Kennen Sie das Gefühl, wenn Sie voller Tatendrang ein Projekt beginnen, nur um dann von weiteren Einfällen regelrecht überflutet zu werden? Kaum nimmt die erste Idee Gestalt an, drängen sich neue auf, die auch verwirklicht werden wollen. Vielleicht setzen Sie hier ein paar Schritte, machen sich dort Notizen und legen an einer anderen Stelle erste Grundsteine – nur um am Ende das Gefühl zu haben, dass nichts wirklich vorankommt. Dann wird es Zeit, in Ihren Ideen genauso klar Schiff zu machen, wie Marie Kondo es mit überflüssigem Besitz empfiehlt!

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Die schöpferische Herausforderung der Ideenfülle

Viele kreative Menschen kennen das Phänomen: Eine einzige Idee entfaltet sich und führt zu einer Kaskade weiterer Einfälle, die alle gleichermaßen spannend und vielversprechend erscheinen. Was anfänglich als glasklares Ziel vor Augen stand, verschwimmt in einem Strudel neuer Möglichkeiten und Projekte. Es ist, als würden sich die Ideen gegenseitig befruchten und unaufhaltsam wachsen – doch manchmal entstehen daraus eher Frustration und Stillstand als Wachstum.

Chancenvielfalt – Segen oder Hindernis?

Die Vielfalt an Einfällen ist ohne Zweifel ein Geschenk. Je kreativer und einfallsreicher man ist, desto mehr Wege eröffnen sich. Sollte dies nicht von Vorteil sein?

Ja und nein.

Ich sehe die Fülle an Ideen ähnlich wie die Mehrsprachigkeit. Mehrere Sprachen zu beherrschen, sollte theoretisch neue Türen öffnen; doch öfter, als mir lieb wäre, wird dies paradoxerweise lähmend. Zweifel und Blockaden hinsichtlich unseres kreativen Unterfangens sind prädestiniert: Wenn wir den Ausgang schön kannten, wäre es nämlich kein kreatives, sondern ein reproduktives Projekt! Zusätzlich plagt mich allerdings auch die Frage, in welcher Sprache sich eine Idee am besten entfaltet und an wen ich mich primär richten möchte. Diese Überlegungen halten mich oft lange vom Loslegen ab.

Ähnlich verhält es sich mit Ideenvielfalt: Zu viele Optionen können genauso zum Hindernis werden wie eine totale Leere im Kopf. Jeder neue Gedanke öffnet potenziell spannende Türen, doch wenn man versucht, allen gleichzeitig zu folgen, bewegt man sich bald nur noch im Kreis. Viele berichten von der Erschöpfung, die durch diese andauernde Ideenflut entstehen kann. Aber ich glaube, dass es auch schwierig ist, sich von bestimmten Ideen zu verabschieden.

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Marie Kondo, aber für Ideen

Hier liegt der Schlüssel: die Kunst, mutig Entscheidungen zu treffen und konsequent auszusortieren. Schließlich kann man nur Projekte erfolgreich zu Ende führen, wenn man sich auf wenige gleichzeitig konzentriert und ihnen Aufmerksamkeit schenkt.

Um diesen Prozess des Verabschiedens von Ideen greifbarer zu machen, lässt sich ein Vergleich mit dem Ansatz von Marie Kondo in The Life-Changing Magic of Tidying ziehen. Ich habe dieses Buch vor einigen Jahren gelesen und die darin beschriebenen Prinzipien haben die Lebensqualität der ganzen Familie spürbar verbessert.

Die KonMari-Methode erfolgt in drei Schritten – Zusammentragen, Aussortieren, Aufräumen –, die sich auch an kreative Projekte anwenden lassen.

Erste Phase: Zusammentragen

Beim sogenannten KonMari-System geht es darum, nach Kategorien vorzugehen und alle Gegenstände, die man in einer Kategorie besitzt, – zum Beispiel alle Bücher – an einem Ort zusammenzutragen.

Dieser Schritt entspricht im kreativen Bereich dem Brainstorming, bei dem alle Ideen gesammelt werden. Beim Ausmisten zu Hause macht man womöglich einen Berg mit Klamotten, Schuhen und Accessoire; beim Brainstorming hat man vielleicht eine Liste mit Business-, Buch-, Projekt-, Content- oder Jobideen. Was auch immer in Ihrem Fall zutreffen mag.

