„Ich bin schon über 20mal umgezogen. Das wird ein Kinderspiel!“, so dachte das überhebliche Ich, als meine Familie den Plan anfing zu schmieden, aus dem Rheinland gen Süden umzuziehen. „Komm, ich bin schon mal ausgewandert. Mal eben nach Baden-Württemberg zu kommen, wird doch kein großer Akt sein.“
Lehre Nr. 1: Studentenumzüge zählen nicht
Ja, ich mag zwar zigmal in meinem Leben umgezogen sein.
Ja, ich bin von Italien nach Deutschland ausgewandert.
Und ja, es waren jedes Mal große Veränderungen, die eine gute Dosis Mut und Organisation verlangt haben.
Doch ist es etwas ganz anderes, ob mal wie Calimero, seine sieben Sachen in einem Tuch gepackt, weiterzieht oder man an einen Jobwechsel für zwei Erwachsene, Schulsuche und Möbel noch denken muss.
Der Aufwandsunterschied mit und ohne Möbel, mit und ohne Job, mit und ohne Partner, mit und ohne Kind ist unbeschreiblich. Daher muss ich mein naives Selbst daran erinnern, dass ich in diesem Sommer doppelt so alt werde wie vor zwanzig Jahren und diese Sachen nun mal komplizierter geworden sind.
Sommer 2007, Aeroporto Galileo Galilei Pisa.
Wie so oft stehe ich an der Sicherheitskontrolle des kleinen toskanischen Flughafens, umgeben von krebsrot gebratenen deutschen und niederländischen Touristen mit Birkenstock, Strohhüten und Wanderrucksäcken. Versuchen sie absichtlich, dermaßen als Mitteleuropäer aufzufallen? Ich brauche Ablenkung, weil ich mich beobachtet fühle. Ich werde beobachtet. Während ich mein Handgepäck auf das Laufband lege, hebe meinen Blick nach links, wo meine laut schniefende Schwester und mein trübsinniger Vater so lange stehen werden, bis ich nicht mehr zu sehen bin. Ich hasse Abschiede. Vor allem diese herzzerreißenden Szenen am Flughafen, bei denen man sich ein kitschiges, verlangsamtes Videoediting mit Perspektivenwechsel und unerträglich sentimentaler Musikuntermauerung glatt vorstellen kann. Zum Kotzen. Nicht mit mir! Doch dann treffen meine Augen die von meiner Schwester, die im Gegensatz zu mir ihr Herz auf der Zunge trägt, und ich sehe sie hinter der offenen Schranke die Luft anhalten, als ob sie dadurch die Tränen anhalten könnte, und ein ungekonnt verstelltes Lächeln aufsetzen. Die Schranke schließt sich und damit auch mein Hals, denn mir wird plötzlich bewusst, dass ich von all den Menschen, die ich liebe, ja die ich kenne, auf einmal getrennt bin. Und dass es kein Zurück gibt. Ich wandere aus und bin ganz alleine. Ich winke hastig zurück, gehe mit dem sicheren Schritt, der „Kein Grund, sich anzustellen!“ mahnen soll, schnell weiter und kapituliere gleich hinter den Schleusen vor haltlos quellenden Tränen.
Lehre Nr. 2: Die Kraft eines Abschieds
Als ich vor vielen Jahren nach Deutschland ausgewandert bin, kam ich zwar „nur“ für das Studium, aber ich hatte schon beschlossen, dass ich zum Bleiben kam. Trotzdem habe ich mich in Italien bis auf wenige Ausnahmen nicht wirklich von meinen Freunden verabschiedet, sondern habe so getan, als ob das Leben normal weiterginge. An einem Tag war ich da, am nächsten war ich weg.
Diesmal bin ich ganz anders verfahren. Diesmal habe ich wirklich versucht, viele Nachbarn vor dem Umzug wiederzusehen, mit Freunden zu sprechen und mich trotz Umzugsstress von vielen Menschen zu verabschieden. Ein wichtiges Kapitel wurde abgeschlossen und vor so einer großen Änderung muss man eben kurz stehen bleiben, um sie zu würdigen.
