Es gibt viele Gründe, Sprachen zu lieben, und jedes Sprachsystem kommt mit seinen Reizen und Tücken daher. Das Lateinische fasziniert seit Jahrhunderten durch seine einzigartige Mischung aus bildlicher Ausdruckskraft und schwer fassbarer Abstraktheit. Auf der einen Seite besticht die Sprache durch ihre Vorliebe für konkrete, sinnlich erfahrbare Bilder, die oft metaphorisch auf abstrakte Bedeutungsbereiche übertragen werden. Auf der anderen Seite existieren in ihr zentrale Begriffe wie pietas, ratio oder fides, die sich aufgrund ihrer Vieldeutigkeit und kulturellen Verankerung einer eindeutigen Definition entziehen. Diese Mischung macht das Lateinische zu einer Sprache, die gleichermaßen prägnant wie interpretativ herausfordernd ist. Doch gerade in dieser Verbindung von Bildhaftigkeit und begrifflicher Offenheit liegt der besondere Reiz der lateinischen Literatur und ihrer Lektüre im Original.
Denn Latein ist mehr als eine Sprache! Es ist ein Schlüssel zu den Ursprüngen unserer Kultur und zur Schatzkammer abendländischen Wissens.
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Eine konkrete Sprache mit bildhafter Ausdruckskraft
Obwohl das Lateinische einige abstrakte Begriffe kennt, bleibt die Sprache in aller Regel sehr konkret. Lateinische Autoren greifen häufig auf Ausdrücke zurück, die sich auf sinnlich wahrnehmbare Dinge beziehen und sich bildlich auf andere Bedeutungsbereiche übertragen lassen. Dadurch wird die Lektüre, besonders wenn wir den Text direkt in seiner lateinischen Form genießen, lebendig und greifbar.
Im Gegensatz zur Übersetzung, bei der vieles von dieser Bildlichkeit verloren geht, lässt das Original auf diese Weise eine besondere Fülle an Bedeutungsschattierungen erkennen. Es gibt beispielsweise bestimmte, ganz konkrete Bereiche, wie etwa die Schifffahrt, die der Römer gerne als Metaphern verwendet. Man könnte das Phänomen auch mit dem Begriff der konzeptuellen Metapher von Lakoff und Johnson beschreiben.
Man denke an die Schifffahrt im berühmten horazischen Carmen der goldenen Mitte (2.10):
Rectius vives, Licini, neque altum
semper urgendo neque, dum procellas
cautus horrescis, nimium premendo
litus iniquum.[…]
saepius ventis agitatur ingens
pinus […]contrahes vento nimium secundo
Hor. #carm. 2.10.
turgida vela.
Das sorgt dafür, dass die Lektüre, insbesondere wenn wir nicht übersetzen, sondern den Text in seiner ursprünglichen Gestalt genießen, sehr bildlich und „fassbar“ ist. Viel vom unterschiedlichen Kolorit, das der Text durch die Verwendung von Konkreta in übertragener Bedeutung erhält, geht beim Übersetzen nämlich verloren.
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Schleierhafte Abstrakta
Das Lateinische ist eine sehr konkrete Sprache. Doch es gibt auch einige abstrakte Begriffe wie fides, humanitas, ratio oder concordia. Einerseits ist das Bedeutungsspektrum von Abstrakta meistens so vielfältig und vage, dass nicht nur wir Nicht-Muttersprachler Schwierigkeiten haben, das Gemeinte genau zu fassen, sondern auch antike Passagen existieren, in denen Autoren (vergebliche) Definitionsversuche anbahnen.
Andererseits sind diese Begriffe für das Verständnis römischer Kultur paradoxerweise zentral. Was ist zum Beispiel pietas? Pietas ist die pflichtmäßige Gesinnung, die man gegenüber der Obrigkeit verspürt, und weckt im republikanischen Römer Assoziationen mit den Göttern (also ‚Frömmigkeit‘), den Eltern (als sich ziemende ‚Elternliebe‘) und dem Staat (‚Vaterlandsliebe‘). Später gebührte auch dem Kaiser pietas.
Wie viele auf die Ideen kommen, das Lateinische als genaue Sprache zu beschreiben, die sich wie ein mathematisch-logisches Puzzle lösen lässt, bleibt für mich das einzig wahre Rätsel. De facto pflegt man im Lateinischen einen ungenauen und verkürzten Ausdruck, der einen besonderen Reiz in dieser wunderschönen Sprache darstellt.
Wie gesagt, haben diese abstrakten Begriffe nicht nur für den modernen Leser, sondern bereits antiken Schreibern nicht wenig food for thought geliefert. So finden wir in Ciceros Dialogen, Reden und Traktaten immer wieder Definitionsversuche von urbanitas, ohne dass jemals das gewisse Je ne sais quoi genau fassbar gemacht worden wäre, das den weltmännischen Stadtrömer der Oberschicht ausmacht. Eine der genaueren Definitionen, die Cicero von urbanitas bietet, erfolgt ex negativo in nat. 2,74#LINK. Entsprechend nicht urbanus ist, wer über keine Bildung, insbesondere keine sprachlich-literarische Bildung (sine arte, sine litteris) verfügt, keinen respektvollen Umgang aufweist (insultantem in omnes), sich nicht geistreich (sine acumine ullo), nicht wirksam (sine auctoritate), nicht humorvoll (sine lepore) ausdrückt. An anderen Stellen kommt neben dem geistreichen Esprit, den der Engländer heute wit nennen würde, und den feinen Umgangsformen noch die typisch städtische Aussprache hinzu.
Solche Abstrakta zu verstehen und zu lernen, ist sehr faszinierend, denn es ist oft eng mit interkulturellen Aspekten und der sog. historischen Kommunikation verbunden. Sie zu übersetzen dagegen, ist ein Alptraum! Dass im Georges über 50 Übersetzungsmöglichkeiten von ratio Erwähnung finden, kommt nicht von ungefähr. Egal, welche man wählt, geht in der Übersetzung immer etwas verloren.
Einer der besonderen Faszinationsgründe des Lateinischen liegt in seiner Fähigkeit, durch ganz konkrete Metaphern abstrakte Konzepte zum Ausdruck zu bringen und gleichzeitig über Abstrakta zu verfügen, die ganz und gar notwendig sind, um die Denk- und Lebenswelten der Römer zu verstehen. Während uns die lebendige Bildlichkeit der Sprache ein greifbares Verständnis vermittelt, fordern uns die mehrdeutigen Abstrakta immer wieder dazu auf, tiefer in die kulturellen Hintergründe einzutauchen. Gerade diese Spannung macht die Beschäftigung mit dem Lateinischen zu einer lohnenden und nie endenden Entdeckungsreise.
Verwendete Literatur
- Cicero, De natura deorum, unter www.thelatinlibrary.com.
- Georges online: ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch.
- Maharam, Wolfram-Aslan (2006): Pietas, in: Der Neue Pauly digital.
- Ramage, Edwin S. (1960): Early Roman Urbanity. In: American Journal of Philology 81.1, S. 65–72.
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