Nicht zuletzt für mein Ego möchte ich mal behaupten, dass jeder – egal, wie belesen – sie hat: eine Liste von Büchern, von denen er denkt, dass er sie eigentlich schon längst gelesen haben sollte. Unabhängig davon, ob die Liste tatsächlich ausgeschrieben wurde oder bloß mental ist, verbreitet sich in ihm, wann immer der unaufhaltsame Zufall der Gedankengänge auf eins dieser Bücher führt, das nagende Gefühl bald der Reue bald der Scham, es sei doch unerhört, dass dieser vermeintlich aber auch allen bekannte Klassiker für ihn noch ein in Nebeln verhülltes Mysterium bleibe.

Während meiner letzten Italienreise kam ich unter anderem zum Palazzo Chigi in Ariccia, einer barocken Villa, von der man dankenswerterweise sehr viele Räume besichtigen kann, die nicht nur wunderschön an den Wänden mit Fresken und Leder dekoriert sind, sondern größtenteils auch beeindruckendes Mobiliar aus verschiedenen Epochen noch enthalten. Einige der vorzufindenden Bilder evozieren Szenen aus in der damaligen Zeit besonders beliebten italienischen Literaturwerken, etwa aus Ariosts Orlando furioso und Tassos Gerusalemme liberata.

Unter Gefahr, wie ein Yoga-Guru zu klingen (der ich sicherlich nicht bin, denn ein alter Guajakstamm ist mit Abstand flexibler als ich), hole ich mal das Motivationszitat heraus:

Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung.

Und die Gerusalemme liberata ist leider Gottes nach wie vor eins der Werke auf meiner Schandliste.

Aber das soll sich nun ändern!

Das Epos Gerusalemme liberata

Torquato Tasso (1544-1595) arbeitete sehr lange und eifrig an seinem Hauptwerk – so intensiv, dass er davon sogar krank geworden sein soll. Jahrzehnte arbeitete er daran und versuchte dann das Werk auszufeilen, indem er sich Rückmeldungen von vielen Gelehrten holte, deren teilweise widersprüchliche, teilweise mit der eigenen Vision nicht zu vereinbarende Kritik er einzuarbeiten oder zu revidieren versuchte, wie wir in den 1587 veröffentlichten Lettere poetiche nachvollziehen können. Der Text, den wir unter dem Titel Das befreite Jerusalem kennen, ist nicht seine letzte Version, denn er schrieb Vieles nochmals um, bis La Gerusalemme conquistata (Das eroberte Jerusalem) entstand, das jedoch als das minderwertige Gedicht angesehen wird.

Proömium und Widmung

Das Epos besteht aus 20 Gesängen, die in ottave geschrieben sind, d.h. in Strophen à 8 Hendekasyllabi nach dem Reimschema ABABABCC:

Canto l’arme pietose e ‚l capitano
che ‚l gran sepolcro liberò di Cristo.
Molto egli oprò co ‚l senno e con la mano,
molto soffrí nel glorïoso acquisto;
e in van l’Inferno vi s’oppose, e in vano
s’armò d’Asia e di Libia il popol misto.
Il Ciel gli diè favore, e sotto a i santi
segni ridusse i suoi compagni erranti.

Tasso, GL I.1.

Wie der Titel schon verrät, geht es inhaltlich um den ersten Kreuzzug, in dem einem Kreuzzugheer 1099 gelang, Jerusalem zu erobern. Der erste Vers ist eine offenkundige Anspielung auf Vergils arma virumque cano (Aen. 1.1) und Aeneas‘ pietas; beim capitano geht es um den Helden Goffredo di Bouillon.