Leider habe ich bei weitem nicht alle Menschen wiedergesehen, die ich auf meiner Liste stehen hatte, aber ich bin unendlich dankbar für die liebevollen Abschiede, die wir erleben durften. Ich, die ich mich aus Natur wie aus Laster öfter mal isoliere, habe mich als willkommener Teil einer Gemeinschaft gefühlt, die zu verlassen nicht einfach war.
Lehre Nr. 3: Marie Kondo hat auch unser Leben verändert
Unendlich dankbar bin ich dafür, dass ich vor zwei Jahren das Buch von Marie Kondo gelesen und die darin enthaltenen Lehren umgesetzt habe.
Es hat knapp ein Jahr gedauert, aber wir haben all unsere Habseligkeiten in der von Marie Kondo vorgeschlagenen Reihenfolge gesichtet, radikal ausgemistet und, soweit es in der kleinen Wohnung, die wir hatten ging, organisiert und aufgeräumt. Tatsächlich haben wir dadurch ein Zimmer befreit, das zum Kinderzimmer werden konnte, und ein zweites, kleines Heimbüro gewinnen können.
Im neuen Haus, in das wir diesen Monat eingezogen sind, haben wir nun zwar keine Platzprobleme, aber beim Packen war ich extrem froh, dass all das, was nur noch Ballast war, nicht mehr managen musste. Das Packen der Umzugskartons bot ein erneuter Anlass zum Ausmisten an; jedoch ließ sich tatsächlich nach der radikalen Marie-Kondo-Aktion nicht mehr viel wegschmeißen.
Lehre Nr. 4: Wir haben trotzdem viel Zeug
Trotzdem hat das Einpacken länger gedauert, als mir lieb gewesen wäre. Mein Tipp an alle, die umzuziehen gedenken: Fangen Sie seeehr früh mit dem Packen an. Ich habe 4 Wochen vor dem Umzug die ersten Umzugskartons gepackt und dieser Zeitraum hat mir die Chance gegeben, ein paar Runden zum Recyclinghof zu fahren, alle Bücher vor dem Einpacken komplett abzustauben, Decken zu waschen, die länger im Schrank gelagert waren, usw. Jetzt habe ich beim Auspacken der gut sauber gemachten und ordentlich sortierten Sachen wirklich das Gefühl, in der neuen Stadt frisch durchstarten zu können.
Nach zwei Wochen fleißigen Ausmistens und Packens dachte ich, ich sei fast fertig… als ob! Die Sachen wollten einfach kein Ende nehmen! Allein die Bücher abzustauben und einzupacken, hat zwei Tage in Anspruch genommen. Dann hatte ich trotz Marie-Condo-Hilfe einen Schrank und einen Ecke unter dem Arbeitstisch von meinem Mann, von denen ich nicht wusste, was ich da genau finden würde. Das hat mich dermaßen gestresst, dass ich gut 10 Tage lange gar nicht erst drangehen wollte. Haben Sie auch diese dunklen Ecken in der Wohnung?
Irgendwie haben wir es doch geschafft, aus der 65-qm-Wohnung knapp 70 Kartons voll zu bekommen. Die Tatsache, dass ein Drittel der Kartons mit Büchern voll sind, zeigt mir aber, dass sich das Ausmisten gelohnt hatte.
Lehre Nr. 5: It’s a marathon, not a sprint
Auch im neuen Haus wollen wir das Einrichten und Einräumen ruhig angehen. Ich habe gerade großen Spaß am Interior Design, habe ein paar Kurse auf Masterclass dazu gehört und tobe mich nun richtig aus. Ich freue mich insbesondere auf die neue Bibliothek, die gleichzeitig mein Arbeitszimmer sowie Empfangszimmer für die Pärchen, die ich als Freie Rednerin heiraten darf, sein wird.
Das Haus, in das wir eingezogen sind, ist ca. dreimal so groß, wie unsere alte Wohnung. Es gibt noch sehr viel zu tun, zumal wir nun auch einen schönen, großen Garten haben. Da schien es uns aus verschiedenen Gründen vernünftig, nicht alles auf einmal machen zu wollen. Erstens wollen wir die Raumplanung und -einrichtung gut durchdenken und das ist ein planerisches, aber auch kreatives Unterfangen, das nicht überstürzt werden will. Zweitens brauchen wir nicht den ganzen Raum, den wir haben. Es hilft, ein paar Kernpunkte des Hauses einzurichten, um dem Haus das Gefühl von Sauberkeit und Ordnung zu verleihen, während Räume, die keine Priorität haben, zunächst etwas nackter bleiben werden.