Zweite Phase: Ausmisten

Nach der ersten Phase steht man daher vor einem Riesenhaufen Chaos! Das kann extrem überwältigend und emotional werden – egal, ob er aus Klamotten oder Notizzetteln besteht.

Jetzt ist es also an der Zeit, gezielt zu priorisieren und auszusortieren. Der gleiche Fehler, der beim Aufräumen entstehen kann, machen wir oft auch mit der Ideensammlung: Wir glauben, dass wir die zweite Phase überspringen können. Wir haben unseren Haufen Material und möchten direkt ans Aufräumen gehen, anstatt vorher auszumisten. Wenn wir die Phase des Ausmisten überspringen, wird die Wohnung jedoch weiterhin aus allen Nähten platzen und wir werden nicht für jeden Gegenstand einen Platz finden. Genauso wären wir vollkommen überfordert, wenn wir alle Ideen, die wir beim Brainstorming hatten, gleichzeitig umzusetzen versuchten.

Das Ziel des Aussortierens bei Marie Kondo ist es, neben den notwendigen Besitztümern nur die Dinge zu behalten, die Freude bereiten. Jeden Gegenstand, den man besitzt, hält man in der Hand und fragt: Does it spark joy? So wird eine Umgebung geschaffen, die Klarheit, Zufriedenheit und Ordnung vermittelt. Es geht also um eine achtsame, neudefinierte Beziehung zu den eigenen Besitztümern. Indem man Überflüssiges loslässt, schafft man eine Umgebung, in der man sich wirklich wohl fühlen kann und das, was einem am Herzen liegt, Platz findet.

Ähnlich verhält es sich mit dem kreativen Arbeiten. Nicht alle Ideen können sofort umgesetzt werden; manche passen vielleicht gar nicht zum Hauptziel eines Projekts. Indem wir uns auf das konzentrieren, was wirklich Freude bereitet, nötig ist oder im Gesamtbild unseres Handelns Sinn ergibt, lassen wir Überflüssiges los und legen den Fokus auf das Wesentliche.

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Die Ergebnisse sind großartig, doch diese zweite Phase ist sehr schwer. Es ist irgendwie in uns stark verankert, dass wir sammeln wollen. Ein natürlicher Instinkt überzeugt uns ganz klar davon, dass es eine gute Sache ist, alles für schlechtere Zeiten aufzuheben.

Außerdem besitzen wir oft Gegenstände, die uns an Zeiten, Entscheidungen, Wünsche erinnern, an die wir nicht denken wollen. Die verstaubte Nähmaschine und die teuren Stoffe erinnern mich daran, dass ich mich endlich zu einem Nähkurs anmelden wollten. Die vielen ungelesenen Bücher schreien nach meiner Aufmerksamkeit. Die Fotos vom Ex, der mich vor einer Ewigkeit verletzt hat, will ich nicht anfassen müssen. Die Acryl-Farben, mit denen ich eines Tages den Couchtisch bestimmt aufbessern werde, lachen mich als Versagerin aus. Die uralten Tischdecken, die meine Mutter so sehr geliebt hat, betrüben mich. Um den teuren Schmuck, den ich nie trage, wäre es viel zu schade. Und so schleppen wir alles mit. „Das frisst doch kein Brot.“, sagen viele. Nein, das frisst an mir.

Ähnliche Schwierigkeiten müssen wir im Umgang mit unseren zu zahlreichen Ideen bewältigen, zum Beispiel die folgenden drei.

Problem 1: Das kann ich ja noch gebrauchen.

Auf Gegenstände trifft das in aller Regel nicht zu. Das, wovon man seit 10 Jahren denkt, man könne es eines Tages gebrauchen, kann man getrost weggeben.

Bei Ideen ist es schon gerechtfertigt zu sagen, dass man sie eines Tages brauchen könnte. Deswegen ist es immer gut, einen digitalen oder analogen Ort zu haben, an dem man alle Ideen sammelt. Ob es eine Datei ist, eine Excel-Tabelle, die Notizen auf dem Handy oder ein analoger Ordner mit handgeschriebenen Notizen ist, ist es vollkommen egal. Aber es ist gut und beruhigend, einen Schatz an Ideen parat zu haben, falls man mal darauf zurückgreifen möchte.

Problem 2: Irgendwann bestimmt.

Ähnlich gibt es Gegenstände in jedem Haushalt, die uns an eine Identität erinnern, die wir einst hatten oder haben wollten. Doch sind wir noch dieser Mensch? Spielen wir noch jeden Abend Gesellschaftsspiele oder können ein paar weg? Wollen wir noch Kräuter auf dem Balkon anpflanzen oder interessiert uns das gar nicht mehr?