Geschichtlicher Hintergrund
Die Eroberung Syriens und Palästinas Mitte des 11. Jh. seitens der Osmanen wirkte auf die gesamte christliche Welt äußerst alarmierend, denn die Türken zeigten sich von Anfang an viel intoleranter als die Araber und verweigerten den Christen den Zugang zum Heiligen Land. Nicht zuletzt auch wegen ihrer im Osten wachsenden Macht, die das Oströmische Reich immer mehr bedrohte, forderte der Papst Urban II alle Christen auf, sich gegen die Osmanen zu vereinigen, um den Heiligen Grab von den Ungläubigen zu befreien. So begann 1096 der erste Kreuzzug.

Das historische Thema wird jedoch durch viele weitere Motive erweitert und ergänzt, etwa Liebe, Schmerz, Abenteuer, Landschaft, anthropologische Umstände. Der Erzähler verrät uns schon in der Museninvokation in der zweiten Ottava, dass er Wahrem Erfundenes hinzufügen wird – O musa, […] | tu perdona | s’intesso fregi al ver, s’adorno in parte | d’altri diletti, che de‘ tuoi, le carte –, und in der dritten, dass eine gewisse Süße nicht fehlen dürfe, auch wenn man Wahres dichte, um die Leser besser erziehen zu können: Sai che là corre il mondo ove piú versi | di sue dolcezze il lusinghier Parnaso | e che ‚l vero, condito in molli versi, | i piú schivi allettando ha persuaso.

Indem Tasso Nützliches und Wahres mit dem Honig erfundener Verzierungen versüßt, tritt er ganz im Einklang mit den Vorschriften in Horaz‘ ars poetica in Lukrez‘ Fußstapfen des sugar-coating:

Omne tulit puctum qui miscuit utile dulci,
lectorem delectando pariterque monendo.

Hor., ars 343f.

volui tibi suaviloquenti
carmine Pierio rationem exponere nostram
et quasi musaeo dulci contingere melle

Lucr. 1.945ff.

Denn eins-zu-eins aus Lukrez übernommen ist die Analogie des krankes Kindes, dessen bitteres Medikament mit Süßmitteln verschleiert werden soll (vgl. Lucr. 1.933-942):

Cosí a l’egro fanciul porgiamo aspersi
di soavi licor gli orli del vaso:
succhi amari ingannato intanto ei beve,
e da l’inganno suo vita riceve.

Tasso, GL I.3.

Die Ottave I.4f. enthalten die Widmung an Alfonso II d’Este, Herzog von Ferrara, dem im Kampf gegen die Osmanen der Held Goffredo als Vorbild dienen soll: emulo di Goffredo, i nostri carmi | intanto ascolta, e t’apparecchia a l’armi (I.5).

Goffredo wird zum Kommandeur

Im sechsten Kriegsjahr (già il sesto anno volgea I.6) in der Erzählung, das historisch gesehen eigentlich erst das dritte war, schaut Gott vom Himmel Richtung Erde (I.7) hinunter, dann Richtung Syrien, wo sich Goffredo (I.8) und andere Charaktere des Epos (I.9f) befanden, und beschließt, seinen Boten, den Erzengel Gabriel, zu den Menschen zu schicken (I.11). Er soll Goffredo auffordern, den Kampf um Jerusalem aufzunehmen, nachdem er zum Feldherrn der Kampagne gewählt worden ist (I.12), was Gabriel ausführt (I.13-17). Nachdem Goffredo versteht, dass der Wille Gottes mit seinem eigenen übereinstimmt, zögert er nicht länger und beruft alle Anführer ein (I.18f.). Vor dieser Versammlung hält er eine Rede, um sein und Gottes Vorhaben darzulegen – il tempo dell’impresa è già maturo – (I.20-28) und wird nicht zuletzt dank der Unterstützung von Peter dem Einsiedler zum Anführer gewählt: chiamàr Goffredo per lor duce i primi (I.29-33). Ohne zu zögern, fordert Goffredo das Heer auf, sich am nächsten Sonnenaufgang aufzustellen (I.34f.).

