Es ist schwierig zu definieren, was Bildung genau bedeutet, zumal jede Gesellschaft und jede Epoche mit dem jeweiligen Zeitgeist und nicht zuletzt der jeweiligen politischen Verfassung nicht nur die kulturelle Identität eines Volks, sondern auch seinen Bildungsbegriff stark beeinflussen.

Wenn Sie mehr darüber lesen möchten, wie unsere Gegenwart den Bildungsbegriff prägt, lesen Sie auch Was ist Bildung heute?

Es ist schwierig, das Wort Bildung unabhängig von einer Zeit zu definieren, denn jede Gesellschaft stellt sich sozusagen unterschiedliche Füllungsarten vor. Wenn Bildung, um Humboldt frei zu umschreiben, das ist, was dafür sorgt, dass ein Mensch mündig, also selbstständig und erfolgreich, in der Gesellschaft agieren kann, ist es klar, dass je nach sozialen Umständen die als nötig erachteten Inhalte sehr unterschiedlich ausfallen können.

Um die verschiedenen semantischen Aspekte eines Lexems zu identifizieren, kann sich ein Sprachvergleich manchmal sehr lohnen. Aus diesem Grund gehe ich heute, ohne Vollständigkeit anstreben zu wollen, auf lateinische Wörter ein, die ‚Bildung‘ bedeuten können, um aus der sprachvergleichenden Betrachtung über Aspekte von und Erwartungen an Bildung nachdenken zu können.

cultus

Cultus ist ein deverbales Substantiv aus colere, wie in agrum colere ‚einen Acker bebauen‘. Ich mag diese Metapher sehr, denn auch das fruchtbarste Feld bedarf der gekonnten und fortdauernden Pflege, um gute Erträge zu bringen. So muss man sich auch um den cultus animi besonders kümmern. Hier hat auch unser Adjektiv kultiviert seinen Ursprung.

Was die Natur entwirft, wird von der Kunst vollführt.
Die Blume, die im Feld sich unbemerkt verliert,
Erzieht des Gärtners Fleiß zum schönsten Kind der Floren.

Wieland, Musarion.

Eine schöne Phraseologie in diesem Zusammenhang lauten: alicuius animum doctrinā excolere.

educatio

Die ‚Erziehung‘ hat etymologisch offenbar mit educere zu tun. Woraus denn ‚herausziehen‘? Ich würde sagen: aus der Kindheit, denn educatio hat im Bezug auf Menschen immer mit Kindern zu tun. Typische Verbindungen sind educatio puerilis oder educatio liberorum. Das bedeutet also, dass kleine Menschen nicht ohne irgendeine Form von Sozialisierung vollwertige Erwachsene werden können. Man denke etwa an Wolfskinder als Gegenbeispiel.

eruditio

Nicht nur aus der Jugend wird man durch Bildung hinausgeführt, sondern auch aus einem rohen Zustand. Bildung macht aus einem groben Menschen (‚rudis‘) einen kultivierten. Unterricht ist notwendig, um Gelehrtheit zu erlangen.

disciplina

Forcellini definiert disciplina als ‚ratio vivendi et discendi quae discipulis traditur‘. Man muss also lernfähig sein und die Lernfähigkeit weiterpflegen, um das eigene Leben erfolgreich gestalten zu können.

Metonymisch ist disciplina auch auf Latein unsere ‚Disziplin‘, also das spezifische ‚Fach‘, in dem man unterrichtet werden kann, und die ‚Art der Unterweisung‘ sowie die ‚Strenge‘. Bildung ist demnach erstens immer durch Inhalte und zweitens nicht ohne ein gewisses Durchhaltevermögen realisiert.

institutio

Institutio ist nicht das Institut, sondern ebenfalls die ‚Erziehung‘: institutio puerorum, institutio puerilis. Das mag etwas volksetymologisch klingen, aber ich interpretiere das auch als ‚dafür sorgen, dass jemand seinen Platz findet‘, denn instituere heißt konkret ‚an eine bestimmte Stelle platzieren‘. Durch Bildung kann also ein jeder seinen Platz in der Gesellschaft finden.

humanitas

Forcellini schreibt: „Dicitur de animi cultura litterarum studiis acquisita.“ Das, was uns wirklich menschlich macht, kann nicht ohne Studien erreicht werden. Ohne Bildung sind wir nicht humani, sondern ferini; wir mögen zwar einen schärferen Intellekt zu haben, doch kann uns dieser ohne Kenntnisse und Erziehung nicht von der restlichen Fauna abheben.

Andererseits vermögen gebildete Menschen nicht nur Inhalte und Werte verinnerlichen, die ihren Geist verfeinern und erhöhen, sondern ihre Feinbildung ebenfalls im zwischenmenschlichen Verhalten zum Ausdruck bringen: „Interdum de illa cultura animi dicitur, quae ad urbanitatem et decentiam et civilitatem pertinet.“

urbanitas

Bon ton, freundlicher Humor und Gefälligkeit – in einem Wort: urbanitas – sind die sichtlichen Ergebnisse von Bildungsprozessen, die auch das Alltagsleben beeinflussen.

doctrina

Doctrina bezieht sich primär auf theoretische Erkenntnis. Für ‚Theorie und Praxis‘ können wir etwa doctrina atque usus sagen. Das lässt mich in die Richtung denken, dass learning by doing zur wahren Bildung nicht reicht, sondern dass entweder durch einführende Theorien oder anschließende Reflexion zur wahren Bildung eine Form von Metakognition notwendig ist.

optimarum artium scientia

In einer Zeit der Informationsüberfülle, in der beinahe alles Wissen ein Klick entfernt ist, scheinen wir oft zu vergessen, wie notwendig Kenntnisse sind. Eigene Kenntnisse, die man im Kopf hat und daher für kreative Verknüpfungen nutzen kann, um etwas Neues zu kreieren. Menschen sind dafür gemacht, sich Wissen anzueignen, um ihre Umwelt zu verändern, doch diese Möglichkeiten sind umso eingeschränkter, je kleiner das eigene Wissen ist, über das man verfügt. Die reine scientia darf im Umgang mit Bildung nicht zugunsten inhaltsleerer Kompetenzen aus den Augen verloren werden.

litterae

Und das Wissen – sowohl die Kognition des einzelnen als auch die Übertragung von Wissen – geht über das Wort. Die litterae, also die ‚Schriften‘, aber auch die ‚wissenschaftlichen Studien‘, sind das Mittel per excellence, auf das man Zugang braucht, um gebildet zu werden.

peritia

Schließlich bedarf es bei vielen Tätigkeiten auch der praktischen Erfahrung, der peritia. Wer alicuius rei peritus ist, kann die Sache anwenden. Von jemandem, der sermonis Latini peritus ist, erwarten wir etwa, dass er Latein zumindest gut lesen und verstehen, womöglich auch schreiben und sprechen kann.

ars

Ob artes liberales, die eines freien Mannes würdigen Wissenschaften, oder artes opificum, die Handwerkerkünste, jeder Wissensbereich verfügt über eigene Regeln, Grundprinzipien und Instrumente, die ein in dem Gebiet ausgebildeter Mensch kennen muss.

Das war mein kurzer Exkurs über verschiedene Bedeutungsnuancen des Bildungsbegriffs anhand seiner lateinischen Äquivalenten. Was denken Sie? Haben Sie Ergänzungen?

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Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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