Auch bei den Ideen, die man hatte, ist es in Ordnung, wenn man sich weiterentwickelt und man nicht mehr dieselben Wünsche und Themen hat. Man darf loslassen.

Problem 3: Verlustschmerz 

Sich von Gegenständen zu trennen, kann sehr emotional werden und mit regelrechten Trennungsängsten verbunden sein.

Sobald wir den Schritt wagen, uns von einer Idee zu verabschieden, setzt oft eine Art Trauer ein. Die Vorstellung, eine Idee nie weiterzuverfolgen, kann Verlustschmerz auslösen, insbesondere wenn mit dem Projekt in unserer Wahrnehmung eine gewisse Identität oder die Kooperation mit einer bestimmten Person verbunden waren.

Obwohl das System von Marie Kondo Gefühle der Akzeptanz, Klarheit und Ruhe hervorrufen wird, ist zunächst Chaos paradoxerweise nötig. Oft gibt es den Vorurteil des kreativen Menschen, der im Chaos gedeiht. Es ist zwar bei weitem nicht immer wahr, doch vor jedem Projekt muss man anfangs mit einer mehr oder weniger großen Dosis Chaos klar kommen. Man muss Ideen sammeln, Möglichkeiten erforschen, das Potenzial von verschiedenen Wegen prototypisch testen usw. Schafft man es jedoch trotz der Fülle an Ideen, sich mit der Zeit gezielt auf diejenigen mit wahrem Potenzial zu konzentrieren, indem man die anderen gehen lässt, wird man bald wieder für Klarheit und Ordnung sorgen.

Dritte Phase: Aufräumen

In der dritten und letzten Phase des Konmari-Systems ist man schon sehr erleichtert. Man hat harte Entscheidungen getroffen und von vielem Abschied genommen. Doch Gefühle der Befreiung und Erleichterung machen das Loslassen lohnenswert. Für die Gegenstände, die bei uns bleiben, haben wir uns bewusst entschieden und wir fühlen uns verantwortlich. Mit klarerem Kopf macht man sich nun ans Aufräumen.

In kreativen Projekten bedeutet Aufräumen mehr als das Sortieren von Ideen. Es erfordert die Festlegung von Systemen und Umsetzung von Gewohnheiten, die für kontinuierlichen Fortschritt sorgen. Die Ideen mögen noch chaotisch wirken und der Ausgang ungewiss sein, doch man braucht einen geordneten Rahmen, innerhalb dessen man agiert, um langfristig an einem Projekt zu arbeiten. Denn auch der chaotischste Künstler muss dafür sorgen, dass er regelmäßig und lange am selben Projekt arbeitet, um es erfolgreich zu Ende führen zu können.

Wann kann man der Umsetzung des kreativen Vorhabens Zeit und Energie widmen? Für wie lange? Was sind mögliche Hindernisse? Was ist realistisch? Was ist auch an schlechten Tagen machbar? Worauf ist man bereit zu verzichten?

Ich finde das, was James Clear in Atomic Habits empfiehlt, hilfreich. Er rät dazu, ein Minimum festzulegen, das auch an schlechten Tagen machbar ist, etwa zehn Minuten täglich. Dieser kleine Einsatz schafft eine Routine, die das Projekt regelmäßig voranbringt. Ein solches Minimum dient als Anker, sorgt für Struktur und vermeidet Stillstand. So wird aus kreativen Einfällen langfristig ein erfüllendes Projekt. Es ist für mich immer wieder erstaunlich, was 10 Minuten am Tag über einen längeren Zeitraum bewirken können. Die Kontinuität macht’s!

Zusammenfassend verhält es sich mit der Auswahl des nächsten kreativen Projekts wie mit dem Ausmisten zu Hause. Mit dem Marie-Kondo-System geht man nach den drei Schritten vor:

  1. Sammeln – Brainstorming
  2. Ausmisten – Auswählen
  3. Aufräumen – Umsetzen

Wie sieht es bei Ihren Ideen aus? Sind Sie bereit, ein paar loszulassen, um sich auf die wichtigen zu konzentrieren? Welche Systeme können Sie implementieren, damit aus einer Idee Ihre neue Kreation Wahrheit wird?


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Silvia Ulivi

Humanistin mit einem unstillbaren Faible für Sprachsysteme, Literatur und Unterricht

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