Heereskatalog

In der 36. Ottava erfolgt vor dem Heereskatalog (I.37-64) die Anrufung der personifizierten Memoria (mente):

Mente, de gli anni e de l’oblio nemica,
de le cose custode e dispensiera,
vagliami tua ragion, sí ch’io ridica
di quel campo ogni duce ed ogni schiera.

Tasso, GL I.36.

Meine Lieblingstruppe ist auf jeden Fall die der Franzosen in der 62. Ottava:

Non è gente robusta o faticosa,
se ben tutta di ferro ella riluce.
La terra molle, lieta e dilettosa,
simili a sé gli abitator produce. 😅
Impeto fan ne le battaglie prime,
ma di leggier poi langue, e si reprime.

Tasso, GL I.62.

In den Ottave 65f. werden noch mal die Tugendhaftigkeit des neuen Anführers Goffredo betont, die auf das ganze Heer auszustrahlen vermag. Alle Truppen sind zum Aufmarsch bereit.

Marsch

Goffredo fürchtet, dass sich die Ägypter bereits Richtung Gaza aufgemacht haben (I.67), und sendet einen Botschafter zum König der Dänen und zu Alexios I. (I.68-70), bevor das Heer am folgenden Sonnenaufgang Richtung Heilige Stadt aufmarschiert – la trionfante Croce al ciel si spande. (I.71f.) Auf dem Weg werden sie in den bereits eroberten Gebieten freundlich aufgenommen (I.73-80).

König Aladin

In der Ottava 81 rennt Fama dem Heer voraus und verbreitet – wie üblich zusammen mit falschen Informationen – die Botschaft, dass das christliche Heer bald ankommen wird: fama, apportatrice de‘ veraci romori e de‘ bugiardi. Diese Darstellung hat lange Tradition; vgl. etwa:

mixtaque cum veris passim commenta vagantur
milia rumorum confusaque verba volutant.

Ov., met. 12.54f.

tam ficti pravique tenax quam nuntia veri.
haec tum multiplici populos sermone replebat
gaudens, et pariter facta atque infecta canebat.

Verg., Aen. 4.188ff.

Die Folge der Verbreitung von widersprüchlichen Gerüchten ist Unsicherheit und Furcht. Wie wahr ist doch:

E l’aspettar del male è mal peggiore,
forse, che non parrebbe il mal presente;

Tasso, GL I.82.

Der König Aladin (I.83-90) bereitet daher die Verteidigung vor. Dieser, der schon in jungen Jahren ein grausamer Mensch gewesen war, hatte im höheren Alter einen gewissen Grad an Milde gewonnen. Doch der Affront des bevorstehenden Angriffs sorgt dafür, dass seine ursprüngliche Brutalität erneut und umso stärker entfacht. Insbesondere die Zerrissenheit seines Volkes, indem auch Christen (turba infida) leben, die dem feindlichen Heer helfen könnten, bereiten ihm Sorgen und versetzen ihn in Rage. Dass er seine Pläne, alle Christen im Land brutal zu massakrieren, –

Gli ucciderò, faronne acerbi scempi,
svenerò i figli a le lor madri in seno,
arderò loro alberghi e insieme i tèmpi,
questi i debiti roghi a i morti fièno;
e su quel lor sepolcro in mezzo a i voti
vittime pria farò de‘ sacerdoti.“

Tasso, GL I.87.

– links liegen lässt, hängt bloß mit der Angst zusammen, dies könnte die Angreifer noch mehr zum Kampf anspornen.

Der erste Gesang endet also mit einer wunderschön gelungenen Charakterisierung des Königs Aladin. Die Persönlichkeit übrigens ist historisch, der Name erfunden.

Jeden Sonntag erscheint ein neuer Artikel auf der Webseite. Bis der nächste herauskommt, könnten Sie auch diese interessieren:




Abonnieren Sie den Newsletter!


Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

0 Kommentare

Schreiben Sie einen Kommentar

Avatar placeholder

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert