In ihrem in den 90ern erschienenen Beststeller The Artist’s Way präsentiert Julia Cameron unter anderem eine Übung, mit der wir unsere Kreativität entfalten können: die morning pages.

Es geht dabei darum, jeden Morgen als Erstes drei Seiten mit den eigenen Gedanken zu füllen, ohne groß nachzudenken, ohne auf Schönheit, sprachliche Korrektheit oder Zweckmäßigkeit zu achten. Einfach nur im Flow drei Seiten füllen.

Da ich die Technik schon lange kenne und schätze, nutze ich sie phasenweise intensiv, wenn ich merke, dass ich meine Kreativität in Gang setzen will. Oft genug steht man sich eben selbst im Weg und diese Übung hilft mir immer wieder auf Neue dabei, den einen oder anderen Knoten zum Platzen zu bringen.

Wenn Sie mehr zu den Vorteilen dieser Übung wissen wollen, lesen Sie Kreativität entfalten mit morning pages, wo ich meine mittlerweile mehrjährige Erfahrung mit dieser Technik mit Ihnen teile.

Der obige Artikel ist im März 2023 entstanden, als ich mir wieder einmal vorgenommen habe, eine Zeit lang jeden Morgen morning pages zu schreiben. Es ist immer wieder faszinierend zu sehen, dass jedes Mal, wenn ich morgens regelmäßig diese Schreibübung mache, die Lust, Neues zu schreiben, kommt. Pflege ich diese Gewohnheit regelmäßig, kommen mir haufenweise neue Ideen und Projekte in den Sinn.

Sowohl aus dem Artikel als auch im Umgang mit meinem Mitmenschen in real life haben sich einige Fragen ergeben, auf die ich heute eingehen möchte.

Haben Sie morning pages schon mal probiert? Was ist Ihre Erfahrung damit gewesen?

Eine vollständige Lektüre des Buchs, das noch viel mehr heilsame Übungen und Praktiken enthält, empfehle ich Ihnen uneingeschränkt.

Darf ich eigentlich meckern?

Ich habe sowohl bei mir festgestellt als auch von anderen, die regelmäßig morning pages schreiben, mitekommen, dass man in den ersten Tagen oder Wochen die Übung vor allem nutzt, um negativen Gedanken, kleinen und großen Enttäuschungen, Alltagsfrustrationen und Unzufriedenheiten ein Ventil zu geben.

Wenn das raus muss, lassen Sie’s raus. Das definiert Sie nicht und das muss niemand lesen. Nicht einmal Sie selbst.

Wenn Sie den Eindruck haben, sich auf Dankbarkeit oder positive Gedanken konzentrieren zu wollen, ist es sicherlich auch schön. Positive affirmations, Dankbarkeitstagebücher und alles, was das Schöne im eigenen Leben unterstreicht, verbessert sicherlich unser Wohlbefinden.

Der Sinn der morning pages, wie ich ihn verstehe, ist aber, dass man ohne jegliche vorgegebene Bahn den Gedanken freien Lauf lässt. Wenn Sie die Übung probieren wollen, lautet mein Rat: Zwingen Sie sich nicht zur Positivität, sondern lassen Sie alles zu, was Ihnen in den Sinn kommt. Die Negativität hat sich bei mir irgendwann gelegt, obwohl keine Änderungen in meinen Lebensumständen stattgefunden haben.

Although occasionally colorful, the morning pages are often negative, frequentely fragmented, often self-pitying, repetitive, stilted or babyish, angry or bland – even silly sounding. Good! […] All that angry, whiny, petty stuff that you write down in the morning stands between you and your creativity.

Cameron 1992/2020, 11.

Was soll ich eigentlich schreiben?

Bei den morning pages kann man nichts falsch machen. Man setzt sich hin und man schreibt alles, was einem einfällt, bis drei Seiten voll sind.

Da eine leere Seite komische Dinge mit unserem Kopf anstellt, fällt uns manchmal beim Anblick des Leeren nichts anderes ein, als dass uns nichts einfällt. Genau diesen horror vacui können Sie mit dieser Übung überwinden. Denken Sie an irgendetwas anderes, was sie gemacht, gesehen, gesagt oder geplant haben, und schreiben Sie das auf!

Das hört sich sinnlos an, aber das hilft Ihnen die selbsterzwungene Einschränkung zu überwinden, dass man glaubt, man habe keine Ideen. Wir haben alle Ideen, wenn wir es zulassen.

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Darf ich Schreibimpulse benutzen?

Schreibimpulse oder writing prompts sind Gedankenanstöße, die als Übung sowohl im Bereich des kreativen Schreibens als auch zur Selbstreflexion benutzt werden. Im ersten Fall entwickelt man zum Beispiel eine Geschichte zu einem bestimmten Impuls wie:

Du hast deine Seele von einigen Jahren an den Teufel verkauft. Heute gibt er sie dir zurück und sagt: „Ich brauche deine Hilfe.“

aus dem Blog Bücherbombe.

Im zweiten Fall entdeckt man ausgehend von verschiedenen Fragen etwas über sich selbst. Es gibt im psychotherapeutischen Bereich und im Coaching haufenweise Prompts, Achtsamkeits- und Selbstreflexionsübungen dazu. Ich finde die Arbeit von Campbell Walker (aka Struthless auf Youtube) sehr faszinierend und hilfreich. Vor einiger Zeit hat er auch ein Buch veröffentlicht: Your Head is a Houseboat: a Chaotic Guide to Mental Clarity.

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Obwohl ich an sich nichts gegen Schreibimpluse habe, diese ganz im Gegenteil zu unterschiedlichen Zwecken sehr hilfreich finde, würde ich stark davon abraten, sie im Rahmen der morning pages zu verwenden.

Die Übung soll unsere Gedankengänge befreien und unsere Kreativität in Gang setzen, und zwar nicht mit zusätzlichen Einschränkungen und Anweisungen, sondern gerade indem jegliche mentale Schranke beseitigt wird. Es muss nicht gut sein, es muss nur sein.

Lassen Sie die Gedanken frei fließen und schreiben Sie diese auf. Sie können nichts falsch machen.

Darf ich über das Schreiben schreiben?

Wie gesagt habe ich am Anfang in meinen morning pages vor allem herumgejammert. Als diese emotionale Hürde überwunden war, habe ich einfach viel über den Schreibprozess an sich geschrieben. Ich musste mich mit der Übung selbst, mit dieser Art von Schreiben auseinandersetzen. Manchmal wusste ich nämlich gar nicht, was ich schreiben soll, und habe dadurch den Sinn der Übung in Frage gestellt.

Nach und nach hat sich der Fokus aber wieder verschoben. Nach dem Gejammer und nach den metaanalytischen Partien bin ich nämlich endlich auf Ideen und Gedankengänge gekommen, die mich weitergeführt haben. Es hat sich im Nachhinein so angefühlt, als müsste man zunächst Einiges Unangenehmes bewegen, bevor die kreative Energie losgelassen werden konnte.

Müssen es drei Seiten sein?

Im Buch spricht die Autorin von drei Seiten.

Ich habe viel herumexperimentiert, was die Länge der morning pages angeht und schreibe mittlerweile jeden Tag eine DIN-A5-Seite, was nicht im Sinne des Erfinders ist.

Ich habe eine sehr kleine Handschrift und benutze in der Regel gepunktete DIN-A5-Hefte (5 mm), bei denen ich keine Zeile frei lasse. Bis ich eine ganze solche Seite gefüllt habe, vergehen meistens ca. 15-20 Minuten. Das reicht für mich.

Meine morning pages bestehen momentan aus einer dicht beschriebenen Seite. Dafür schaffe ich es, die Schreibübung über lange Zeiträume täglich durchzuführen, und sie hat mir auch in dieser Form sehr viel gebracht.

Take it or leave it.

Muss ich per Hand schreiben?

Darauf habe ich keine sichere Antwort. Ich persönlich schreibe sehr gerne per Hand. Wenn es um Arbeit geht, schreibe ich am Rechner, ansonsten gerne analog. Ich pflege auch seit Jahren ein Bullet Journal, in dem auch gerne Doodles, Handlettering und Sketch Notes einfließen lasse. Obwohl die morning pages ohne Deko nur heruntergeschrieben werden, gehöre ich auch da zur analogen Fraktion.

Es ist bewiesen, dass man sich Dinge besser merken kann, wenn man sie per Hand schreibt, als wenn man sie tippt. Wenn ich das richtig verstehe, liegt das wohl daran, dass bestimmte Hirnareale durch die feinmotorischen Bewegungen aktiviert werden, die beim Tippen nicht involviert sind. Nun ist das Ziel der morning pages allerdings nicht die Memorierung von Fakten, weswegen man also auch für eine digitale Verfassung argumentieren könnte.

Da dieser Schreibprozess jedoch sehr persönlich und emotional sein kann, scheint mir doch die Handschrift passender als ein Rechner. Wie gesagt: Ich weiß nicht ganz warum, aber es fühlt sich für mich per Hand richtig an.

Es gibt ja mittlerweile hybride Versionen – per Hand digital – auf immer besser werdenden Medien. Warum nicht?

Hier können Sie sich mein Bullet Journal anschauen: Disce mecum! #4 Römischer Kalender und Bullet Journal.

Wie finde ich denn die ganzen Ideen wieder?

Ein Vorteil der digitalen Verfassung der morning pages, der bei mir in der analogen Version verloren geht, ist die Durchsuchbarkeit.