Als Erstes haben wir uns um Küche, Esszimmer, Eingangsbereich und Gästezimmer gekümmert. In unseren Schlafzimmern ist so weit nur ein Bett. Es ist schön, bei jeder Lieferung zu sehen, wie alles so zusammenkommt, wie man sich das beim Planen vorgestellt hat. Bei vielen Räumen haben wir aber keine Eile.
Lehre Nr. 6: Neuer Ort, neue Energie
Ohne esoterisch klingen zu wollen: Jeder Ort hat eine eigene Energie. Das ist mir sehr bewusst geworden, als ich das erste Mal 10 Jahre nach dem Abi für ein Praktikum während des Lehramtsstudium wieder eine Schule betreten habe. Das war ganz komisch.
Jetzt merke ich auch im neuen Haus und hier im Dorf, wo wir hingezogen sind, herrscht eine ganz andere Atmosphäre und Energie als in der Bonner Altstadt. Gerade genieße ich den Wechsel sehr. Das Haus ist eine ruhige Oase im Grünen und das Dorf ebenfalls viel entspannter als die Stadt. Es fühlt sich gut an.
Außerdem steht im Haus und im Garten sehr viel an, was dazu einlädt (bzw. auffordert), sich mit der realen, konkreten Welt auseinanderzusetzen. Mich, die ich dazu neige, mich in meiner eigenen Gedankenwelt zu verlieren, erdet das gerade sehr.
Lehre Nr. 7: Ich habe den Wald vermisst
Bevor ich mit meinem Mann zusammengezogen bin, wohnte ich in der Nähe vom Kottenforst, einem wunderschönen Wald mit ganz vielen Wanderwegen und unvergleichlichem Paradies für Hunde und Hundehalter. In den letzten Jahren habe ich immer wieder gesagt, dass ich den Wald vermisse. Wie sehr der Wald zu meinem Wohlergehen beigetragen hatte, habe ich aber völlig unterschätzt. Jedenfalls sind wir hier in der fußläufig erreichbaren Nähe zum Nordschwarzwald und nutze ich mit Dieguito täglich aus.
Lehre Nr. 8: Ich sehne mich nach Gästen
Wie schön es jetzt wird, wo wir endlich den Platz haben, um Gäste, sogar Übernachtungsgäste aufzunehmen! Ich freue mich darauf. Wie lautet die Lehre daraus? Vielleicht dass ich viel sozialer bin, als ich manchmal zugeben mag.
Lehre Nr. 9: Warum die Waschküche das tollste Zimmer ist
Ich liebe es, dass wir eine dedizierte Waschküche haben. Nein, ich habe keine Ambitionen, zur Hausfrau zu werden, und paradoxerweise habe ich mich genau deswegen in unsere Waschküche verliebt: Dadurch, dass sie da ist und auch als Besenkammer fungiert, kommt man immer wieder daran vorbei und kann sich bei Gelegenheit um die Wäsche kümmern. Das klingt banal, aber die Tatsache, dass wir nicht mehr explizit an die Wäsche denken müssen, ist für uns eine große Erleichterung. Weniger mental load? Ja, bitte!
Lehre Nr. 10: Es gibt sooo viel, was ich lernen will
Dass ich mehr lernen möchte, als in einem Leben möglich ist, wusste ich schon immer. Dass einem beim Lernen immer deutlicher wird, wie viel man eigentlich noch nicht weiß, war mir auch klar. Jetzt, wo wir im Grünen leben, mit Garten und Wald zu tun haben, jeden Morgen hunderte von Vögeln zwitschern hören, habe ich richtig Lust, mehr von der Natur, die mich umgibt zu verstehen: Vogelarten, Bäume, Pflanzen, Insekten… es gibt so viel, das ich noch nicht kenne und lernen möchte! Vielleicht starte ich ein Malheft für Naturstudien. Daran hätte ich Spaß und meine Tochter sicher auch.
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