Stoiker sind der festen Überzeugung, dass man sich in der Gesellschaft und in der Politik engagieren soll. Dennoch rät Seneca dazu, die Menschenmasse zu vermeiden. Wie dieser scheinbare Widerspruch zu verstehen ist, erklärt Seneca im 8. Brief.

Vita activa vs. vita contemplativa

‚Tu me‘ inquis ‚vitare turbam iubes, secedere et conscientia esse contentum? ubi illa praecepta vestra quae imperant in actu mori?‘ Quid? ego tibi videor inertiam suadere? In hoc me recondidi et fores clusi, ut prodesse pluribus possem. Nullus mihi per otium dies exit; partem noctium studiis vindico; non vaco somno sed succumbo, et oculos vigilia fatigatos cadentesque in opere detineo.

Sen. epist. 8.1.

Im siebten Brief hatte Seneca Luciulius schon dazu gemahnt, die turba ‚Menschenmenge‘ zu vermeiden, wozu Lucilius den Einwand ausgedrückt zu haben scheint, dies sei doch gegen die stoischen Vorschriften (praecepta vestra). Wenn die Stoiker bekanntermaßen bis zum letzten Atemzug tätig sein sollen (in actu mori), wie passe das mit dem dringenden Rat, sich von der Menge fernzuhalten? Es geht also um die zentrale Frage der ethischen Philosophie: vita activa oder vita contemplativa?

Die Stoiker stellen die praktische Arbeit, das politische Engagement, die aktive Betätigung in der Gesellschaft in den Vordergrund, während die Epikureer nach dem Motto λάθη βιώσας (‚lebe im Verborgenen‘) sich einer theoretisch-kontemplativen Lebensweise widmen. Lukrez fasst das am Ende des Proömiums des zweiten Buchs so zusammen:

hunc igitur terrorem animi tenebrasque necessest
non radii solis neque lucida tela diei
discutiant, sed naturae species ratioque.

Lucr. 2.59ff.

Der Schatten der negativen Gemütsbewegungen, der Sehnsucht nach Reichtümern und Ruhm, der Todesfurcht seien nicht durch Sonnenstrahlen, sondern im Verborgenen durch die Kontemplation der Natur (naturae species ratioque) – Kontemplation, welche eben nicht mitten der Gesellschaft erfolgt, sondern von heiteren Tempeln (templa serena (Lucr. 2.8)) aus; wir würden vielleicht Elfenbeintürme sagen, Cicero drückt sich kritischer aus:

civitatis gubernatio et earum ipsarum rerum, quas isti in angulis personant

Cic. rep. 1.2.

Seneca weist Lucilius‘ Vorwurf zurück, indem er betont, dass er sicherlich nicht zur Untätigkeit (inertia) rate, sich im Gegenteil auch zu Hause bei geschlossener Tür stets sein Bestes gebe, um anderen nützlich zu sein (prodesse pluribus). Beinahe unermüdlich widme er sich Tag und Nacht seinen studiis.

Der Wert der studia

Secessi non tantum ab hominibus sed a rebus, et in primis a meis rebus: posterorum negotium ago. Illis aliqua quae possint prodesse conscribo; salutares admonitiones, velut medicamentorum utilium compositiones, litteris mando, esse illas efficaces in meis ulceribus expertus, quae etiam si persanata non sunt, serpere desierunt.

Sen. epist. 8.2.

Nicht nur von seinen Mitmenschen habe er sich abgewandt, sondern auch von seinen eigenen Geschäften, um für die Nachwelt (posterorum) da zu sein, indem er alles, was nützlich sein kann, zusammenschreibt, insbesondere heilbringende Mahnungen (salutares admonitiones) als Rezept gegen die Krankheiten der Moral und des Gemüts.

Auch im Rückzug des otium kümmert sich der Philosoph also um seine Mitmenschen. Wie Cicero im Proömium der Tusculanae disputationes schreibt:

Philosophia iacuit usque ad hanc aetatem nec ullum habuit lumen litterarum Latinarum; quae inlustranda et excitanda nobis est, ut, si occupati profuimus aliquid civibus nostris, prosimus etiam, si possumus, otiosi.

Cic. Tusc. 1.5.

Und wir können doch diesen Schriftstellern zustimmen und dankbar sein, denn sie liefern Lesern seit zwei Jahrtausenden Gedankenfutter zu zentralen Fragen der Lebensgestaltung. Die Mühe hat sich echt mal gelohnt.

Ich persönlich mag Senecas Bescheidenheit sehr, da er immer wieder betont, wie er selbst ebenfalls den insidiae verfällt, vor denen er warnt. Das macht er z. B. auch im 63. Brief. Wie ein guter Lehrer ist er sich bewusst, dass er in der Sache ein paar Schritte weiter als andere ist, die daher von ihm lernen können, dass er jedoch keineswegs bereits am utopisch-idealen Ziel angekommen sei.

