich brauche, habe ich ein eher konfliktträchtiges Verhältnis, weil es mir zu eindringlich ist. Es gibt auch viele andere Geräte, die ich nicht vermissen möchte, seien es die Anlage für meine Redner-Tätigkeit, seien es Mikrophone, seien es Smartboards für den Unterricht oder ab und zu sogar den Fernseher, denn zu Bridgerton kann auch ich nicht nein sagen. Ich bin in guter Gesellschaft, oder?

Wenn man mit Technologien zweckmäßig umgeht, ist es auch gar kein Problem, dass sie da sind. Ganz im Gegenteil können uns all unsere Geräte das Leben erleichtern. Die einen mehr, die anderen weniger: Nehmen Sie mir gerne mein Handy weg, aber die Waschmaschine werde ich mit dem Leben verteidigen. 🤺

Lange Rede, kurzer Sinn: Ich habe nichts gegen Technologien, Geräte, Digitalisierung oder KI.

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Ich habe sehr wohl etwas dagegen, wenn sich ein Mensch in jeder freien Minute von belanglosem Content berieseln lässt.

Kein anderes Wesen auf Erde hat die kreative Kraft des Menschen: Wir sind zu schöpferischen Tätigkeiten, nicht zum kontinuierlichen Konsum bestimmt!

Wenn man das Leben von Menschen fern von digitalen Technologien betrachtet, was finden wir?

  1. Menschen, die – ob Häuser bauen, Seile stricken, Acker bebauen, Kleider nähen, Geräte schmieden … the list goes on – irgendetwas schaffen, was vorher nicht da war;
  2. Weiter Menschen, die Aufgaben erledigen, für die man weniger schöpferische Impulse braucht, wie Material sammeln, Beeren pflücken, Wäsche waschen usw. und die man entweder alleine mit seinen Gedanken oder mit anderen Menschen zusammen erledigen kann;
  3. Menschen, die sich gänzlich der Pflege anderer widmen – Mütter, Heiler, Ammen usw. – oder die zum Handeln mit anderen interagieren;
  4. Menschen, die in der privilegierten Lage leben, keine der oberen Tätigkeiten übernehmen zu müssen, und die sich also dem intellektuellen Austausch und den Studien widmen.

Ohne Digitalisierung sind Menschen also entweder damit beschäftigt, etwas zu lernen und für schöpferische Zwecke umzusetzen, und/oder damit, untereinander zu netzwerken. In beiden Fällen werden sie ständig mit ihren Gedanken konfrontiert: Manchmal ist man für längere Zeiten mit den eigenen Gedanken alleine, manchmal tauchen die Gedanken im Umgang mit den Mitmenschen an die Oberfläche.

Diese leeren Zeiten brauchen wir meiner Meinung nach für eine gesunde Psyche, denn es sind neben dem Schlaf die Zeiten, in denen man den eigenen Gefühlen und Ideen in die Augen schauen kann, um sie zu verarbeiten. Ganz viele von den Problemen unserer Gesellschaft scheinen davon zu kommen, dass man mit dem, was ist, nicht klar wird. Wir wollen uns verändern, ablenken, auf instagramfähige Weise darstellen. Dabei werden unsere Wünsche durch Werbung und Social Media immer stärker fremdbestimmt manipuliert.

Verdrängung, Ablenkung und Realitätsmanipulation haben sowohl die leeren, stillen Zeiten als auch teilweise schon die sozialen Zeiten ersetzt.

Eigentlich wissen wir, wie die Antwort lautet und was uns besser tut, als 5 Stunden am Tag sinnlos zu scrollen; doch die Lösung zu diesen Problemen ist ebenfalls ein florierendes Business, das von unserem endlosen Konsumismus mit Dollarzeichen in den Augen profitiert: Bücher zur Stressbewältigung, allerlei Journals, Meditationsapps mit Musik, mit Führung, mit Stille, mit White Sounds, Achtsamkeitskurse und so weiter und so fort.

Wie immer hoffen wir, dass wir einfach etwas kaufen können, um nicht mit unangenehmen Gedanken umgehen zu müssen. Wie wäre es heute mit einem hübschen Poster oder einer süßen Tasse mit blödem Positivity-Spruch drauf?

Wenn wir doch erkennen, dass wir mehr Achtsamkeit brauchen, warum noch mehr Zeugs und noch mehr Apps und noch mehr Content? Wir brauchen weniger! Wir brauchen wieder leere Zeiten, Langeweile, Gespräche und schöpferisches Zusammenleben! Diese leeren Zeiten können definitiv unangenehm werden, gerade wenn man sie nicht mehr gewohnt ist. Ich weiß leider, wovon ich rede. Dennoch sind sie unentbehrlich, um eigene Emotionen und Gedanken auf gesunde Art und Weise zu verarbeiten.

Kennen Sie den Begriff shower thoughts? Das bezeichnet die genialen Einfälle, die einem aus dem Nichts kommen, wenn man in der Dusche steht.

Warum entstehen solche Gedanken unter der Dusche? Trägt die körperliche Hygiene zu besonderen Geistesblitzen bei? Nicht dass ich wüsste.

Die tägliche Dusche bietet jedoch für viele die einzigen 10 Minuten, in denen man alleine mit dem eigenen Intellekt bleibt. Die Dusche ist für viele die einzige und letzte Möglichkeit, ein bisschen Achtsamkeit in den Alltag einzubauen. Die Dusche ist noch der Ort, der auch die süchtigsten Exemplare unserer Spezies von den leuchtenden Vierecken, denen wir unsere Aufmerksamkeit einbüßen, kurzfristig trennt. Und sobald unser Intellekt sein Ding wieder machen kann, kommen eben die erstaunlich tiefgründigen, witzigen, geistreichen Gedanken unter der Dusche.

For good or worse nimmt Technologie jedoch seinen Lauf und Bildschirme für die Dusche sind keine Sci-Fi-Zukunftsvision mehr. Im Gegenteil: Sie sind bereits erschreckend erschwinglich und werden sich bald verbreiten.

Mein Appell: Tun Sie’s nicht! Behalten Sie diese kurze Zeit der Leere und der Achtsamkeit zugunsten von wundersamen Shower Thoughts.

Für die Umwelt kann es doch auch nicht gut sein, wenn man ab jetzt auch noch unter der Dusche Netflix leer guckt.

Mein Honest-Positivity-Spruch des Tages lautet daher:

Wie stehen Sie dazu? Haben Sie schon Unterhaltung im Badezimmer? Radio, Bücher oder sogar schon Bildschirme?

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Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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