Die Schreibübung entfaltet unsere Kreativität. Wir lassen Ideen und Gedankengänge freien Lauf, sodass sie leicht und zahlreich fließen. Wir werden zum Ideenvulkan! YAY! 🥳

Doch dann besteht das Ergebnis erst einmal aus einem unendlichen Fluss gleichermaßen voll beschriebener Seiten… wie soll man denn da etwas wieder finden? Wo sind unsere ganzen schlauen Ideen?!

Hat man digital geschrieben, lässt sich alles viel leichter suchen.

Doch auch für die analog Hantierenden unter uns lässt sich das Problem leicht beseitigen, indem wir die Teile des Textes, die wir in Zukunft gebrauchen können, markieren. Ich schreibe mir am Seitenrand auch gerne in einem Wort, für welchen Lebensbereich (z.B. Schule, Blog, Gedichte…) die Idee relevant ist.

Es sei allerdings gesagt, dass Julia Cameron für den Anfang davon abrät, die eigenen morning pages zu lesen. Wenn die Ideen einmal frei fließen, kann es aber meiner Meinung nach sehr hilfreich sein.

Hilfe, ich habe eine hässliche Handschrift!

Kalligraphie war für mich lange ein leidendes Thema.

Als Linkshänderin hätte ich in der Grundschule jemanden mit ein bisschen Ahnung gebraucht, der mir erklärt, wie man das Blatt drehen kann, damit man das, was man schreibt, halbwegs sieht; dass die Ausrichtung der Buchstaben für mich leider Gottes nie passen wird; dass ich Über- oder Unterschreiber sein kann usw. Stattdessen wurden wir alle gezwungen mit radierbaren Kugelschreibern (Replay Paper Mate), die mir schnell zum Graus wurden, weil die Tinte auf der Hand kleben blieb und schließlich auf das gesamte Blatt verteilt ein entsetzliches Bild bot.

Da ich trotz meiner Bemühungen und der Tatsache, dass ich in allen Fächern sehr gut war, eh immer schlecht aussehende Hefte hatte, habe ich das Tuch geworfen.

Zur Schulzeit habe ich deswegen immer viel zu schnell und kaum leserlich geschrieben. Die Lehrer haben gemeckert. Gegen das, was sie entziffern konnten, konnten sie aber nichts sagen, also war es mir egal.

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Im Erwachsenenalter bin ich das Thema noch einmal angegangen (nicht zuletzt wegen meiner Tafelbilder im Unterricht!) und habe viele Kalligraphieübungen gemacht, um mein Schriftbild zu verbessern. Das hat sehr viel gebracht. Mittlerweile kann ich Beides: langsamer und leserlich, wenn nicht sogar ganz hübsch, schreiben oder nach alter Manier Gekritzel schnell dahin rotzen.

Trotz meiner schwierigen Beziehung mit meiner Handschrift empfinde ich, leserlich zu schreiben, mittlerweile als eine Form von Respekt – in erster Linie mir gegenüber. Ich habe es doch verdient, dass ich meine Gedanken so aufschreibe, dass ich sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder nachschlagen kann. In diesem Sinne schreibe ich meine morning pages jetzt nicht unbedingt schön, aber stets leserlich.

Das war vor einem Jahr noch anders. Wenn ich mir ältere morning pages anschaue, kann ich von manchen Tagen kaum etwas entziffern.

Wenn Sie dazu neigen, zu schnell und daher nicht gut leserlich zu schreiben, aber auf Ihre niedergeschriebenen Ideen später zurückgreifen wollen, schalten Sie einen Gang runter und verlangsamen Sie sich etwas. Wenn Sie dagegen die morning pages nicht noch einmal lesen wollen, was am Anfang eh besser ist, ist es wahrscheinlich egal, wie gut oder schlecht ihre Schreibschrift ist.

Braucht man ein hübsches Heft dafür?

Natürlich nicht. Irgendwelche drei Seiten Papier tun es genau so wie ein fancy Heft.

Trotzdem ist das Schreiberlebnis ein ganz anderes je nach dem, ob man einen schön in der Hand liegenden Stift auf hochwertiges Papier geschmeidig gleiten lässt oder den stockenden Kuli, den man von 15 Jahren in der Bank als Werbegeschenk bekommen hat, auf Schmierpapier benutzt.

Ich freue mich immer besonders auf hübsche Schreibutensilien und die steigern für mich tatsächlich die Motivation, die Übung täglich zu machen.

Nötig? Nein. Aber definitiv nice to have.

Ich habe die Übung am Anfang auf Schmierpapier, später auf College Block, dann in separaten DIN-A4-Heften gemacht. Jetzt habe ich alles in mein Bullet Journal zusammengeführt.

Haben Sie morning pages schon mal ausprobiert? Hat es Ihnen genützt?

Jeden Sonntag erscheint ein neuer Artikel auf der Webseite. Bis der nächste herauskommt, könnte Sie auch diese interessieren:




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Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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