Bewusst leben

Rectum iter, quod sero cognovi et lassus errando, aliis monstro. Clamo: ‚vitate quaecumque vulgo placent, quae casus attribuit; ad omne fortuitum bonum suspiciosi pavidique subsistite: et fera et piscis spe aliqua oblectante decipitur. Munera ista fortunae putatis? insidiae sunt. Quisquis vestrum tutam agere vitam volet, quantum plurimum potest ista viscata beneficia devitet in quibus hoc quoque miserrimi fallimur: habere nos putamus, haeremus.

Sen. epist. 8.3.

Er habe den richtigen Weg, den er nun anderen zeigt, spät und durch Irrwege gefunden und sei zu diesem Schluss gekommen: Was immer die Masse hochschätze, sei zu vermeiden; was immer einem durch Zufall zuteilwerde, ebenfalls. Vielleicht ist das vitate etwas zu hart, aber die Gefahr, pauschal Dinge für richtig und gut anzunehmen, nur weil alle sie blind glauben, oder uns zufällig zugeschriebene Rechte als fix und gegeben, ja selbstverständlich, zu betrachten, ohne uns je zu fragen, wie langlebig der Status quo sein kann, ist sicherlich größer. Self-Development-Gurus würden das intentional living nennen: Man soll stets bewusst durchs Leben schreiten und auch die guten Dinge, die uns umsonst in die Arme fallen, hinterfragen. Insbesondere die, denn:

In praecipitia cursus iste deducit; huius eminentis vitae exitus cadere est. Deinde ne resistere quidem licet, cum coepit transversos agere felicitas, aut saltim rectis aut semel ruere: non vertit fortuna sed cernulat et allidit.

Sen. epist. 8.4.

Hält man sich an glückliche Umstände, für die man nicht selbst verantwortlich ist, kann der Weg zum Rand des Abgrunds nicht lange sein und, sobald das Glück sich wendet (cum coepit transversos agere felicitas), wird man weder stehend aushalten (ne resistere quidem licet rectis) noch endlich hinfallen können (ruere).

Ich weiß nicht, wie passend das Beispiel ist, aber ich musste beim Lesen an das Wahlrecht denken. Die, die dafür gekämpft haben, das Wahlrecht zu erhalten, und – wie man sagt – Schmiede des eigenen Glücks wurden, wussten um den Wert dieses beneficium Bescheid und hielten das keineswegs für selbstverständlich. Heute bekommen wir dieses Glück rein zufällig, ohne dass wir uns zwingend bewusst dafür entschieden haben (casus attribuit), und was passiert dann? Die Wahlbeteiligung sinkt und die Regierungen müssen sogar nach Mitteln und Wegen suchen, um Wähler zu mobilisieren, sprich um Menschen dazu zu bewegen, das ihnen erteilte Glück wahrzunehmen. In einigen Ländern herrscht sogar Wahlpflicht, was mir an und für sich mit Sorge dahin schauen lässt, wie wackelig doch unsere Demokratien schon sind. Nicht nur wegen der Wahlbeteiligung, aber sicherlich auch daran können wir als Gesellschaft erkennen, wie gefährlich nah das nächste praecipitium uns bevorsteht.

Natürlich könnte man auf individueller Ebene auch viele Beispiele anbringen.

Das Nötige

Hanc ergo sanam ac salubrem formam vitae tenete, ut corpori tantum indulgeatis quantum bonae valetudini satis est. Durius tractandum est ne animo male pareat: cibus famem sedet, potio sitim exstinguat, vestis arceat frigus, domus munimentum sit adversus infesta temporis. Hanc utrum caespes erexerit an varius lapis gentis alienae, nihil interest: scitote tam bene hominem culmo quam auro tegi. Contemnite omnia quae supervacuus labor velut ornamentum ac decus ponit; cogitate nihil praeter animum esse mirabile, cui magno nihil magnum est.‘

Sen. epist. 8.5.

Woran soll man sich stattdessen orientieren?

Ich gebe zu, dass mir dieser Abschnitt innerhalb der Argumentation nicht optimal platziert oder zumindest nicht sehr leserfreundlich eingeleitet erscheint, aber den Eindruck habe ich öfter, wenn ich Seneca lese. Wahrscheinlich zu unrecht ist er mir persönlich etwas scattered, verstreutpassa un po‘ di palo in frasca.

Anyway…

Das Wesentliche im Leben ist das Wesentliche: So viel für den Körper zu tun, dass er gesund bleibt, sodass man sich dem Geist widmen kann. Essen und Trinken, um Hunger und Durst zu stillen, Kleidung gegen die Kälte, ein Dach über dem Kopf. Und das Dach braucht nicht aus Gold zu sein, denn ein Strohdach erfüllt auch seinen Zweck.

Dieser ist bei all den sonstigen Unterschieden einer der vereinenden Aspekte zwischen der stoischen und epikureischen Lehre, da auch Epikureer ja zu einem maßvollen Leben raten. Das, was der Körper von Natur aus brauche, ist recht überschaubar, während Exzesse und Kostbarkeiten nicht zu unserem Wohlergehen beitragen. Obwohl die Beweggründe bei den Epikureern andere sind – Vermeidung von Schmerz, Empfindung von Lust –, sind die Konsequenzen doch denen der Stoiker sehr ähnlich:

ergo corpoream ad naturam pauca videmus
esse opus omnino: quae demant cumque dolorem,
delicias quoque uti multas substernere possint
gratius inter dum, neque natura ipsa requirit,
si non aurea sunt iuvenum simulacra per aedes
lampadas igniferas manibus retinentia dextris,
lumina nocturnis epulis ut suppeditentur,
nec domus argento fulget auroque renidet
nec citharae reboant laqueata aurataque templa,

Lucr. 2.20ff.

Warum also das Ganze?

Si haec mecum, si haec cum posteris loquor, non videor tibi plus prodesse quam cum ad vadimonium advocatus descenderem aut tabulis testamenti anulum imprimerem aut in senatu candidato vocem et manum commodarem? Mihi crede, qui nihil agere videntur maiora agunt: humana divinaque simul tractant.

Sen. epist. 8.6.

Jetzt wird klar, warum er 8.5 eingeschoben hatte: Wenn er haec – nämlich all die Ratschläge in 8.5 als salutares admonitionessecum und daher auch mit der Nachwelt durchgeht, gehe er mit Sicherheit einer für die Gesellschaft nützlicheren Aufgabe nach, als wenn er etwa als Bürge im Tribunal auftrete oder irgendwelche testamentarischen Fragen kläre. Die, die nichts zu tun scheinen, errichten noch größere Werke, weil sie gleichzeitig Menschliches und Göttliches behandeln.

Warum Göttliches? Weil es in den genannten studia immer um die veri inquisitio atque investigatio (Cic. off. 1.13): cognitionem rerum aut occultarum aut admirabilium ad beate vivendum necessariam (ebenda).

Auch die Studien, die Suche nach dem Wahren, die Erforschung der Natur, also auch die philosophia naturalis ist der moralis untergeordnet (ad beate vivendum necessariam). Es geht nämlich immer auch um gutes Handeln, nicht bloß um schönes Denken. Die Philosophie als vitae dux (Cic. Tusc. 5.2.5) soll zu einer guten Lebensgestaltung verhelfen, denn

virtus in usu sui tota posita est

Cic. rep. 1.2.

oder, um ein weniger abgelutschtes Zitat anzubringen:

virtutis enim laus omnis in actione consistit.

Cic. off. 1.19.

Der Weise ist, wie ich oben schon sagte, den anderen ein paar Schritte voraus und Seneca versteht sich daher als generis humani paedagogus (Sen. epist. 89.9). Selbst wenn er sich seinen Studien widmet, tut dies der Stoiker aus moralischer Pflicht gegenüber seinen Mitmenschen und der Nachwelt.

Der Abschluss

Sed iam finis faciendus est et aliquid, ut institui, pro hac epistula dependendum.

Sen. epist. 8.7.

Wie oft am Ende von den Briefen an Lucilius schließt Seneca das Thema ab und führt ein Zitat an, oft eben ex alienis hortulis Epikurs sumptum (Sen. epist. 4.10). Ich gebe folgende Gedanken wieder, die schon oben im dieswöchigen Blogartikel eine wesentliche Rolle spielten:

non est tuum fortuna quod fecit tuum.

Sen. epist. 8.10.

Und:

dari bonum quod potuit auferri potest.

Sen. epist. 8.10.

Das können wir uns zum Beispiel in Erinnerung rufen, wenn wir nach Einhalt von Rechten schreien, für die – wenn wir ehrlich sind – keinen Finger krumm zu machen bereit sind. So etwa mancher Student, der sich damals mehr Mühe gegeben hat, um gegen die Studiengebühren zu protestieren, als um für sein Fach zu lernen.

Iuncturae

Schließlich habe ich folgende Wendungen zum Auswendiglernen und Benutzen herausgeschrieben:

  • nullus dies per otium exit
  • partem noctium studiis vindicare
  • somno / alicui rei vacare
  • somno / alicui rei succumbere
  • litteris mandare
  • fores claudere
  • ab hominibus / a rebus succedere
  • negotium agere
  • tutam agere vitam
  • in praecipitia deducere
  • felicitas agit transversos
  • corpori indulgēre
  • famem sedare
  • sitem exstinguere
  • frigus arcēre
  • ad vadimonium advocatus descendere
  • tabulis testamenti anulum imprimere
  • finem facere
  • Epicurum compilare
  • dependere aliquid pro aliqua re
  • in diem differre
  • togatas / tragicos attingere
  • versum alicuius referre
  • alicuius rei a(d)stricte meminisse
  • aliquid non imputare in solutum

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Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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